Einleitung
Vor mehr als hundert Jahren hat der schwedische Chemiker Arrhenius erkannt, dass das CO2 in der Erdatmosphäre die Rückstrahlung von Wärme in den Weltraum abschwächt. Je mehr CO2 die Atmosphäre enthält, desto wärmer ist es auf der Erde. Trotzdem wurden bis in die 1990er Jahre sorglos riesige Mengen von Kohle, Erdöl und Erdgas verfeuert. Dadurch hat sich der CO2-Gehalt der Atmosphäre in weniger als 60 Jahren um 36% (von 280 ppm auf 380 ppm) erhöht, mit negativen Folgen, die bereits heute bemerkbar sind. Würde der globale CO2-Ausstoss weiterhin ungebremst zunehmen, könnte die mittlere Temperatur um 5 bis 6° C ansteigen. Dann käme es zu Katastrophen, deren Umfang noch gar nicht abzusehen ist. Aber sicher ist, dass die Länder des Südens am meisten zu leiden hätten.
In internationalen Verhandlungen über eine Begrenzung des Verbrauchs von Erdöl spielen naturgemäß die Staaten, deren Wirtschaft stark vom Öl bestimmt wird, eine besondere Rolle. Nach Massarat[1] zerfallen diese in zwei Gruppen mit gegensätzlichen Interessen: Staaten mit sehr großen Vorräten, aber kleiner Bevölkerung (die Staaten der arabischen Halbinsel), und Staaten mit großen Vorräten und großer Bevölkerung (Iran, Nigeria usw.). Zur zweiten Gruppe gehört auch Ecuador. Aber im Unterschied zu den Golfstaaten werden hier wertvolle Biotope durch die Ölförderung zerstört. Deshalb hat vor einigen Jahren der damalige Energieminister von Ecuador, Alberto Acosta, einen interessanten Vorschlag gemacht.[2] Er bot der internationalen Gemeinschaft an, ein Erdölfeld, das unter dem tropischen Regenwald liegt, nicht auszubeuten, falls diese den Staat Ecuador mit einem bestimmten Geldbetrag dafür entschädigen würde (Yasuni-ITT-Initiative). Aus klimapolitischer Sicht hätte der Verzicht auf dieses Erdöl zwei Vorteile: der globale CO2-Ausstoß würde reduziert, und eine große Fläche tropischen Regenwaldes bliebe intakt. Letzteres käme nicht nur der Biodiversität und der indigenen Gemeinschaft in jenem Gebiet zugute, sondern auch dem Klima, denn der Regenwald kann sehr viel CO2 absorbieren. Aber außer Norwegen war keines der reichen Länder bereit, einen nennenswerten Beitrag zu leisten. Deshalb beschloss die Regierung von Ecuador, den Wald dem Erdöl zu opfern.
In dem hier beschriebenen Fall wäre der Wert des Erdöls, das im Boden bliebe, für die Höhe der Zahlungen entscheidend. Im Sinne des Klimaschutzes wäre es aber sinnvoll, einen Staat, der seine Wälder schont, auch dann zu belohnen, wenn es dort keine Bodenschätze gibt. Der Grund ist, dass Wälder einen Teil des CO2, das überall auf der Welt emittiert wird, absorbieren, indem sie unter Einwirkung von Sonnenlicht und Zufuhr von Wasser das CO2 reduzieren und den Kohlenstoff (C) in ihrer Biomasse speichern. Durch die Er-haltung von Wäldern und die Aufforstung von Gebieten, die für die Landwirtschaft nicht geeignet sind, kann also die globale CO2-Bilanz verbessert werden. Das bezieht sich nicht nur auf die Tropen, wo die Abholzung heute am schnellsten fortschreitet, sondern auch auf die gemäßigten Breiten und sogar auf aride Gebiete, denn mit geeigneten Methoden können auch dort Wälder angepflanzt werden.[3] Damit ein Beitrag zum Klimaschutz geleistet wird, muss dann allerdings auch verhindert werden, dass der im Holz gebundene Kohlenstoff als CO2 wieder in die Atmosphäre gelangt, sei es durch Verbrennung oder durch natürliche Verrottung. Dies könnte zum Teil dadurch erreicht werden, dass wieder vermehrt Holz an Stelle von Zement und Stahl als Baustoff und als Material für Gegenstände des täglichen Gebrauchs verwendet wird.
Staaten, die heute noch die großflächige Abholzung von Wäldern als wichtigen Teil ihrer Entwicklungsstrategie betrachten und sie deshalb dulden oder sogar fördern, könnten durch Kompensationszahlungen dazu gebracht werden, ihre Politik zu ändern und sich zum Schutz ihrer Wälder zu verpflichten. Die Zahlungen müssten aber an die Bedingung geknüpft sein, dass die Wälder auch tatsächlich erhalten bleiben und ihre Funktion als Kohlenstoffspeicher erfüllen. Eine internationale Kontrolle müsste also den Zustand der Wälder regelmäßig überprüfen, und der Staat, auf dessen Gebiet die Wälder liegen, müsste für deren Schutz sorgen. Die Erfüllung dieser Aufgabe kann dort, wo illegale Holzfäller und Goldsucher leichten Zugang zu den Wäldern haben, sehr kostspielig sein. Auch dies würde die Zahlungen rechtfertigen. Aber wie hoch sollten diese Zahlungen sein? Diese Frage führt in das Gebiet der Ökonomie. Deshalb sollen hier zunächst die wichtigsten Strömungen des ökonomischen Denkens seit Adam Smith und ihr Verhältnis zum Umweltproblem skizziert werden.
1. Ökonomische Theorien und die Klimakrise
Die so genannte klassische Ökonomie ist die Richtung des ökonomischen Denkens, die u.a. von Adam Smith, David Ricardo, John Stuart Mill und Karl Marx vertreten wurde. Ihr zentrales Thema war die Reproduktion des materiellen Reichtums der Gesellschaft, die sie als kreisförmigen Prozess auffasste, und dessen Verteilung auf die Klassen.[4] Aus ihrer Sicht war der Wert einer Ware bestimmt durch die zu deren Herstellung notwendige Arbeitszeit. Ihr Interesse galt den langfristigen Tendenzen und objektiven Gesetzmäßigkeiten. Das Gesetz der fallenden Profitrate von Ricardo sagt voraus, dass das wirtschaftliche Wachstum eines Tages zum Stillstand kommen muss, weil die Fläche, die von der Landwirtschaft genutzt werden kann, begrenzt ist. Marx glaubte allerdings, dass diese Grenze in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft durch technischen Fortschritt überwunden werden könnte. Die andere Richtung, deren Aufstieg um 1870 begann, hieß ursprünglich Grenznutzenlehre oder Marginalismus, wird aber heute meist als Neoklassik bezeichnet, obwohl sie sich bewusst von der Klassik abgrenzt. Die Neoklassik geht aus von den subjektiven Präferenzen der Individuen und sieht die wesentlichen Bestimmungsgründe für den Preis der Waren in diesen Präferenzen und in der Knappheit der Waren. Die Neoklassik hat seit den 1970er Jahren die ökonomische Behandlung von Umweltproblemen sehr weit vorangetrieben.[5]
In den 1920er Jahren wurde die englische Universität Cambridge zu einem Zentrum der Opposition gegen den neoklassischen Mainstream. Dort wirkte John Maynard Keynes, dem es durch seinen politischen Einfluss gelang, auch jüngere Ökonomen aus dem Ausland nach Cambridge zu holen, so den Polen Michal Kalecki und den Italiener Piero Sraffa. Dieser hatte schon 1925 nachgewiesen, dass zentrale Aussagen der neoklassischen Theorie in sich widerspruchsvoll sind.[6] Trotz ihrer persönlichen Freundschaft gab es fachliche Differenzen, denn Sraffa vollzog die Abwendung von der Neoklassik viel radikaler als Keynes. Die Wirtschaftspolitik, die von Keynes inspiriert war, insbesondere der New Deal in den USA, hat zwar nach der Weltwirtschaftskrise die Not der Massenarbeitslosigkeit gelindert, aber später geriet sie oft in Konflikt mit Zielen des Umweltschutzes. Mir ist auch bis jetzt kein keynesianischer Ökonom bekannt, der Probleme der Umweltökonomie behandelt hätte.
Die neue Richtung der „Ecological Economics“, die in den 1980er Jahren in den USA entstanden ist, steht in einem ambivalenten Verhältnis zur Neoklassik. Sie sieht in dem aus Rumänien stammenden Ökonomen Nicholas Georgescu-Roegen (1906-1994) einen ihrer wichtigsten Vorläufer. Dieser hat in seinem oft zitierten Buch „Das Entropiegesetz und der ökonomische Prozess“ versucht, die Gesetze der Thermodynamik auf die Ökonomie anzuwenden. So gelangte er zu der These, dass ein stofflicher Kreislauf in einem geschlossenen System nicht beliebig oft wiederholt werden kann, weil die Entropie ständig zunimmt. Aber die Erde ist kein geschlossenes System, denn sie erhält Energie von der Sonne. Und das Leben auf der Erde hat das Entropiegesetz überlistet, denn in Milliarden von Jahren und bis zur Industriellen Revolution hat es sich immer weiter differenziert.
Die Biosphäre, die bisher Millionen von Tier- und Pflanzenarten und seit 100.000 Jahren auch dem homo sapiens eine verlässliche Existenzgrundlage geboten hat, verdankt ihre Beständigkeit den Kreisläufen des Wassers, des Kohlenstoffs, des Stickstoffs und anderen lebenswichtigen Stoffkreisläufen. Die meisten agrarischen Zivilisationen haben sich diese Kreisläufe zunutze gemacht, ohne störend in sie einzugreifen. Durch die Industrielle Revolution verschob sich die menschliche Aktivität zu Produktionsprozessen, die sich in keinen natürlichen Kreislauf einfügen lassen. Der charakteristische Ausdruck dieser Wirtschaftsweise ist die neoklassische Produktionsfunktion, die angibt, welche Mengen der „Produktionsfaktoren“ Arbeit (A) und Kapital (K) in die Herstellung einer Menge Y eines nicht näher beschriebenen Produkts eingehen: Y = f (A, K). Produktion wird hier als Einbahnstraße von A und K nach Y gesehen. Welche unerwünschten Nebenprodukte dabei entstehen, woher die Arbeitskräfte und das Kapital kommen, ob und wie oft der Produktionsprozess wiederholt werden kann - danach wird nicht gefragt. Eine ökologische Ökonomie im wahren Sinn des Wortes kann sich nicht damit begnügen, in die neoklassische Produktionsfunktion die natürlichen Ressourcen als weitere Produktionsfaktoren einzufügen, und sonst alles beim Alten lassen. Sie muss vielmehr eine ökologische Wirtschaft als Kreislauf konzipieren, der sich von Jahr zu Jahr oder in größeren Intervallen wiederholt und in der Lage ist, alle unerwünschten Nebenprodukte und Abfälle zu rezyklieren.
Die Theorie von Sraffa (s. u.) leistet genau das. Aber die Vertreter der Ecological Economics kennen diese Theorie nicht und lassen sich von Georgescu-Roegen auf eine falsche Fährte locken. Deshalb distanzieren sie sich kaum von der Neoklassik und übernehmen deren Grundannahmen ohne Widerspruch. In dem bekannten Lehrbuch von Samuelson, das mehr als 20 Auflagen erlebte, heißt es am Anfang: „Im Kern geht es in der Ökonomie darum, wie die Gesellschaft ihre knappen Ressourcen einsetzt“.[7] Die Frage, was Samuelson mit der „Gesellschaft“ und „ihren“ Ressourcen meint, muss hier offen bleiben. Hier interessiert, dass Herman Daly sein Buch „Ecological Economics“ fast mit den gleichen Worten beginnt: „Ökonomie ist das Studium der Verwendung von begrenzten oder knappen Ressourcen für alternative, konkurrierende Zwecke.“[8] Aber die meisten ökologischen Probleme in den Industriestaaten entstehen nicht aus der Knappheit, sondern aus dem Überfluss.
Durch die Verbrennung von Kohle, Erdöl, Erdgas und ihrer Derivate entsteht CO2, das sich in der ganzen Erdatmosphäre gleichmäßig verteilt. Dadurch hat sich der Anteil von CO2 in der Atmosphäre in den letzten Jahrzehnten andauernd erhöht, und es wird im globalen Mittel wärmer. Hier ist also kein knappes Gut zu verteilen, sondern ein allgegenwärtiges Kollektivgut, die Erdatmosphäre, ist zu schützen vor dem Eindringen von zuviel CO2. Durch die Fortschritte der Chemie ist es möglich geworden, aus den Abfällen der Ölraffinerien alle Arten von Verpackungen, Behältern und anderen Gegenständen aus Plastik extrem billig herzustellen. Plastik ist also kein knappes Gut mehr, sondern im Gegenteil, es gibt schon viel zu viel davon. Ein Großteil der leeren Tüten und Behälter aus Plastik gelangt in die Flüsse und zuletzt ins Meer. Ein Teil zerfällt in kleinste giftige Partikel, die von Meerestieren verschluckt werden, ein Teil widersteht dem Zahn der Zeit und verschmutzt die Strände oder bildet in der Masse riesige schwimmende Teppiche im offenen Meer. Wo ist hier das knappe Gut?
Angesichts des Klimawandels greifen die Neoklassiker auf die in den 1920er Jahren entstandene Wohlfahrtsökonomie von Cecil Pigou zurück. Diese beruht auf neoklassischen Grundlagen, steht aber in scharfem Gegensatz zum heutigen Neoliberalismus. Pigou „sah die Aufgabe der ökonomischen Theorie darin, die Lebensbedingungen der Menschen, insbesondere der sozial Schwachen, zu verbessern“ und hielt staatliche Eingriffe für erforderlich, um die gesellschaftliche Wohlfahrt zu maximieren.[9] Die neoklassische Umwelt-ökonomie, die seit den 1970er Jahren entstanden ist, hat Pigous Konzept der Internalisierung externer Effekte durch Steuern oder Subventionen übernommen. Dieses Konzept hat sich bei lokalen und zeitlich begrenzten Umweltproblemen bewährt. Aber der Klimawandel ist von ganz anderer Art. Nicholas Stern, der Herausgeber des bekannten Stern-Reports, der auf dem Boden der Neoklassik steht, räumt denn auch ein: „Die besondere Eigenart der Klima-Externalität stellt den Standardansatz der Wohlfahrtsökonomie vor schwierige Fragen.“[10]
2. Der Stern-Report
Kein Umweltproblem ist in den letzten Jahren von Ökonomen so intensiv bearbeitet worden wie der Klimawandel. Im Auftrag der UNO haben Hunderte von Ökonomen und anderen Wissenschaftlern in jahrelanger Arbeit einen umfangreichen Bericht erstellt, der den Titel „The Economics of Climate Change“ trägt und meistens nach dem Herausgeber als „Stern-Report“ zitiert wird. Dieser Bericht hat Aufsehen erregt, weil in ihm zum ersten Mal ein renommierter Ökonom die These vertrat, dass ein Zögern beim Klimaschutz in Zukunft viel kostspieliger würde als die rasche Umsetzung von wirksamen Maßnahmen gegen den Klimawandel. Was genau damit gemeint ist, muss nun erklärt werden.
Die Ökonomen, die am Stern-Report gearbeitet haben, standen vor der schwierigen Aufgabe, die von den Klimaforschern vorausgesagten Schäden mit Geldbeträgen zu bewerten. Danach mussten sie versuchen, die Kosten von Maßnahmen in der Gegenwart zu vergleichen mit deren Nutzen in der Zukunft (Kosten-Nutzen-Analyse). Wenn man davon ausgeht, dass unsere Erde noch mindestens 100.000 Jahre von Menschen bewohnt sein wird, und dass der Nutzen aller heute und künftig lebenden Menschen sich zu einem Gesamtnutzen addieren lässt, dann ist es eigentlich klar, dass keine Maßnahme, die künftige katastrophale Wetterereignisse, Hungersnöte und Überschwemmungen verhindert, für unsere Überflussgesellschaft zu teuer sein kann.
Aber die meisten neoklassischen Ökonomen sehen das anders. Sie berufen sich auf die „Natur des Menschen“ und behaupten, der Mensch habe immer eine Präferenz für die Gegenwart. In die Umgangssprache übersetzt: Der Mensch ist von Natur aus ungeduldig und liebt es, in der Gegenwart zuviel zu essen, auch wenn er später dafür hungern muss. Diese Auffassung, die auf Böhm-Bawerk[11] zurückgeht, sollte ursprünglich nur für ein einzelnes Individuum gelten, das seinen Nutzen über sein ganzes Leben maximiert. Im Kontext des Klimawandels wird sie nun aber auf die ganze Menschheit und auf alle künftigen Generationen angewendet. Und wenn der Nutzen von Gütern umso kleiner ist, je später sie konsumiert werden, dann sollen auch, so die Theorie, die künftigen Schäden durch den Klimawandel weniger Gewicht haben als gleichartige Schäden in der Gegenwart. Die künftigen Schäden dürfen also „diskontiert“ werden. Nach dem Prinzip der Diskontierung und bei einer Diskontrate von 2% ist ein Schaden, der in 35 Jahren eintritt, nur halb so groß wie der gleiche Schaden in der Gegenwart.
Nehmen wir zum Beispiel an, für 200 Millionen Euro kann ein Deich gebaut werden, der in je 35 Jahren Überschwemmungen mit einer Schadenssumme von 100 Millionen Euro verhindert. Man sollte meinen, dass die Baukosten sich nach 70 Jahren amortisiert hätten. Aber bei Diskontierung sieht es ganz anders aus. In den ersten 105 Jahren betrüge nämlich der mit 2% diskontierte Gesamtschaden nicht 300, sondern nur 100 50 25 Millionen Euro, da der diskontierte Schaden sich alle 35 Jahre halbiert. Bei einem Zinssatz von 2% würde sich der Deichbau nicht rentieren, wohl aber bei 1%. Weil Nicholas Stern die Diskontrate tiefer als üblich angesetzt hat, kam er zu dem Schluss, dass die Kosten-Nutzen-Analyse klar für frühzeitige, umfangreiche Maßnahmen gegen den Klimawandel spricht. Einige neoklassische Ökonomen haben ihm vorbehaltlos zugestimmt[12], andere haben ihm heftig widersprochen. [13]
Trotz dieser Differenzen im Ergebnis weicht Stern in der Methode nur wenig von den gewohnten neoklassischen Bahnen ab. Er orientiert sich an der so genannten Ramsey-Regel, in der Diskontrate, Wachstumsrate und Zeitpräferenzrate verknüpft werden. Diese Regel wurde zum ersten Mal 1928 von Frank P. Ramsey publiziert und fand später Eingang in die neoklassische Wachstumstheorie. Sie soll die Frage beantworten, welchen Anteil des Volkseinkommens eine Gesellschaft sparen und in ihren Kapitalstock investieren soll, um eine optimale Versorgung mit Konsumgütern für die gegenwärtige und alle künftigen Generationen zu erreichen.
Nicholas Stern sagt klar, dass die Ausdehnung der Theorie der Zeitpräferenz vom individuellen Leben auf die Generationenfolge mit ethischen Grundsätzen unvereinbar ist. Er will zwar jeder künftigen Generation einen gleich hohen Nutzen garantieren wie der gegenwärtigen, aber nur wenn sie existiert. Deshalb ersetzt er die Zeitpräferenzrate durch eine neue Größe, die eine völlig andere Bedeutung hat, aber in der Ramsey-Regel den gleichen Platz einnehmen soll. Diese Größe bezieht sich auf die Möglichkeit einer gigantischen Katastrophe, die die ganze Menschheit auslöschen würde. Für die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses nimmt er willkürlich einen Wert an, der zuächst klein erscheint, nämlich 0,1% pro Jahr. Aber das hieße, dass die Menschheit ein äußerst unwahrscheinliches Glück hatte, dass sie die 5.000 Jahre seit der Entstehung der ersten Hochkulturen überlebt hat. Stern glaubt, mit dieser Annahme die Diskontierung auf eine solide ethische Grundlage gestellt zu haben. Er schreibt: „Den Nutzen der künftigen Generationen geringer zu bewerten, kann ethisch einwandfrei nur begründet werden, wenn die Existenz jener Generationen ungewiss ist.“[14] Aber wenn man genauer hinsieht, dann wird auch dieser Ansatz ethisch fragwürdig. Denn auch hierbei will die gegenwärtige Generation einen Vorteil daraus ziehen, dass sie früher da ist. Das Unrecht, das wir den künftigen Generationen antun, wird nun damit entschuldigt, dass die Existenz dieser Generationen nicht hundertprozentig sicher ist.
Es ist den Autoren des Stern-Reports offenbar entgangen, dass schon 15 Jahre früher ein deutscher Ökonom ihre Begründung der Diskontierung mit treffenden Argumenten zurückgewiesen hat. In einer gründlichen Analyse der verschiedenen Diskontierungstheorien schrieb damals Ulrich Hampicke im Hinblick auf die Gefahr eines die Menschheit auslöschenden Atomkriegs: „Wenn man den Weltuntergang wirklich nicht wünscht, dann muss man bei der Ressourcennutzung so verfahren, als würde er tatsächlich nicht eintreten; man muss die Existenz künftiger Menschen, denen man pflichtgemäß Ressourcen hinterlassen will, subjektiv für gewiss halten (auch wenn dem objektiv nicht so ist), alles andere ist Heuchelei.“[15]
Gemäß der Ramsey-Regel liesse sich eine positive Diskontrate auch durch eine positive Wachstumsrate begründen. Für Karl-Heinz Paqué, einen der schärfsten Kritiker des Stern-Reports im deutschen Sprachraum, rechtfertigt eine hohe Wachstumsrate den Aufschub von kostspieligen Maßnahmen für den Klimaschutz. Nach einem unverbindlichen Hinweis auf „eine Weltbevölkerung, die noch immer zu einem großen Teil in Armut lebt“, fährt er fort: „Es gilt deshalb, zunächst wirtschaftlich zu wachsen und erst später massiv in den Klimaschutz zu investieren, und zwar dann auf erheblich höherem Niveau der Produktivität und mit modernster Technologie.“ Später präzisiert er: „Kaum jemand würde bestreiten, dass ein Land mit einem größeren sozialen Kapitalstock dank früheren Wachstums mit Bedrohungen des Klimawandels besser zurecht kommt, gerade wenn es direkt und besonders stark betroffen sein sollte. So würde z. B. Holland bei einer Erhöhung des Meeresspiegels ganz anders reagieren können als Bangladesh, und je schneller Bangladesh durch wirtschaftliches Wachstum zu einer Art zweitem Holland werden kann, umso besser steht es da, um im Interesse seiner Bewohner die Herausforderungen zu meistern.“[16]
Ein interessanter Aspekt der Kontroverse um den Stern-Report ist, dass Gegner wie Befürworter sich auf die Ethik berufen. Deshalb kann man mit Recht bezweifeln, ob die Einrichtung von Lehrstühlen für Ethik in der Wirtschaft wie in St. Gallen viel bringt, wenn die ökonomische Theorie sich nicht von innen heraus erneuert. Autoren wie Paqué erwähnen zwar in einem Nebensatz die Armut in der Welt, aber die Theorie, die sie vertreten, ist völlig abgehoben von der wirtschaftlichen und ökologischen Realität der Gegenwart. Die Erwartung, dass jedes beliebige Land durch wirtschaftliches Wachstum mittelfristig zu einem „zweiten Holland“ werden könnte, ist ziemlich unrealistisch. Für Bangladesh hat das Wachstum der Weltwirtschaft und des Welthandels vor allem dazu geführt, dass dort Frauen unter extrem harten Bedingungen Textilien für die reichen Länder herstellen müssen. Und dass ein sehr schnelles Wachstum wie in China zunächst einmal den Klimawandel beschleunigt, kann niemand bezweifeln. Es ist nur logisch, dass die Volksrepublik China neben Australien und den USA unter dem Präsidenten Bush jr. zu jenen Staaten gehörte, denen das Wachstum ihrer Wirtschaft wichtiger war als der Klimaschutz.
Wenn man nicht die Möglichkeit eines Aussterbens der Menschheit ins Spiel bringen will und langfristig ein Nullwachstum der Wirtschaft anstrebt, dann liefert die Ramsey-Regel keinen Grund mehr für die Diskontierung künftiger klimabedingter Schäden. Dann sind aber die üblichen Methoden der Kosten-Nutzen-Analyse nicht mehr anwendbar. In einer Arbeitsgruppe des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) konnte in der Frage, ob eine Kosten-Nutzen-Analyse des globalen Klimawandels überhaupt möglich ist, keine Einigung erzielt werden.[17] In der Debatte zeichneten sich drei Hauptlinien ab: die beiden ersten Linien stimmen darin überein, dass sie an der Kosten-Nutzen-Analyse mit Diskontierung festhalten. Sie unterscheiden sich aber in der Höhe der angenommenen Diskontrate. Die dritte Linie geht aus von der Unmöglichkeit einer realistischen Nutzenrechnung für die Zukunft und schlägt vor, zuerst ein langfristiges Klimaziel zu setzen und dann den Weg zu diesem Ziel zu optimieren.[18]
Um unabhängig von fragwürdigen Kosten-Nutzen-Rechnungen ein übergeordnetes Ziel der Klimapolitik zu bestimmen, sollte man ausgehen von der Tatsache, dass die heutige Siedlungsstruktur der Völker in Jahrhunderten entstanden ist, und dass spezifische Anpassungen an die Umwelt in allen bewohnten Gegenden bis vor einem halben Jahrhundert eine ausreichende Versorgung mit Nahrung und Trinkwasser sichern konnten. Durch eine ungebremste globale Erwärmung würde sich die Umwelt an vielen Orten derart verändern, dass keine Anpassung mehr möglich wäre. Daraus leitet sich das Ziel ab, eine Erwärmung um mehr als 2° C unter allen Umständen zu verhindern. Was es die Menschheit kosten würde, wenn dieses Ziel verfehlt würde, kann nicht und muss auch nicht berechnet werden.
3. Der Handel mit Emissionsrechten
Das Problem des Klimawandels hat vordergründig nichts zu tun mit den Präferenzen von Individuen und der Knappheit von irgendetwas. Um in neoklassischem Geist Maßnahmen zum Schutz des Klimas zu entwerfen, muss man daher eine neue Ware erfinden, die künstlich knapp gehalten werden kann. Diese Ware existiert seit zehn Jahren. Sie besteht in dem Recht, eine bestimmte Menge CO2 zu emittieren. Das Kyoto-Protokoll erlaubt den zwischenstaatlichen Handel mit diesen Rechten. Innerhalb der EU besteht seit 2005 ein Regelwerk für den Handel mit Emissionsrechten zwischen Firmen. Das Emissions Trading Scheme (ETS) der EU schreibt vor, dass alle Firmen der Schwerindustrie und des Energiesektors mit Sitz in der EU für ihre CO2-Emissionen, die über eine bestimmte Schwelle hinausgehen, von ihrer Regierung ausgegebene Emissionsrechte (emission allowances oder permits) besitzen müssen. Wenn sie weniger CO2 ausstoßen, dürfen sie ihre Emissionsrechte an andere Firmen verkaufen.
Gegen den Handel mit Emissionsrechten in der EU gibt es zahlreiche Einwände, die von der Kritik an Details bis zur Fundamentalkritik reichen. Letztere wurde u.a. von einer Gruppe artikuliert, die der schwedischen Dag-Hammarskjöld-Stiftung nahe steht.[19] Die popularisierte Kurzfassung der umfangreichen Studie lässt allerdings Zweifel an deren Wissenschaftlichkeit aufkommen.[20] Durch eine Überschrift wie „Das Weltklima als Handelsgut“ (S. 36) wird suggeriert, hier werde ein globales Gemeingut, die Atmosphäre, privatisiert, um ein neues Geschäftsfeld mit neuen Profitquellen zu generieren. Dem hält Marcel Hänggi entgegen, dass der Emissionshandel als solcher weder gut noch schlecht ist. Es komme darauf an, wie er gestaltet wird. Hänggi schlägt vor, die Emissionsrechte zu ersetzen durch handelbare Bezugsrechte für fossile Brennstoffe. Damit könne dann auch eine im Weltmaßstab gerechte Verteilung des Kohlenstoffs angestrebt werden.[21] Dem Ziel, den Klimaschutz mit globaler Gerechtigkeit zu verknüpfen, dienen auch die Überlegungen weiter unten.
Nachdem der Handel mit CO2-Emissionsrechten etabliert war, kam auch bald das Wort „CO2-neutral“ in Gebrauch. Ein Produkt oder eine Transportleistung darf neuerdings CO2-neutral genannt werden, wenn der Anbieter für seinen CO2-Ausstoß auf dem Markt für Emissionsrechte die entsprechenden Rechte eingekauft hat. Einige Anbieter, z.B. Fluggesellschaften, lassen die Kunden entscheiden, ob sie durch Zahlung eines Zuschlags ihr Gewissen entlasten wollen. Wenn die Zuschläge vom Fliegen abschrecken würden, wäre es gut. Da aber die Preise für Emissionen viel zu tief sind, gilt das Gleiche für diese Zuschläge. Das Anbieten von „CO2-neutralen“ Flügen ist daher nichts anderes als eine Methode des Marketing, mit der umwelt-bewusste Menschen dazu überredet werden sollen, trotz ihrer Bedenken zu fliegen.
Auch Betriebe des elektrischen Schienenverkehrs schmücken sich jetzt mit dem Beiwort CO2-neutral. Zwar ist hier der Energieverbrauch pro Fahrgast viel geringer als bei Fahrten mit dem Auto, aber deshalb ist der Schienenverkehr noch nicht CO2-neutral, auch wenn der Strom nur aus Wasserkraftwerken bezogen wird. Denn wer große Mengen „sauberen“ Stroms verbraucht, zwingt die übrigen Verbraucher dazu, auf den Strom aus anderen Quellen auszuweichen.
Damit der Emissionshandel auch tatsächlich eine Reduktion der Emissionen bewirkt, muss der Preis der Emissionsrechte auf einem hohen Niveau stabil sein. Davon war man aber in der EU weit entfernt, denn der Preis für CO2 schwankte zwischen € 10 und € 25 pro Tonne.[22] Zum Vergleich: In der Schweiz betrugen die Subventionen für die Einsparung von CO2 bisher 56 bis 70 CHF pro Tonne[23], und eine grobe Modellrechnung für die Schweiz hat ergeben, dass der Preis noch viel höher sein müsste, nämlich 245 Franken pro Tonne, damit bis 2020 der Ausstoß von CO2 um 20% sinken würde.[24] Stern räumt ein: „Es war schwierig, auf dem Markt des ETS der EU die Knappheit zu gewährleisten. Im Ergebnis betrug die Reduktion der Emissionen in der EU in Phase 1 schätzungsweise nur 1%.“[25]
Das Kyoto-Protokoll zielt auch auf eine klimafreundliche Entwicklung der Entwicklungs- und Schwellenländer und verknüpft dieses Ziel mit dem Emissionshandel der Industriestaaten. Das wird mit dem folgenden Argument begründet. Eine Tonne CO2 einzusparen, ist in reichen Ländern teurer als in armen Ländern. Mit den gleichen Kosten könnte deshalb in einem armen Land ein größerer Nutzen im Sinne des Klimaschutzes erzielt werden als in einem reichen Land. Deshalb ist es zweckmäßig, wenn CO2-Emittenten in Industrie-staaten Emissionsrechte kaufen, und wenn mit dem Erlös daraus Klimaschutzprojekte in Entwicklungsländern finanziert werden. Dieser Gedanke liegt dem clean development mechanism (CDM) zugrunde.
Dagegen ist einzuwenden, dass hier die Gründe für die Kostenunterschiede nicht hinterfragt werden. Der wichtigste Grund ist ja der Unterschied im Lohnniveau. Um Kosten in verschiedenen Währungsgebieten zu vergleichen, muss man außerdem mit Wechselkursen rechnen, die nur zu einem Teil die Realität widerspiegeln, weil sie auch von der Währungsspekulation beeinflusst werden. Deshalb ist zum Beispiel für die Schweiz wegen der Überbewertung ihrer Währung die Versuchung, sich von der Verpflichtung zum Klimaschutz im eigenen Land loszukaufen, besonders groß. Im Endeffekt würde sich ein Interessenkonflikt zwischen Klimaschutz und sozialem Fortschritt ergeben, weil man in einem Entwicklungsland umso mehr für den Klimaschutz tun könnte, je tiefer dort die Löhne wären.
Ein Beispiel für die Verzahnung von ETS und CDM ist ein Projekt, mit dem die niederländischen Elektrizitätswerke Aufforstungen im Hochland und an der Küste von Ecuador finanzieren.[26] Im Rahmen des ETS der EU müssen die Elektrizitätswerke für ihre Emissionen einen Preis bezahlen, der sich aus dem Emissionshandel innerhalb der EU ergibt. Mit dem Gegenwert lassen sie in Ecuador von privaten Grundbesitzern Monokulturen aus Kiefer und Eukalyptus anpflanzen, weil diese Bäume am schnellsten wachsen. Die Wahl gerade dieser Baumarten ist aus ökologischen Gründen abzulehnen. Und die Fläche, die aufgeforstet wird, ist abhängig von den Kosten. Wenn die Löhne steigen, wird weniger aufgeforstet. Im nächsten Abschnitt wird ein Handelssystem vorgeschlagen, das dieses Dilemma vermeidet.
4. Das Ziel einer CO2-neutralen Weltwirtschaft
CO2-Neutralität ist, richtig verstanden, eine Eigenschaft, die überhaupt nicht einzelnen Produkten, sondern nur einem ganzen Wirtschaftssystem zugeschrieben werden kann. Die Wirtschaft eines Landes ohne jeden Außenhandel wäre CO2-neutral, wenn das gesamte innerhalb seiner Grenzen emittierte CO2 im gleichen Land von der Vegetation (Wald, Stadtgrün) und absorbiert würde. Mit Rücksicht auf den globalen Handel kann aber das Prädikat „CO2-neutral“ logisch einwandfrei nur der ganzen Weltwirtschaft verliehen werden. Da auch die Ozeane CO2 absorbieren, soll hier folgende Definition gelten:
Die Weltwirtschaft ist CO2-neutral, wenn das gesamte emittierte CO2 von den Ozeanen und der Vegetation auf der Landmasse der Erde absorbiert wird.
In diesem Sinne möchte ich in einer ersten Näherung die Frage nach der Größenordnung von Preisaufschlägen, die das Prädikat „CO2-neutral“ rechtfertigen würden, beantworten. Um das zu tun, kann man die Preise von Waren in der Welt vor dem Kyoto-Protokoll vergleichen mit den Preisen derselben in einer CO2-neutralen Welt. In einer solchen Welt hätten alle souveränen Staaten sich verpflichtet, an einem ETS teilzunehmen, in dem die Emissionsrechte nicht von Industriestaaten wie im ETS der EU, sondern von Staaten, auf deren Territorium mehr CO2 absorbiert als emittiert wird, ausgegeben werden. Außerdem soll das ökologische Ziel verbunden werden mit dem Ziel eines fairen Handels. Ein internationales Handelssystem soll hier als fair bezeichnet werden, wenn in allen Regionen und in allen Branchen bei gleichen Löhnen die gleiche Profitrate erzielt werden kann (die Verteilung des Einkommens in den einzelnen Ländern ist hier nicht das Thema). Aber in einem kapitalistischen System ohne CO2-Abgabe sind Prozesse mit einem hohen CO2-Ausstoß meistens rentabler als Prozesse, die die gleichen Waren ohne oder mit geringem CO2-Ausstoß herstellen, und werden deshalb bevorzugt. Dieser Wettbewerbsnachteil soll durch die CO2-Abgabe korrigiert werden, die an die CO2-Senken fließt. Im Folgenden geht es um zwei Fragen:
1.) Wie hoch muss die CO2-Abgabe sein, damit ein internationales kapitalistisches Produktionssystem fair und CO2-neutral wird?
2.) Wie ändern sich die Preise durch die CO2-Abgabe?
Das Modell, das hier betrachtet wird, ist eine Erweiterung des Weizen-Eisen-Modells von Sraffa, das seinerseits eine gewisse Analogie zu Marx’ „Schema der einfachen Reproduktion“ aufweist.[27] Marx geht davon aus, dass alle Güter in drei Kategorien eingeteilt werden können: Produktionsmittel, Konsumtionsmittel der Arbeiter und Luxusgüter, und dass die Wirtschaft sich entsprechend in drei große Abteilungen gliedert. Während aber Marx mit „Werten“ des eingesetzten konstanten und variablen Kapitals rechnet, setzt Sraffa stoffliche Mengen von bestimmten Gütern in sein Schema ein.[28] Er nennt diese Güter Weizen und Eisen, aber man kann auch, im Anschluss an Marx, an ein Ensemble von vielen Konsumtionsmitteln bzw. Produktionsmitteln denken. Später erweitert er das anschauliche Grundmodell zu einem Modell mit beliebig vielen Zweigen und Gütern, das nur mit mathematischen Hilfsmitteln, die im 19. Jahrhundert noch nicht verfügbar waren[29], analysiert werden kann. Wie der Titel des Buches „Warenproduktion mittels Waren“ schon sagt, betrachtet Sraffa eine Wirtschaft, deren Produktionsmittel Waren sind, die sie selber produziert. Die einfachen Beispiele, mit denen er beginnt, lassen bereits die Eigenart seines Ansatzes klar hervortreten. Diese besteht darin, dass die Preise nicht durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden, sondern durch die Forderung der Wiederholbarkeit des arbeitsteiligen Wirtschaftsprozesses und die Annahme einer einheitlichen Profitrate in allen Zweigen.
Sraffa betrachtet zunächst ein Modell einer sehr einfachen kapitalistischen Volkswirtschaft, in der ein Zweig nur Weizen und ein Zweig nur Eisen produziert. Unter Eisen werden hier einfache eiserne Werkzeuge verstanden, die nach einem Jahr abgenutzt sind. Die Arbeiter werden nicht mit Geld entlohnt, sondern mit Weizen. Im Rahmen der einmal gewählten Technologie müssen die eingesetzten Mengen von Weizen und Eisen in beiden Bereichen in einem festen Verhältnis stehen: jeder Bergarbeiter braucht eine Spitzhacke, jeder Landarbeiter eine Sense, usw. Schließlich macht Sraffa quantitative Annahmen, die in didaktischer Absicht besonders einfach gehalten sind. Die Verwandlung der Produktionsmittel in Produkte im Laufe eines Jahres wird dann durch das folgende Schema beschrieben:[30]
280 t Weizen 12 t Eisen → 575 t Weizen
120 t Weizen 8 t Eisen → 20 t Eisen
Unter der Voraussetzung, dass Kapital immer dort investiert wird, wo es den höchsten Profit bringt, gleichen sich die Profitraten in beiden Zweigen einander an. Mit den Preisen p1 für Weizen und p2 für Eisen muss die Profitrate r den folgenden Gleichungen genügen:
(1 r)(280 p1 12 p2 ) = 575 p1
(1 r)(120 p1 8 p2 ) = 20 p2
Durch eine mathematische Analyse kann man zeigen, dass positive Preise nur dann möglich sind, wenn r = 0,25 ist. Das Preisverhältnis ist dann 1 : 15.
Jetzt wollen wir annehmen, dass es eine mechanisierte und eine traditionelle Landwirtschaft gibt. Letztere wird von Subsistenzbauern betrieben, die außerdem ein Stück Wald nachhaltig bewirtschaften, sodass ihre Betriebe als CO2-Senken fungieren. Die mechanisierte Landwirtschaft und die Eisenindustrie sind Quellen von CO2. Das System dieser drei Wirtschaftszweige soll durch das folgende Schema beschrieben werden:
270 t Weizen 9 t Eisen → 450 t Weizen 10 t CO2
90 t Weizen 7 t Eisen → 20 t Eisen 90 t CO2
720 t Weizen 100 t CO2 → 720 t Weizen
In diesem System halten sich Emission und Absorption von CO2 die Waage. Die Mengen von Weizen auf der linken Seite sind, abzüglich des notwendigen Saatguts im ersten und dritten Zweig, ein Maß für die Zahl der in jedem Zweig tätigen Personen. In den spezifischen Zahlenverhältnissen ist also u.a. die Annahme enthalten, dass die traditionelle Landwirtschaft etwa doppelt so viele Menschen beschäftigt wie Eisenindustrie und mechanisierte Landwirtschaft zusammen.
Wir untersuchen zuerst den Zustand, in dem das CO2 ignoriert wird. Die beiden ersten Zweige können dann für sich allein betrachtet werden. Für die gemeinsame Profitrate und die Preise gelten dann mit den gleichen Bezeichnungen wie oben die Gleichungen:
(1 r)(270p1 9p2) = 450 p1
(1 r) ( 90p1 7p2) = 20 p2
Mit der Konvention p1 = 10 ist die Lösung:
r = 0.25 p1 = 10 p2 = 100
Nun folgt die entsprechende Rechnung für den Fall, dass die CO2-Quellen eine Abgabe an die CO2-Senken zahlen müssen. Die Höhe der Abgabe für 1 t CO2 wird hier mit p3 bezeichnet. Mit dieser Abgabe wird ein Anreiz zur Einsparung von CO2 geschaffen, und gleichzeitig soll mit ihr erreicht werden, dass die Subsistenzbauern an dem Wohlstand, dessen die Industriestaaten sich durch den Einsatz von fossiler Energie erfreuen, partizipieren können. Dieses Ziel kann abgebildet werden durch die Forderung gleicher Profitraten in allen drei Zweigen. Wenn diese erfüllt ist, dann gelten die Gleichungen:
(1 r)(270p1 9p2 ) = 450 p1 - 10 p3
(1 r)( 90 p1 7p2) = 20 p2 - 90 p3
(1 r) 720p1 = 720 p1 100 p3
Mit der Konvention p1= 10 erhält man die Lösung
r = 0.112 p1 = 10 p2 = 141.5 p3 = 8.06
Es zeigt sich also, dass ein Handelsschema, an dem CO2-Quellen und CO2-Senken gleichberechtigt teilnehmen können, die Profite der CO2-emittierenden Wirtschaftszweige sehr stark beschneidet. Die Profitrate ist von 25% auf rund 11% reduziert worden, weil ein Teil der Profite zu den Subsistenzbauern transferiert wird. Davon, dass die „Luftverschmutzer belohnt“ werden[31], kann also keine Rede sein. Außerdem werden Preise erzwungen, die von den Preisen in einer Wirtschaft mit kostenloser Emission von CO2 sehr stark abweichen. Der Preis der Ware, bei deren Produktion sehr viel CO2 entsteht, ist um rund 42% höher als vorher. Preisaufschläge in dieser Größenordnung würden den Übergang zu Produktionsverfahren und zu Lebensstilen, die das Klima weniger belasten, fördern. Gleichzeitig könnten die Transferzahlungen an Länder, wo CO2 absorbiert wird, dazu dienen, die Armut dort zu bekämpfen.
5. Die Einwände von Acosta
Wenn man sich die mächtigen Widerstände gegen wirksamen Klimaschutz auf individueller, nationaler und globaler Ebene vor Augen hält, dann ist klar, dass nur ein breites Bündnis, das Sektoren unterschiedlicher ideologischer Richtung umfasst, diese Widerstände überwinden kann. Umso mehr ist es zu bedauern, dass einige Exponenten der Umweltbewegung in Lateinamerika Positionen vertreten, die ein solches Bündnis sprengen würden. Es ist ausgerechnet Alberto Acosta, der engagierte Fürsprecher der eingangs erwähnten Yasuni-Initiative, der in einem kühnen Rundumschlag jeden ökonomischen Ansatz in der Klimapolitik angreift. Er kritisiert mit Recht, dass in der EU die Emissionsrechte eine Zeit lang fast kostenlos verteilt und dass die Obergrenzen der Emissionen zu hoch angesetzt wurden, aber er geht viel zu weit. Er wendet sich sowohl gegen die neoklassischen Ansätze, die er irrtümlich als neoliberal bezeichnet, als auch gegen Vorschläge, die „den Kohlenstoffzyklus in die Diskussion bringen“. In diesem Sinne polemisiert er gegen das UNO-Programm REDD (Reduktion von Emissionen aus Entwaldung und zerstörerischer Waldnutzung). „Das marktförmige REDD-Modell schätzt den pflanzlichen Kohlenstoff der Wälder im Rahmen eines Szenarios des An- und Verkaufs von Kohlenstoffspeichern, so wie bei dem marktförmigen Mechanismus der sauberen Entwicklung (CDM) des Kyoto-Protokolls. ... Mit der Einführung von REDD wird der Schutz der Wälder in die Sphäre der Geschäftswelt überführt. Mit REDD erfolgt die Kommerzialisierung und Privatisierung von Luft, Wäldern, Bäumen und der Erde insgesamt“.[32]
Dieser pauschalen Kritik soll hier mit einer differenzierenden Antwort begegnet werden. Der Handel mit Emissionsrechten in der EU ist ein Instrument der Klimapolitik, das von neoklassischen Ökonomen erdacht wurde, aber es belastet große Emittenten mit Abgaben und ist deshalb nicht neoliberal. Zwar wurde ein neuer Markt geschaffen, der Markt für Emissionsrechte, aber dieser Markt wird durch die Politik reguliert. Die Polemik gegen den Markt an sich übersieht, dass Märkte schon lange vor dem Kapitalismus existierten. Die Kritik an dem CDM des Kyoto-Protokolls ist berechtigt, wenn durch ein CDM-Projekt keine Klimaziele erreicht werden, oder wenn, wie bei Staudämmen, lokale Bevölkerungen geschädigt werden, aber nicht generell.
Da eine Alternative zum Kapitalismus noch nicht in Sicht ist, wurde hier gezeigt, wie der Schutz der Wälder in einem streng regulierten kapitalistischen System funktionieren könnte, ohne dass die Regenwaldnationen zu Bittstellern degradiert werden. Dabei muss weder der Wald noch die Erde oder die Luft privatisiert werden. Es wird lediglich verlangt, das emittierte und absorbierte CO2 zu messen, und die gemessenen Mengen im internationalen Handel zu verrechnen. Die Rechte der indigenen Völker würden dadurch nicht angetastet, im Gegenteil, ihr Lebensraum würde besser geschützt als je zuvor.[33]
[1] Mohssen Massarrat, Das Dilemma der ökologischen Steuerreform. Plädoyer für eine nachhaltige Klimapolitik durch Mengenregulierung, Marburg 1998.
[2] Alberto Acosta, Die ecuadorianische Yasuni-ITT-Initiative: Perspektiven und Blockaden für eine Politik jenseits des Neo-Extraktivismus, in: Burchardt, Dietz, Öhlschläger (Hrsg.), Umwelt und Entwicklung im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2013.
[3] Henri Rueff, Henri et al., Dryland afforestation and poverty alleviation: Bedouin and Palestinian Non-Timber Forest Product collectors in contrasting economic environments, in: Human Ecology 36 (2008), 923-930.
[4] Vgl. zum Beispiel die Schemata der einfachen und erweiterten Reproduktion im 2 Band des „Kapital“ von Karl Marx..
[5] Ulrich Hampicke, Ökologische Ökonomie, Opladen 1992.
[6] Vgl. Heinz D. Kurz, Geschichte des ökonomischen Denkens, München 2013, S. 67-71.
[7] Paul A. Samuelson and W.D. Nordhaus, Economics, 14th edition, 1992, p. 2.
[8] „Economics is the study of the allocation of limited, or scarce, resources among alternative, competing ends“. H. Daly/J. Farley, Ecological Economics. Principles and Applications, Washington 2004.
[9] Dieter Cansier, Arthur Cecil Pigou, in: J. Starbatty, Klassiker des ökonomischen Denkens, Teil II, München 1989.
[10] Nicholas Stern, The Economics of Climate Change. The Stern Review, Cambridge University Press 2007, p. 31.
[11] In seinem Buch „Kapital und Kapitalzins. Positive Theorie des Kapitals“ (1921) schrieb Eugen v. Boehm-Bawerk: „Gegenwärtige Güter sind in aller Regel mehr wert als künftige Güter gleicher Art und Zahl.“
[12] Wolfgang Buchholz/ J. Schumacher, Die Wahl der Diskontrate bei der Bewertung von Kosten und Nutzen der Klimapolitik, in: J. Weimann (Hrsg.), Jahrbuch Ökologische Ökonomik 6, Diskurs Klimapolitik, Marburg 2009, S. 1-33.
[13] Einer der prominentesten Kritiker ist der Amerikaner William D. Nordhaus mit seinem Artikel „A review of the Stern Review on the Economics of Climate Change“, in: J. of Economic Literature 45 (2007), 686-702.
[14] Stern, a.a.O., p. 51.
[15] Hampicke, a.a.O., S. 289
[16] Karl-Heinz Paqué, Kommentar zu Wolfgang Buchholz und Jan Schumacher, in: Weimann, a.a.O., S. 34-48.
[17] Paul R. Portney, Applicability of Cost-Benefit Analysis to Climate Change, in: William D. Nordhaus (ed.), Economics and Policy Issues in Climate Change, Washington 1998.
[18] Ferenc L. Toth, Comments, in: Nordhaus, a.a.O., pp. 129-135.
[19] Larry Lohmann, Carbon trading - a critical conversation on climate change, privatisation and power, in: Development Dialogue Nr. 48, Uppsala 2006.
[20] Tamra Gilbertson/Oscar Reyes, Globaler Emissionshandel. Wie Luftverschmutzer belohnt werden, Frankfurt a. M. 2010.
[21] Hänggi, a.a.O., S. 249.
[22] Stern, a.a.O., p. 272.
[23] NZZ vom 18.9.2013.
[24] Marcel Hänggi, Ausgepowert. Das Ende des Ölzeitalters als Chance. Zürich 2011, S. 261.
[25] Stern, a.a.O., p. 274.
[26] Sven Wunder/Alban Montserrat, Decentralized payments for environmental services: the cases of Pimampiro and Profafor in Ecuador, in: Ecological Economics 65 (2008), 685-698.
[27] Karl Marx, Das Kapital, Band 2, MEW Bd. 24, S. 391 ff.
[28] Piero Sraffa, Warenproduktion mittels Waren, mit Nachworten von Bertram Schefold, Frankfurt a.M. 1976.
[29] Dazu Schefold in: Sraffa, a.a.O., und Luigi Pasinetti, Vorlesungen über die Theorie der Produktion, Marburg 1988.
[30] Sraffa, a.a.O., S. 25.
[31] Gilbertson/Reyes, a.a.O..
[32] Acosta, a.a.O., S. 116-117
[33] Dies bezieht sich auf eine Stellungnahme von Evo Morales, des Präsidenten von Bolivien, gegen das REDD, in der er sagte: „Die Wälder und die indigenen Völker sind nicht verkäuflich“.