Mitgliederentwicklung und Wahlergebnisse linker Parteien in Westeuropa seit den 1970er Jahren (Teil II) (Tabellen und Abbildungen finden sich in der pdf-Datei am Ende)
Im ersten Teil des Aufsatzes in Z 101 (März 2015), S. 141-153, wurde der Niedergang der radikalen und der sozialdemokratischen Linken seit ihrem Zenit in den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre beschrieben. Das prophezeite „Ende der Geschichte“ blieb aber aus. Die linke Depression nach dem Untergang des Realsozialismus ließ in den 1990er Jahren allmählich nach. Das Versprechen eines besseren Lebens für alle durch das ungehemmte Wirken der Marktkräfte erwies sich bald als trügerisch; soziale Bewegungen konnten wieder an Boden gewinnen. Im zweiten Teil des Aufsatzes wird der Frage nachgegangen, wie sich die linken Neuansätze in den verschiedenen Ländern Westeuropas nach 1990 entwickelt haben und ob der Niedergang der Linken gestoppt werden konnte.[1]
Die neoliberale Offensive gegen die Sozialsysteme und die zunehmende Militarisierung der internationalen Beziehungen (Jugoslawien-Krieg und Irak-Kriege) mobilisierten nicht nur die Friedensbewegung, sondern lösten auch einen weltweiten sozialen Widerstand aus. Die globalisierungskritische Bewegung zum Ende der 1990er Jahre machte deutlich, dass sich viele nicht mit dem Sieg des Kapitalismus abfinden wollten. In Lateinamerika schlugen eine Reihe Länder – angefangen mit Venezuela – einen mehr oder weniger starken anti-neoliberalen Kurs ein.
Entwicklung der radikalen Linken nach 1990
Für die Wiederbelebung der radikalen Linken war auch die Entwicklung der Sozialdemokratie von Belang: Deren Rechtstrend verstärkte sich nach 1990 weiter und ist, wie das französische Beispiel zeigt, noch nicht abgeschlossen.[2] Das hat ein politisches Vakuum links von ihr geschaffen, in das die radikale Linke vorstoßen konnte.
Eine Reihe erfolgreicher, aber sehr unterschiedlicher Parteiprojekte sorgte außerdem für größeren Optimismus. Als erste machte die Partei der Kommunistischen Neugründung (PRC) in Italien von sich reden. Sie entstand als Abspaltung der Italienischen KP (PCI) und umfasste nicht nur den sog. prosowjetischen Flügel des PCI, sondern auch ehemalige Linkssozialisten und Anhänger der Manifesto-Gruppe, die sich 1972 bzw. 1984 dem PCI angeschlossen hatten. Eine weitere wichtige Komponente war die Proletarische Demokratie (DP). Die Zusammenarbeit des PRC mit der globalisierungskritischen Bewegung galt als vorbildlich und ihre Wahlergebnisse nahmen von 6 Prozent 1992 auf 9 Prozent 1996 zu.
Zweites Beispiel ist die Sozialistische Partei der Niederlande (SP), die 1971 als maoistische Partei gegründet worden war. Sie konzentrierte sich seit 1972 darauf, die Anliegen der Menschen in den Kommunen aufzugreifen und darüber die Partei aufzubauen und von den Kommunalparlamenten bis in das nationale Parlament vorzustoßen. 2002 kam sie auf 5,9 Prozent und 2006 auf 16,6 Prozent der Stimmen. Die Mitgliederzahl kletterte auf über 50.000.
Für Aufsehen sorgte schließlich das deutsche Beispiel. Mit Hartz IV kam die Rechtsentwicklung der SPD zum Höhepunkt. Vor allem ehemalige Sozialdemokraten und Gewerkschafter gründeten 2004/2005 die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG), die bald eine Vereinigung mit der PDS anstrebte, der es nicht gelungen war, im Westen mehr als eine symbolische Präsenz aufzubauen. Den Führungen beider Parteien war schnell klar, dass der Raum links der SPD nicht groß genug und die Wahlhürde zu hoch war, um auf parlamentarischer Ebene zwei linken Parteien das Überleben zu garantieren. 2007 entstand DIE LINKE, die 2009 11,9 Prozent erreichte.
In Frankreich war die Französische KP (PCF) Anfang der 1990er bei Wahlen auf unter 10 Prozent und 10 Jahre später nach einer Regierungsbeteiligung auf unter 5 Prozent gefallen. Das bedeutete aber keinen Einflussverlust der radikalen Linken, weil andere Kräfte erstarkten. Die trotzkistischen Revolutionäre Kommunistische Liga (LCR) und Arbeiterkampf (LO) schafften es, bis zu 10 Prozent zu holen. Die Auseinandersetzung um die EU-Verfassung führte schließlich auch zu Absplitterungen von der Sozialistischen Partei und von den Grünen, aus denen die Linkspartei (PG) Jean-Luc Mélenchons entstand. Damit war auch die Voraussetzung für ein linkes Bündnis entstanden aus PCF, PG und diversen linksalternativen, kommunistischen und trotzkistischen Gruppen, auf das bei der Präsidentschaftswahl 2012 mit Mélenchon 11,1 Prozent entfielen.[3] Spaltpilz in Frankreich bleibt aber das Verhältnis zur Sozialistischen Partei (PS). Ohne Bruch mit dem PS sind LCR und LO zu keinem Bündnis bereit. Und auch der PG will stärker auf Distanz zum PS als der PCF. Einen völligen Bruch will der PCF vermeiden, denn bei dem geltenden Mehrheitswahlsystem setzt der Erhalt kommunaler und nationaler Mandate eine Zusammenarbeit mit dem PS voraus.
Sensationell war der Erfolg der Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA), der neuen griechischen Linkspartei, die 2013 aus dem gleichnamigen Bündnis in Folge der Proteste gegen die Austeritätspolitik der Troika entstanden ist. Sie konnte bei den Wahlen im Juni 2012 mit 26 Prozent den zweiten Platz hinter den Konservativen erreichen. Insgesamt 18 linke Gruppen haben sich in SYRIZA versammelt, von Maoisten und Trotzkisten über Reformkommunisten bis hin zur Zentrumsunion. Bei der vorgezogenen Neuwahl im Januar 2015 gelang ihr schließlich mit 36,4 Prozent der Sprung an die Regierung.
In Spanien unter dem Troika-Diktat scheint der Raum für eine radikale Linke ähnlich groß zu sein. Die Vereinigte Linke (IU) hatte sich nach ihrem Bestergebnis von 10,6 Prozent im Jahr 1996 der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) angenähert und stetig an Einfluss verloren. 2008 standen nur noch 3,8 Prozent Stimmen zu Buche. Ein Kurswechsel unter Cayo Lara und eine stärkere Absetzung von der PSOE brachten erste Erfolge. Bei den Wahlen 2011 kletterte die IU auf 7,0 Prozent. 2013 stieg sie in den Umfragen auf bis zu 15 Prozent, während die sozialdemokratische PSOE nicht von den Verlusten der regierenden Konservativen profitieren konnte. Die Versuche der IU, ein breiteres linkes Bündnis aufzubauen, stießen bei der Mehrheit der Bewegungen, die gegen die Austeritätspolitik auf die Straßen gingen (Indignados), nicht auf Zustimmung.
Mehr Erfolg hatte der populäre linke Politikprofessor und Fernsehjournalist Pablo Iglesias, der im Januar 2014 mit Gleichgesinnten die Bewegung Podemos (Wir können) startete. Zu den Initiatoren gehörten vorwiegend unabhängige Persönlichkeiten aus den Indignados-Bewegungen. Podemos gewann bei der EU-Wahl auf Anhieb 8 Prozent der Stimmen. In nur 20 Tagen schrieben sich 100.000 Mitglieder ein. Am 1. November war Podemos mit 220.000 Mitgliedern vor der PSOE zweistärkste Partei und lag im gleichen Monat erstmals in einer Umfrage auf Platz 1. Die Zuwächse gehen vor allem auf Kosten der PSOE und der IU.
Die Beispiele machen deutlich: Um Erfolge zu erzielen, kommt es weniger darauf an, welcher Richtung der radikalen Linken die Parteien entstammen, als vielmehr, wie es gelingt, den mit der neoliberalen Politik von Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten Unzufriedenen ein wahrnehmbares und glaubhaftes politisches und personelles Angebot zu machen.
Ob der Funke zündet, hängt nicht nur davon ab, ob er auf eine entflammbare Masse trifft, sondern auch davon, wie er entfacht wird. Wie Podemos praktisch aus dem Nichts einen Flächenbrand zu legen, hat nicht nur mit der Unzufriedenheit vieler Spanier zu tun und dem Vertrauensverlust in die Großparteien PSOE und Volkspartei (PP), sondern mit einem politischen Angebot, das die wichtigsten sozialen Probleme aufgreift, und mit einem charismatischen und unverbrauchten Personalangebot. In der Regel sind die Ausgangsbedingungen viel schwieriger, und vergleichbare Versuche scheitern oder fallen bescheidener als in Spanien aus.
Belgien zeigt exemplarisch, wie schwierig das Unterfangen ist, links der Sozialdemokratie eine Alternative aufzubauen. Seit die KP 1985 ihren letzten Parlamentssitz verlor, hat es unzählige Versuche von kommunistischer, trotzkistischer, linkssozialistischer und linksgrüner Seite gegeben, dies zu erreichen. Doch der Funke zündete bei einer mittlerweile 45 Jahre alten ex-maoistischen Partei, der Partei der Arbeit Belgiens (PTB). Ihr gelang es bei den Parlamentswahlen 2014 zwei Mandate zu erringen. Das war nicht nur das Ergebnis einer cleveren und modernen Image- und Medienpolitik und einer unsektiererischen Bündnispolitik, sondern einer Kampagne, die sich auf konkrete sozialpolitische Ziele konzentrierte.[4]
Ähnlich erfolgreich ist die radikale Linke in Irland, wo sie seit jeher ein Schattendasein führte, weil die nationale Auseinandersetzung den Klassenkonflikt überlagerte. Die Labour Party, die noch 2011 als Oppositionspartei von der Kritik an der Austeritätspolitik profitiert hatte, ist jetzt Regierungspartei und musste bereits bei der EU-Wahl 2014 kräftig Federn lassen. Die linken Nationalisten von Sinn Fein haben von 2,5 Prozent bei den Wahlen 1997 auf heute über 20 Prozent zugelegt. Gleichzeitig sitzen ein Dutzend Abgeordnete im Parlament, die weiter links stehen. 2011 traten die trotzkistischen Parteien Sozialistische Arbeiterpartei (SWP; IST) und Sozialistische Partei (SP; CWI) und Unabhängige zusammen als Vereinigte Linke Allianz (ULA) an und errangen 5 Sitze. Zwei weitere SP-Mitglieder kamen 2014 durch Nachwahlen dazu. Auch hier waren an erster Stelle soziale Themen im Mittelpunkt der Kampagnen, z.B. der Kampf gegen Wasser- und Wohnungssteuern. Allerdings ist die ULA zerbrochen und die 7 Abgeordneten gehören jetzt 4 verschiedenen Gruppen an, aber es gibt neue Einigungsversuche der Linken bis hin zu Sinn Fein.
Andere Parteien und Bündnisse, die von trotzkistischen Organisationen gegründet oder dominiert wurden, sind ebenfalls gescheitert: Das Komitee für eine andere Politik (CAP) in Belgien, Socialist Alliance und RESPECT in Großbritannien und die Schottische Sozialistische Partei (SSP). Glücklos war auch die französische LCR (USec), die im Alleingang eine breitere Partei, die Neue Antikapitalistische Partei (NPA) ins Leben rief. Nach einer anfänglichen Mitgliederexplosion auf 9.000 zerstritt sich die Partei bald an der Frage der Zusammenarbeit mit der Linksfront (FG) und fiel auf heute 2.100 Mitglieder zurück.
Dabei verfolgte das USec bereits seit 1995 eine – allerdings umstrittene – Linie der „Umgruppierung“, die darin besteht, sich an der Zusammenführung von „bedeutenden Fragmenten der traditionellen Arbeiterbewegung“ zu beteiligen. Ihre Sektionen waren gleichberechtigt am Aufbau der dänischen Einheitsliste - Die Rot-Grünen (Enhedslisten), von Dei Lénk und dem portugiesischen Linksblock (BE) beteiligt. Juniorpartner waren sie sowohl bei der IU als auch bei dem PRC, die sie schließlich wegen ihrer Rechtsentwicklung verlassen haben. Das Comeback ihrer Sektion in Spanien war dann allerdings spektakulär, stand sie doch mit an der Wiege von Podemos.[5]
Um die Initialzündung hinzubekommen und Vertrauen zu schaffen, scheint die Bildung von Bündnissen und breiten Linksparteien ein Erfolg versprechendes Mittel zu sein. Das Scheitern des Realsozialismus hat dazu beigetragen, Vorbehalte unter den verschiedenen linken Strömungen abzubauen. Die Notwendigkeit, ein bestimmtes Sozialismusmodell zu verteidigen, entfiel. Angesichts der neoliberalen Offensive wuchs insgesamt das Bedürfnis, sich zusammenzuschließen.
In Spanien, Dänemark und Griechenland waren Bündnisse der linken Parteien – die IU, die Enhedslisten und Synaspismos – bereits in den 1980ern entstanden und umfassten Kommunisten, Trotzkisten und Linkssozialisten. Aus Synaspismos, das 1991 von der Mehrheit der der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) verlassen wurde, entstand später das Bündnis SYRIZA. Alle drei sind heute Mitgliederparteien, deren Mitglieder aber zum Teil noch verbliebenen Gründungsparteien angehören.
Nach 1989 kamen an Bündnissen Déi Lénk in Luxemburg aus der Kommunistichen Partei Luxemburgs (KPL), Reformkommunisten, Jungsozialisten und Trotzkisten (USec) und der Linksblock in Portugal aus Trotzkisten (USec), Ex-Maoisten und Reformkommunisten hinzu. Déi Lénk, die sich 2000 nach dem Auszug der KPL in eine Partei verwandelte, hat mittlerweile zwei Abgeordnete und ist bei den Europawahlen so stark geworden wie die KPL zuletzt in den 1970ern. Der Linksblock, der heute ebenfalls eine Mitgliederorganisation ist, schaffte 2009 10 Prozent Wählerstimmen, hat aber dann durch innere Konflikte mehr als die Hälfte eingebüßt. Auch in Island gibt es eine linke Erfolgsgeschichte. Als sich 1999 Sozialdemokraten, Volksbund (AB) und Frauenpartei vereinigten, kam es beim linkssozialistischen AB zur Abspaltung des linken Flügels. Daraus entstand die Links-Grüne Bewegung (VG), die 2009 21,7 Prozent erzielte.
Die Beispiele der SP der Niederlande, der PTB Belgiens, von Podemos und der wieder erstarkten Portugiesischen KP (PCP) zeigen auch, dass Bündnisse kein Allheilmittel sind. Die Beispiele Griechenlands und Portugals lassen außerdem erkennen, dass auch Platz für mehrere Parteien gegeben sein kann – wenn das Wahlsystem dem nicht im Weg steht und sie unterschiedliche Schichten ansprechen können.
Neue Internationalen
Neue Kooperationen haben sich nicht nur auf der Staatenebene, sondern auch international entwickelt. Da die Übergänge zwischen den verschiedenen Richtungen der radikalen Linken fließend sind, überschneiden sich auch die internationalen Bündnisse, die sie eingegangen sind. Der größte Zusammenhang ist die Europäische Linke (EL), die 2004 im Rahmen der EU gegründet wurde, auch, um institutionelle Vorteile der EU, die diese anerkannten supranationalen Parteien gewährt, nutzen zu können. Die meisten genannten Bündnisse und pluralen Parteien gehö ren ihr an, mit Ausnahme der niederländischen SP und von Podemos. Daneben gibt es die Nordisch-Grüne Linke (NGLA) mit einer homogeneren stärker rot-grünen Mitgliedschaft von sieben Parteien von Grönland bis Finnland (Abb. 4).
Abb. 4
Der breiteste kommunistische Zusammenschluss ist das jährliche Internationale Treffen Kommunistischer und Arbeiterparteien. Das ist allerdings alles andere als einheitlich, denn es reicht von eher demokratisch-sozialistischen Parteien wie jenen Spaniens und Frankreichs, die ebenfalls der EL angehören, über traditionelle Parteien wie die portugiesische PCP bis hin zu Parteien mit sehr enger oder mehr oder weniger offen stalinistischer Orientierung wie die Arbeiterkommunistische Partei Russland oder die KKE Griechenlands. Die belgischen, österreichischen und schweizerischen Parteien meiden diese Treffen.
Seit wenigen Jahren gibt es auf Einladung der KKE auch einen alljährlichen Austausch auf europäischer Ebene, an dem aber PCF und KP Spaniens (PCE) nicht teilnehmen. Politisch noch enger ist schließlich die Initiative kommunistischer und Arbeiterparteien, die nur Parteien umfasst, die die Linie der KKE teilen, von denen aber in Westeuropa keine – außer der KKE – größere Bedeutung hat.
Zwei internationale Zusammenhänge, die nach 1990 entstanden waren, sind Ende des letzten Jahrzehnts eingeschlafen. Das Forum der Neuen Europäischen Linken (NELF), das seit 1991 den Dialog in der westeuropäischen Linken in Gang gebracht hatte, stellte nach Gründung der EL seine Tätigkeit ein. Die Europäische Antikapitalistische Linke (EACL) wurde 2000 von größeren Parteien (LCR/NPA, SWP, SP) der drei trotzkistischen Hauptrichtungen und von Bündnissen, in denen sie aktiv waren (Einheitsliste, Déi Lenk, SSP, Synaspismos, Linksblock, Respect) gegründet. Das Scheitern einiger Projekte (SSP und Respect) und die Mitgliedschaft der restlichen Bündnisse in der EL machte die EACL dann überflüssig.
Die Bedeutung der einzelnen Richtungen läßt ein Blick auf die jüngsten Wahlergebnisse in Westeuropa erkennen. Waren bis 1989 neun Zehntel aller Stimmen für Parteien links der Sozialdemokratie auf KPs entfallen, können jetzt Mitglieds- bzw. Beobachterparteien der Europäischen (EL) und der Nordisch-Grünen Linken (NGLA) zwei Drittel für sich verbuchen. Andere Linkssozialisten erzielten ein Sechstel dieser Stimmen und kommunistische Parteien, die nicht zu EL zählen, 7 Prozent (siehe Abb. 5).
Abb. 5
Instabile Wahlerfolge
Trotz vieler Wahlerfolge ist in der Gesamtschau kein schnelles Anwachsen der radikalen Linken in Westeuropa festzustellen. Der Durchschnitt der Ergebnisse in 20 Ländern steigt seit 1995, als er auf 6,90 Prozent abgenommen hatte, wieder an und hat 2014 mit 9,92 Prozent das Niveau von 1986 zurückgewonnen (siehe Teil I, Abb. 2, in: Z 101, S. 145). Nimmt man die absoluten Stimmen, erzielte die gesamte radikale Linke bei den letzten Parlamentswahlen bis 2014 in allen westeuropäischen Ländern 15,2 Mio. Stimmen. Das sind zwar 12 Mio. Stimmen weniger als auf dem Höhepunkt 1978. Nimmt man die italienischen Wahlergebnisse heraus, wird aber fast das Niveau von damals wieder erreicht. Der Unterschied zwischen der Ergebnisentwicklung mit oder ohne Italien wird auch bei den EU-Wahlen deutlich (siehe Abb. 6).
Abb. 6
Die Gesamtzahlen bedeuten allerdings keine gleichmäßige Entwicklung. Im Vergleich zur Mitte des letzten Jahrhunderts sind die Wahlergebnisse der radikalen Linken (ebenso die der Sozialdemokraten) viel instabiler. Verdoppelungen oder Halbierungen von Stimmenzahlen sind keine Ausnahme. Keine der größeren Parteien verzeichnet einen kontinuierlichen Aufwärtstrend. Nach einer anfänglichen Euphorie, die durch die Bildung einer neuen Partei oder durch eine erfolgreiche Wahlkampagne ausgelöst wurde, macht sich oft Enttäuschung breit, weil die Partei nicht in der Lage war, die in sie gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
Gesellschaftliche Mobilisierungen führen in der Regel zu Stimmengewinnen, Regierungsbeteiligungen zu Verlusten. Regierungsbeteiligungen sind ein Streitpunkt in der radikalen Linken, weil die neoliberale Globalisierung und die Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie Reformmöglichkeiten drastisch einschränken.
Das Dilemma ist jedoch, dass die meisten Wähler der radikalen Linken erwarten, dass sie sich an Regierungen beteiligen, um ihre Forderungen durchzusetzen oder um eine Rechtsregierung zu verhindern. Gut bekommen ist eine Regierungsbeteiligung oder -unterstützung den meisten nicht. In 17 von 19 Fällen, in denen radikale linke Parteien an Regierungen seit 1990 beteiligt waren oder diese von außen unterstützten, büßten sie bei anschließenden Wahlen Stimmenanteile ein, wie Luke March 2012 festgestellt hat.[6] Dies gilt auch für die späteren Fälle Norwegen und Island, wo die mitregierenden Linksparteien 2013 Verluste von 2,6 Prozent bzw. 10,8 Prozent hinnehmen mussten.
Ebenso negativ wirkten sich Auseinandersetzungen um die Regierungsbeteiligung auf eine Reihe von Parteien aus. Der italienische PRC erlitt dreimal große Abspaltungen von regierungsfreundlichen Fraktionen, mit dem Ergebnis, dass in dem Land mit der einst mächtigsten kommunistischen Partei die Linke heute am Boden liegt. Andere Beispiele für das selbstzerstörerische Potenzial von Regierungsbeteiligungen sind die griechische KKE (1989/1990), die spanische IU (1997), die isländische VL (2013) und die dänische Sozialistische Volkspartei (SF; 2014), bei denen es zu Spaltungen oder Massenaustritten kam.
Das hat auch Einfluss auf die politische Richtung einer Partei. Diese kann sich auch schleichend ändern, indem Kritiker von allzu viel Kompromissbereitschaft die Partei verlassen, während andere, die sie gutheißen, eintreten.
Füllt sich das Vakuum?
In scheinbarem Widerspruch zu den Wahlerfolgen steht die Mitgliederentwicklung der radikalen Linken. Fast bis in die Gegenwart ist ein Rückgang festzustellen. Möglicherweise deutet sich 2012 eine leichte Erholung an (siehe Teil I, Abb. 1, in: Z 101, S. 143).[7] Bei den meisten „Altparteien“ ist der Mitgliederverlust stetig. Ausnahmen sind die links-grünen Parteien in Dänemark, Schweden, Norwegen und Island. Eine gewisse Stabilisierung kommt vor allem durch die Gründung und Entwicklung neuer Parteien oder Zusammenschlüsse zustande. Aber auch deren Expansion stoppt in der Regel schnell.
Wenn man die Mitgliederzahlen zu den Wählerstimmen ins Verhältnis setzt, zeigt sich ein starkes Absinken des Organisationsgrades von 10,6 Mitgliedern pro 100 Wähler 1977 auf 3,8 im Jahr 2012. Bei der deutschen LINKEN lag der Wert im Westen bei nur 1,2.
Der Rückgang findet in etwa dem gleichen Tempo statt wie bei der Sozialdemokratie und ist Teil eines gesellschaftlichen Trends, der alle Parteien trifft.[8] In Südeuropa ist er noch nicht so weit gediehen. KKE, PCP und AKEL erzielen noch Werte von etwa 10 Mitgliedern auf 100 Wähler – mit abnehmender Tendenz.
Die sinkenden Mitgliederzahlen haben zwar offenbar wenig Einfluss auf die Wahlergebnisse, verringern aber die Möglichkeiten, außerparlamentarisch wirksam zu sein. Die gesellschaftlichen Organisationen, die früher die Parteien umgaben, sind entweder verschwunden, haben sich von ihnen gelöst oder haben stark an Einfluss verloren. Nur noch der PCP und die AKEL kontrollieren eine Gewerkschaft und wenige andere Parteien (z.B. PCF, PCE und KKE) Minderheitsströmungen in linken oder Einheitsgewerkschaften.
Die Parteien der radikalen Linken können nicht mehr auf eine stabile Stammwählerschaft zählen. Die Wahlentscheidung hängt immer weniger von einer Verbundenheit mit der Partei und ihren Zielen ab. Oft ist es nur Protest oder eine taktische Überlegung, die eine Wahlentscheidung bestimmt.
Der Eintritt in eine Partei setzt aber nicht eine Übereinstimmung mit kurzfristigen Zielen voraus, sondern mit den Grundprinzipien. Ein überzeugendes gesellschaftliches Gegenmodell hat aber die radikale Linke bisher nicht anzubieten. Die Pluralität der Parteien und Bündnisse bedingen einen Minimalkonsens, der sich in kurz- und mittelfristigen Forderungen erschöpft.
In einer vergleichenden Untersuchung über die radikale Linke in Deutschland, Frankreich und Italien kommt Paolo Chiocchetti zu dem Schluss, dass es ihr bisher nicht gelungen ist, das politische Vakuum, das die Sozialdemokratie hinterlassen hat, auszufüllen und einen dauerhaften Weg der Wiedergewinnung ihres gesellschaftlichen Gewichtes und Einflusses einzuschlagen.[9] Seine Zahlen und Fakten belegen dies für die drei Länder. Auch sei es bisher nicht gelungen, den neoliberalen Kurs nennenswert abzuschwächen – was sicherlich auch für die anderen westeuropäischen Staaten gilt.
Aber Griechenland und Spanien zeigen auch, dass die radikale Linke mehrheitsfähig werden kann. Ob sie damit aber in der Lage sein wird, die gesellschaftliche Entwicklungsrichtung zu beeinflussen, kann erst die Zukunft zeigen.
Anhang: Parteien der radikalen Linken in Westeuropa 1970 - 2015
[1] Die Wahlergebnisse und Mitgliederzahlen der linken Parteien in diesem Text beziehen sich auf alle westeuropäischen Staaten (ohne Kolonien/Überseegebiete) mit Ausnahme der Türkei (aufgrund fehlender Daten und der nur kurzzeitigen demokratischen Verhältnisse). Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurden für Deutschland nach 1990 nur Zahlen für die alten Bundesländer und Westberlin verwendet.
[2] Der französische Premierminister Manuel Valls liebäugelt mit der Umwandlung seiner Sozialistischen Partei in eine neue Mitte-Links-Formation nach italienischem Vorbild unter Verzicht auf das Wort „sozialistisch.“ Vgl. Le Monde, Paris, 24.10.2014, S. 8.
[3] Vgl. Nico Biver, Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Die Renaissance der radikalen Linken, in Z 90 (Juni 2012), S. 8-17.
[4] Siehe: Nico Biver, Belgiens Linke auf dem Sprung. Führt der Kurswechsel der Arbeiterpartei Belgiens zum Wahlerfolg am 25. Mai? Rosa-Luxemburg-Stiftung, 25. Mai 2014, http://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/rls_onl_Belgiens_Linke_auf_dem_Sprung_140518.pdf.
[5] Vgl. Daniel Bensaid, Alda Sousa, Alan Thornett u.a., New Parties of the left. Experiences from Europe, London 2011.
[6] Tim Bale and Richard Dunphy, In from the cold. Left parties and government involvement since 1989, in: Comparative European Politics, 9 (3), S. 269-291, S. 272.
[7] In der Aufstellung, die 2013 endet, sind die Zahlen von Podemos noch nicht enthalten, durch die sich die Gesamtsumme von etwa 637.000 um ein Drittel auf fast 950.000 erhöhen würde. Die Berücksichtigung von Podemos beinhaltet auch ein methodisches Problem, da die Mitglieder keinen Mitgliedsbeitrag entrichten und so der Mitglieder- und Sympathisantenstatus vermischt wird.
[8] Vgl. Ingrid van Biezen, Peter Mair und Thomas Poguntke, Going, going, . . . gone? The decline of party membership in contemporary Europe, in: European Journal of Political Research 51: 24–56, 2012.
[9] Vgl. die Doktorarbeit von Paolo Chiocchetti, Filling the vacuum? The Development of the partisan radical left in Germany, France and Italy, 1989-2013, London 2013, www.paolochiocchetti.it/Chiocchetti 2014 Filling the vacuum.pdf.