Als im Herbst 2014 Tausende in Dresden gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes marschierten, war die Aufregung groß. Von Bild bis taz, von Tagesschau bis RTL aktuell, von Bundeskanzlerin Angela Merkel bis BDI-Präsident Ulrich Grillo sorgte man sich angesichts der rassistischen Mobilisierungswelle. Medien übertrafen sich darin, die in Dresden verbreiteten Thesen zu widerlegen und Politik wie Wirtschaft wurden nicht müde zu betonen, dass Deutschland weltoffen sei und (nützliche) Einwanderung benötige. Eine Frage kehrte immer wieder: Wie konnte Pegida so schnell so viele Menschen anziehen? Es liege an Dresden, meinten manche. Andere beschuldigten die DDR, die Bevölkerung zu dumpfen Rassist/innen erzogen zu haben. Warum es aber gerade das Ticket Islam und Muslime war, das Pegida für sich nutzte, wurde kaum diskutiert.
Antimuslimischer Rassismus ist in Deutschland nicht erst seit den Demonstrationen in Dresden oder dem Aufstieg der AfD virulent. Seit den 1990er Jahren wird regelmäßig über „Hassprediger“, „Schläfer“, „Parallelgesellschaften“, „Kopftuchmädchen“, „Integrationsverweigerer“ und „muslimisch geprägte Problembezirke“ diskutiert. Jahrelang befeuerten Teile der offiziellen Politik und weite Teile der gleichen Medien, die sich seit Herbst so besorgt zeigen, ein Klima des Misstrauens und der Ablehnung gegenüber muslimischem Leben in Deutschland.
Grund genug, sich also noch einmal der Entstehung sowie der Merkmale und Erscheinungsformen des Antimuslimischen Rassismus zu widmen. Einen Schwerpunkt legen wir dabei auf die ideologische Funktion bezogen auf sozial- und bildungspolitische Themen. Da sich auch bei antirassistischen Linken manches Mal eine gewisse Ratlosigkeit breit macht, wie dem Antimuslimischen Rassismus der extrem Rechten, aber auch der „Mitte“, begegnet werden kann, wollen wir davon schließlich Grundzüge eines antikapitalistischen Verständnisses von Antirassismus skizzieren.
Aufgeklärte Europäer und unzivilisierte Muslime
Ideologien wie Rassismus werden insbesondere im Zuge gesellschaftlicher Antagonismen wirkmächtig, indem vorhandene soziale, politische und ökonomische Widersprüche rassistisch gedeutet werden. Diese Ausgangsposition ist grundlegend bei der Analyse des Antimuslimischen Rassismus, weil sie Auskunft über die Herausbildung des Phänomens sowie die ideologischen Funktionen gibt.
Im bundesrepublikanischen Einwanderungsdiskurs sprach man bis in die 1980er Jahre hinein über so genannte „Gastarbeiter“ und „Zuwanderer“ aus der Türkei, dem Balkan, dem Nahen Osten und dem Iran. Insbesondere nach dem Zerfall des Ostblocks änderten sich die Bezeichnungen: Schlagartig sprach man nicht mehr nur von „Türken“ und „Arabern“, sondern auch von „Muslimen“ (Yilmaz-Günay 2013: 256). „Gestern Kümmeltürke – heute schon Topterrorist. Was ist da passiert?“, fragte der Schauspieler und Kabarettist Fatih Çevikkollu im Spiegel (2008).
Etienne Balibar (2000: 106) würde ihm antworten, dass angesichts des Zerfalls des sozialistischen Staatensystems, der deutschen „Wiedervereinigung“ und des Ausbruchs einer noch andauernden Krise im Nahen Osten die Frage nach der europäischen Identität (wieder-)aufkam. Während Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ sprach, prognostizierte Balibar, der künftige „Eiserne Vorhang“ oder die künftige „Mauer“ würde sich in den südöstlichen Mittelmeerraum verschieben. Er sollte Recht behalten.
Die Geschichte war hier nicht zu Ende. Ein neues Feindbild entwickelte sich, das auf religiöser, kultureller, ökonomischer und politischer Ebene ein Ensemble südlich von Europa darstellt, das dem europäischen Wertekanon oder europäisierten Enklaven im Nahen Osten gegenüber steht: die „arabische Nation“ (ebd.: 108).
In rechtlich-juristischer Sicht sind nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gravierende Veränderungen insbesondere im Bereich der Einwanderungs- und Überwachungsgesetze zu beobachten. International sprach man beispielsweise im Rahmen von Entwicklungspolitik plötzlich über Sicherheitspolitik (ESS: 2). Damit einhergehend bildeten sich Legitimationsstrategien, welche die geopolitische Expansion und die Kriege der NATO-Staaten ideologisch stützten. So wurden Menschenrechtsdebatten, insbesondere in Bezug auf Rechte von Schwulen, Lesben, Frauen und Kindern, instrumentalisiert und damit zum Vehikel zur Durchsetzung geopolitischer Interessen (Ruf 2014).
Parallel dazu ist in Deutschland innenpolitisch ein Paradigmenwechsel im Umgang mit Einwanderung festzustellen. Jahrzehntelang gingen den jeweiligen Bundesregierungen davon aus, die einst eingewanderten „Gastarbeiter“ würden eines Tages in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Mit der partiellen Abschaffung des ius sanguinis durch die Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes bekannte sich Deutschland erst im Jahr 2000 faktisch dazu, Einwanderungsland zu sein. Spätestens seit diesem Zeitpunkt verläuft die Auseinandersetzung um Migrant/innen und deren Nachfahren unter dem Stichwort Integration. Zugleich sind es Muslim/innen, die seither im Fokus der Diskussionen stehen, wenn es um die Problematisierung von Einwanderung geht. Häufig findet eine Gleichsetzung von „Migranten“ und „Muslimen“ statt. (Friedrich/Schultes 2013: 15)
Im Antimuslimischen Rassismus artikuliert sich kein antiquierter Rassismus, der offen auf Rasse-Konzepte zurückgreift. Argumentiert wird vielmehr mit kulturellen, geographischen und religiösen Besonderheiten.[1] Antimuslimischer Rassismus basiert nach Yasemin Shooman auf „dem Dreischritt Essentialisierung, Dichotomisierung und Hierarchisierung“, womit „die Hybridität, Durchlässigkeit und Dynamik kultureller Identitäten negiert“ wird (Shooman 2014: 63). Kultur wird zur quasi-natürlichen Eigenschaft. Antimuslimischer Rassismus muss vom Islam entkoppelt werden, da hiervon auch Menschen betroffen sind, die sich selbst nicht als Muslim/innen sehen, sondern als solche wahrgenommen werden (ebd.: 65).
Wie bei anderen Gruppenkonstruktionen wird beim Antimuslimischen Rassismus Menschen, die als Muslim/innen wahrgenommen werden, kollektive Eigenschaften zugeschrieben. Es sind zugeschriebene Identitäten, die nicht frei wählbar sind. Die symbolische Markierung entlang äußerlicher Merkmale, wie z.B. Haarfarbe, Hautfarbe, Kleidungsstücke, dient unter Verweis auf kulturelle Differenz der Kategorisierung der Betroffenen als „Andere“.
Einer vermeintlich homogenen muslimischen Gemeinschaft werden Lebensentwürfe zugeschrieben, die konträr zum erwünschten „Deutsch-Sein“ stehen (Eickhof 2010: 44). Wenn etwa über „Türken“ oder „Araber“ als Integrationsverweigerer, frauenfeindliche Clanführer oder Gemüse verkaufende Hinderwäldler gesprochen wird, dann dienen diese Repräsentationsformen als Negativfolie zum positiven Selbstbild einer aufgeklärten deutschen Gesellschaft. Damit wird verhandelt, was „Deutsch-Sein“ bedeutet − und wer entsprechend in dieses Raster fällt. Somit erfüllt Antimuslimischer Rassismus nicht nur die Funktion der Abgrenzung nach außen, sondern auch der Identitätsstiftung nach innen.
Das lässt sich anhand der „Beschneidungsdebatte“ exemplarisch darstellen: Religion und „Kultur“ wurden anhand binärer Wertevorstellungen diskutiert, wobei die „abendländische Zivilisation“ als Norm gesetzt und Jüd/innen und Muslim/innen als rückständig markiert wurden, die zu säkular zivilisierten Bürgern missioniert werden müssen (Çetin/Voß/Wolter 2012: 39). Ähnlich verliefen auch die Debatten um Moscheebauten. „Wer baut, der will bleiben“ lautete der Tenor. „Der Islam“ als kein selbstverständlich zugehöriger Teil der Gesellschaft wird als Gegenpol zur christlich-abendländischen Identität definiert und diffamiert. Auch dies liegt einer dualistischen Logik zugrunde, bei der es sich um machtvolle Exklusionsmechanismen handelt: Muslime werden zu „Anderen“ gemacht, die öffentlichen Raum in Anspruch nehmen wollen, um demonstrativ und repräsentativ ihrem Glauben nachgehen zu können und damit auch noch erkennen lassen, dass sie hier bleiben werden bzw. wollen. Ein Signal, das vielfach auf Ablehnung stößt (Kuhn 2015: 52).
Als rückständig und unzivilisiert gelten Muslim/innen auch in Bezug auf Antisemitismus, wenn pauschal unterstellt wird, Muslim/innen würden eher zu Antisemitismus neigen. In der Bundesrepublik dient dies dazu, angesichts der deutschen Geschichte die „eigene“ Identität zu rehabilitieren. Das mehrheitsdeutsche „Wir“ wird als weltoffenen und tolerant konzipiert, ein „Wir“, das die Vergangenheit aufgearbeitet habe und moralisch geläutert ist. Deutschland sei ein Land, bei dem „die Welt zu Gast bei Freunden“ ist, ein Land, das gerade deshalb weltpolitisch „mehr Verantwortung“ übernehmen müsse.[2] Die Fokussierung auf islamischen Antisemitismus entspricht einem Denken, bei dem das aufgeklärte und zivilisierte „Wir“ dem unzivilisierten „Islam“ entgegen gestellt wird. Dass die Träger des Antisemitismus in Deutschland aus der „Mitte der Gesellschaft“ kommen, wird gerne unterschlagen. Ein ähnliches Muster ist feststellbar, wenn es um Diskussionen über „Islamfaschismus“ geht. Europa habe aus der Geschichte gelernt und dem Faschismus abgeschworen, eine Lehre, die der „islamischen Welt“ fehle.
Bei genauer Betrachtung fällt also auf, dass Antimuslimischer Rassismus kein zufälliger Ausdruck rassistischer Debatten ist. Unter geschichtspolitischen Gesichtspunkten sowie im Rahmen neoliberaler und großmachtpolitischer Ambitionen wird der ideologische Deutungsrahmen des Islams beliebig gesetzt. In der Analyse des Antimuslimischen Rassismus halten wir die ideologische Dimension für entscheidend. Antimuslimische Ressentiments und die damit einhergehende Homogenisierung des Islams als ein monolithischer Block geben keine Auskunft über die vielfältigen Lebensrealitäten von Muslim/innen. Auf Basis antimuslimischer Ressentiments ist eine Thematisierung tatsächlicher sozialer Probleme daher ungeeignet. Das zeigt sich deutlich, wenn es um ökonomische und soziale Widersprüche geht.
Kulturalisierung und Ethnisierung des Sozialen
In den vergangenen Jahren wurden vermehrt sozialpolitische Themen mit dem Islamdiskurs gekoppelt. Beispielhaft dafür stehen Äußerungen der Publizistin Necla Kelek, die in einem Essay für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ die angeblich mangelnde Tradition der Bildung im Islam beklagt. Das pädagogische Prinzip des Islams würde das Nachahmen fördern und die Neugier verbieten, weshalb die muslimisch geprägten Gesellschaften behindert seien, „sich zu entwickeln“ (Kelek 2010). Wenn Muslime in der Schule nicht erfolgreich seien, darauf läuft Keleks Argument hinaus, liege dies an einer „falschen“ Kultur des Islams. Sehr ähnlich argumentiert Thilo Sarrazin in einem Interview mit dem österreichischen „Kurier“, in dem er sich zu seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ äußert: „In meinem Buch führe ich die durchschnittlich niedrigere Bildungsleistung der muslimischen Migranten auf ihren durch den Islam geprägten kulturellen Hintergrund zurück. Die Einstellung zu Bildung und Wissen, Eigenschaften wie Fleiß und Genauigkeit und Pflichtbewusstsein vererben sich kulturell.“ Muslimische Migrant/innen bringen laut Sarrazin „ihre Kulturen mit und erbringen bei uns die Schulleistungen, die sie auch in ihren Heimatländern haben. Ihre Minderleistung ergibt sich nicht aus einer besonderen Benachteiligung bei uns.“ (Sarrazin 2011)
Hier kommt eine Kulturalisierung bzw. Ethnisierung des Sozialen zum Ausdruck. Nach Christoph Butterwegge stehen bei einer kulturalisierenden Thematisierung sozialer Problemlagen nicht materielle Interessen im Blick, wenn um die soziale, politische und ökonomische Entwicklung geht, „sondern die kulturelle Identität“ (Butterwegge 2011: 200). Eng damit zusammenhängend stellt Butterwegge eine „Ethnisierung des Sozialen“ fest. Ethnisierungsprozesse hätten zwei Seiten: „Neben einer Stigmatisierung ‚der Anderen’ bewirken sie eine stärkere Konturierung ‚des Eigenen’ bzw. die Konstituierung einer nationalen bzw. ‚Volksgemeinschaft’, mit der weitreichende Ziele verfolgt werden.“ (Ebd.: 201) Da im Antimuslimischen Rassismus das Kulturelle deterministisch gefasst wird, lässt sich die Grenze zwischen einer kulturalisierenden und einer ethnisierenden Deutung sozialer Probleme kaum ziehen.
Es stellt sich die Frage, wie jenseits von Kulturalisierungen und Ethnisierungen eine aus linker Perspektive geeignete Thematisierung des Sozialen aussehen kann. Diese Frage mag auf den ersten Blick banal erscheinen, doch eine kritische Betrachtung der Sarrazindebatte 2010 zeigt, dass sie durchaus angebracht ist. Im Zuge der Debatte wurden die Thesen von Sarrazin zwar scharf kritisiert, häufig hoben Entgegnungen allerdings „Musterbeispiele gelungener Integration“ hervor, um sie den von Sarrazin fokussierten „Integrationsverweigerern“ entgegen zu setzen (Friedrich/Schultes 2013: 15f). Diese Intervention gegen Sarrazins Rassismus, die sich im hegemonialen Mediendiskurs häufig fanden, sind bei näherem Blick nicht mehr als eine neoliberale Antwort auf eine falsche Frage. Beruflicher Erfolg der Positivbeispiele wurde zumeist mit individuellem Durchhaltevermögen und Ehrgeiz erklärt, während institutioneller Rassismus ausgeblendet blieb. „Dabei wird statt kulturellem Determinismus ein Aufstiegsversprechen durch ‚Leistung’ in den Vordergrund gestellt.“ (Ebd.: 14)
Ein ähnliches Problem ergibt sich aus der diskursiven Interventionspraxis, wie sie von Teilen antirassistischer Aktivist/innen betrieben wird, wenn sie sich auf die Forderung beschränken, den rassistischen Stereotypen eine andere „Bildlichkeit“ entgegen zu setzen. So schlagen antirassistische Gruppen und Medienprojekte vor, den tatsächlich in hegemonialen Medien sehr häufig vorzufindenden rassistischen Bildern von „Banden“ oder „Integrationsverweigerern“ mit anderen Repräsentationen zu begegnen. So sollten Muslim/innen in gesellschaftlich hoch angesehenen Berufen häufiger dargestellt werden. Zwar erweitern solche Beispiele die Repräsentationsformen und können somit den rassistischen Stereotypen entgegenwirken. Zugleich können sie aber ebenfalls als sichtbaren Beweis für die Leistungsideologie dienen, die verspricht: Wer sich genügend anstrengt, kann es zu etwas bringen. Eine solche Perspektive erschwert damit die Thematisierung struktureller Diskriminierung.
Thematisierung von Klassenverhältnissen[3]
Wir plädieren daher dafür, nicht bei einer Analyse und Kritik rassistischer Repräsentationen stehen zu bleiben. Hier hilft Stuart Hall weiter, der betonte, dass Rassismus Menschen ins Verhältnis zueinander setzt und dadurch den Zugang zu ökonomischen und symbolischen Ressourcen reguliert (Hall 2000: 7). Den gegenwärtigen Antimuslimischen Rassismus im Zusammenhang mit Debatten um „Integration“ und „Islam“ zu thematisieren, bedeutet entsprechend, die realen sozioökonomischen Verhältnisse zu betrachten, in denen sich viele Muslim/innen sowie Migrant/innen und deren Nachfahren befinden.
Die Datenlage über Muslim/innen in der Bundesrepublik hinsichtlich der Berufstätigkeit und der sozialen Stellung ist mangelhaft − und politisch fragwürdig. Es gibt schlicht keine verlässlichen Zahlen, da die Religionszugehörigkeit lediglich durch Steuer- und Meldebehörden erfasst wird, damit die Kirchensteuer erhoben werden kann.[4] Weil deshalb auch offizielle Zahlen stark voneinander abweichen, lässt sich z.B. nur vermuten, wie viele Muslim/innen in Deutschland leben. Die durch die Deutsche Islam Konferenz in Auftrag gegebene Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ (MLD) geht von 3,8 bis 4,3 Millionen Muslim/innen in Deutschland aus, was in etwa 5 Prozent der Bevölkerung entspricht (Haug/Müssig/Stichs 2009: 321). Allerdings gaben im Zensus 2011 lediglich 1,9 Prozent an, Muslim/innen zu sein.
Riem Spielhaus appelliert, nicht allzu schnell die Kategorie „Muslim“ zu bedienen (ebd.: 15). Dass Muslim/innen überhaupt zunehmend zum Gegenstand statistischer Erhebungsversuche werden, lässt sich mit der beschriebenen gestiegenen Problemwahrnehmung erklären. „Muslime gelten als die problematischen Migranten, über die wir offensichtlich reden und schreiben müssen, die wir erforschen und nicht zuletzt integrieren müssen.“ (Spielhaus 2013: 5) Auch weil die Kategorie im Rahmen des virulenten Antimuslimischen Rassismus verwendet wird, kann sie suggerieren, es handele sich um eine zusammengehörige Gruppe. „Es sollte daher klargestellt werden, dass Menschen muslimischen Hintergrunds nicht per se religiöse, politische oder andere Einstellungen teilen. Die auch unter Muslimen starken sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Unterschiede verdienen es, häufiger beachtet zu werden.“ (Ebd.)
Um genau diese Unterschiede aus einer klassenanalytischen Perspektive zu beleuchten, fehlt es aber an belastbaren Daten. Aus der MLD-Studie lässt sich daher nur wenig ablesen: Anhand überschneidender Ergebnisse anderer Studie kann zumindest bestimmt werden, dass der Anteil der Arbeiter/innen unter Migrant/innen, insbesondere unter türkeistämmigen Männern, signifikant höher ist als der bei Erwerbstätigen ohne Migrationshintergrund (Haug/Müssig/Stichs 2009: 229). Zugleich geht der Anteil von muslimischen Migrant/innen in Beamtenberufen gegen Null, während der Anteil von Selbständigen ausgesprochen hoch ist. Allerdings ist diese Kategorie für eine klassenanalytische Interpretation zu unbestimmt, da unter „Selbständige“ sowohl Ärzte und Anwälte als auch Gastronomen und Gemüsehändler gefasst werden (ebd.: 230).
Aufgrund der mangelnden Datenlage und der fragwürdigen politischen Implikation der Kategorie „Muslim“ bietet es sich an, Daten heranzuziehen, die Rückschlüsse auf die Klassenlage von Migrant/innen bzw. „Menschen mit Migrationshintergrund“ im Allgemeinen zulassen. Hier finden sich verlässliche Zahlen. Laut Datenreport 2011 sind „Deutsche mit Migrationshintergrund“ etwa doppelt so häufig von sozialen Risiken wie fehlender schulischer und beruflicher Qualifikation, Arbeitslosigkeit, Erwerbstätigkeit in prestigearmen Berufen sowie von niedrigem Einkommen und einem höheren Armutsrisiko betroffen wie Deutsche ohne Migrationshintergrund. Nicht-deutsche Staatsbürger sind sogar viermal so oft betroffen (Statistisches Bundesamt/Wissenschaftszentrum Berlin 2011: 190). Außerdem verfügen „Menschen mit Migrationshintergrund“ über ein durchschnittlich niedrigeres Nettoarbeitseinkommen, was laut Datenreport daran liegt, dass sie sich „im unteren Bereich der Berufshierarchie [befinden]“ (ebd.: 197).
Um den geringeren sozialen Status und die schlechtere Stellung im Beruf vieler Migrant/innen und Muslim/innen sowie den Zusammenhang von Migration und Kapitalismus zu verstehen, ist es sinnvoll, sich die Einwanderungsgeschichte in die Bundesrepublik seit den 1950er Jahren zu vergegenwärtigen
Die in Westdeutschland ab den 1950er Jahren angeworbenen Arbeitskräfte aus Südeuropa und der Türkei waren insgesamt politisch und gesellschaftlich ausgegrenzt sowie im Beruf ökonomisch schlechter gestellt und unsicherer beschäftigt als ihre deutschen Kolleg/innen. Es bildete sich eine Unterklasse[5] heraus, die im Wesentlichen die Funktion einer nützlichen industriellen Reservearmee einnahm, die je nach konjunktureller Schwankung eingesetzt werden konnte. Zugleich wurde mit dieser neuen Unterklasse auf den Druck der einheimischen Arbeiter/innen reagiert. Mitte der 1950er Jahre waren Gewerkschaften stark, was dazu führte, dass Arbeiter/innen nicht länger bereit waren, in Zeiten des Wachstums und des Wirtschaftswunders zu niedrigen Löhnen zu arbeiten. Die Bourgeoise suchte nach Möglichkeiten, um den höheren Löhnen zu begegnen, und setzte auf eine regulierte Arbeitsmigration. Der Effekt davon war zugleich, dass der „Klassenkompromiss“ zwischen der Bourgeoise und den führenden Fraktionen der Arbeiterklasse (weißes, männliches Industrieproletariat) in der Bundesrepublik gestärkt wurde. In den 1950er bis 1970er Jahren stiegen die Löhne an, Tarifverträge wurden durchgesetzt, die „die arbeitsrechtliche und soziale Absicherung für deutsche Arbeiter und den Aufstieg innerhalb der betrieblichen Arbeitsteilung sicher stellten“ (Türkmen 2010: 214).
Es zeigt sich, dass die Einwanderungsgeschichte der „Gastarbeiter“ eine Geschichte der rassistischen Segmentierung des Arbeitsmarktes ist. Der Zusammenhang zwischen Migration und Arbeit kann insofern als rassistisch bezeichnet werden, „als bei der Vergabe von Papieren, beim Zugang zu Ressourcen und beim Verfügen über kulturelles Kapital die ganze Kette rassistischer Zuschreibung, Deklassierung und Unterwerfung zum Tragen kommt“ (Klingbein 2008: 54). Es sind rassistische Diskurse wie juristische, politische und ökonomische Praxen, die die migrantische Arbeitskraft formierten und über die Ausbeutung über dem gesellschaftlichen Schnitt legitimiert werden konnte. Rassismus legitimierte spezifische Formen kapitalistischer Ausbeutung, von der „Gastarbeiter“ betroffen waren.
Diese „Unterschichtung“ der Arbeiterklasse in den 1960er und 1970er Jahren wirkt bis heute auf die soziale Zusammensetzung der Klassen in der Einwanderungsgesellschaft Deutschland nach. Weil Deutschland entgegen dem offiziellen Selbstbild keine Leistungsgesellschaft im wörtlichen Sinne ist, bei der allein individuelle Leistung über Erfolg und Misserfolg entscheidet, sondern die soziale Herkunft maßgeblich für die soziale Stellung ist[6], finden sich die Nachfahren der „Gastarbeiter“-Generation überproportional in Arbeitslosigkeit oder schlechter bezahlten und prekären Berufen wieder.[7]
Der Zusammenhang von Migration und Kapitalismus liegt also im Wesentlichen im Einfluss von Migration auf die Zusammensetzung der Klassen. Antimuslimischer Rassismus blendet diesen Zusammenhang aus und hat somit die Funktion einer Kulturalisierung und Ethnisierung von Klassenverhältnissen.
Plädoyer für einen antikapitalistischen Antirassismus
Die aufgezeigten ideologischen Funktionen sind nicht für Antimuslimischen Rassismus exklusiv, sondern können in einer anderen politischen Konjunktur andere Objekte des Rassismus betreffen. Rassismus ist dynamisch und steht in einem Wechselverhältnis mit der Entwicklung des Kapitalismus und den Klassenverhältnissen. Das soll nicht heißen, dass wir einer funktionalistischen Rassismusanalyse das Wort sprechen. Rassismus wirkt zum Teil widersprüchlich, wenn etwa einerseits traditionelle biologistische oder kulturalistische Rassismen reaktiviert werden und andererseits von gleichen Sprechern Fachkräfte angeworben sowie „Musterbeispiele“ hervorgehoben werden.
Dennoch ist eine ständige Nachjustierung der Rassismusanalyse unter Berücksichtigung der kapitalistischen Entwicklung notwendig, will man die grundlegenden Veränderungen rassistischer Verhältnisse erfassen. Gelingt dies, ist es möglich, weder auf der Ebene moralischer Empörung noch auf der eines im Kern neoliberal argumentierenden Antirassismus stecken zu bleiben, sondern einen explizit antikapitalistischen Antirassismus in Stellung zu bringen.
Ein solcher antikapitalistischer Antirassismus hat nicht nur zum Ziel, die Ideologie des Rassismus zu entlarven, sondern untersucht zugleich den strukturellen Zusammenhang von Rassismus und Kapitalismus, indem etwa den Fragen nachgegangen wird, welche spezifischen Formen der Ausbeutung Migrant/innen betreffen[8], wie diese juristisch und politisch ermöglicht und legitimiert werden und welche Funktion mögliche gesellschaftliche Ausschlussmechanismen erfüllen.
Antikapitalistischer Antirassismus fragt darüber hinaus nach den gemeinsamen Orten des Widerstandes, an denen die Spaltungen entlang „ethnischer“ und „kultureller“ Grenzziehungen überwunden werden. Die vermehrten Streiks von Beschäftigten unterschiedlicher Herkunft und Religionen bieten hier Ansätze. So gelang es beim Streik beim Verpackungsunternehmen Neupack in Hamburg, diese Spaltungen im Arbeitskampf zu überwinden. Doch nicht nur in der Produktion existieren Orte des gemeinsamen Kampfes. Ein Beispiel dafür, wie Ausbeutung und Unterdrückung sowie der Zusammenhang von Rassismus und Klassenverhältnissen umfassend thematisiert werden kann, sind die Proteste gegen Mieterhöhungen am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Seit Mai 2012 tragen die Aktivist/innen mit ihrer sichtbaren Präsenz dazu bei, die Kritik an herrschenden Wohnverhältnissen, (antimuslimischen) Rassismus und Klassenverhältnissen medial und politisch zu verankern. Das „Gecekondu“ ist ein eindrückliches Beispiel für alltägliche Kämpfe, durch die rassistische Spaltungen unterlaufen werden.
Literatur
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Bertelsmann Stiftung / Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund / Institut für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Hg.) (2014): Chancenspiegel 2014. Regionale Disparitäten in der Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Schulsysteme. Zusammenfassung zentraler Befunde. Gütersloh.
Butterwegge, Christoph (2011): Zwischen neoliberaler Standortlogik und rechtspopulistischem Sarrazynismus. Die turbokapitalistische Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft in der Sinnkrise. In: Friedrich, Sebastian (Hg.): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“. Münster, 200-214.
Çetin, Zülfukar / Voß, Heinz-Jürgen / Wolter, Salih Alexander (2012): Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte“. Münster.
Dörre, Klaus (2015): Unterklassen. Plädoyer für die analytische Verwendung eines zwiespältigen Begriffs. In: APuZ 65 (10), 3-10.
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Friedrich, Sebastian / Schultes, Hannah (2013): Mediale Verbindungen − antimuslimische Effekte. Zu den gegenwärtigen Verschränkungen des Islamdiskurses. In: Journal für Psychologie 21 (1): Antimuslimischer Rassismus: Bilder, Szenarien, Politiken und Praktiken der Neuen Mitte, hg. von Klaus-Jürgen Bruder und Zülfukar Çetin. http://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/262/292 [27.4.15]
Friedrich, Sebastian / Zimmermann, Jens (2015): Empörung reicht nicht. Die Überausbeutung von Migrant_innen ist Kennzeichen eines rassistisch segmentierten Arbeitsmarkts. In: Analyse und Kritik Nr. 601. http://www.akweb.de/ak_s/ak601/27.htm [27.4.15]
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Harvey, David (2007): Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Zürich.
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Kelek, Necla (2010): Ein Befreiungsschlag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.8.
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Ruf, Werner (2014): Der Islam – Schrecken des Abendlandes. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert. Köln.
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[1] Im Zuge der „Dekolonisierung“ der Welt und nach den leidvollen Erfahrungen, die die faschistischen Regime in Europa mit sich brachten, sprach man sich von politischer Seite gegen den Rasse-Begriff aus. Im zweiten Artikel der „Erklärung über ‚Rassen’ und rassistische Vorurteile“ der UNESCO, die 1977 auf der 20. Generalkonferenz der UNESCO verabschiedet wurde, wird auf die wissenschaftliche Unbrauchbarkeit und inadäquate Analyse des „Rasse“-Begriffs hingewiesen. Damit wurde die Vorstellung der Existenz menschlicher „Rassen“ im internationalen Maßstab auf hoher politischer Ebene verworfen.
[2] Die konkrete Praxis der kapitalistischen Expansion steht nur selten zur Debatte. Dass verbündete Diktaturen wie Saudi-Arabien oder Katar von der Kritik meist ausgenommen werden, darf angesichts der geopolitischen Interessen nicht verwundern (Kuhn 2015).
[3] In diesem Absatz sind Überlegungen eingeflossen, die aus einem Diskussionsprozess mit Marika Pierdicca entstanden sind (Friedrich/Pierdicca 2014).
[4] „Das Verständnis der datenrechtlichen Selbstbestimmung in Bezug auf die eigene Religion ist eine Folge europäischer Religionskriege, des Holocaust sowie einer langwierigen Emanzipationsbewegung gegenüber religiösen Instanzen.“ (Spielhaus 2013: 3)
[5] Im Gegensatz zur hegemonialen Verwendung der Begriffe „Unterschicht“ und „Unterklasse“ nicht in einem moralisierenden, sondern in einem analytischen Sinne. (Dörre 2015)
[6] Studien weisen diesen Zusammenhang seit Jahren auf. So kommt beispielsweise der „Chancenspiegel 2014“ zu dem Ergebnis, dass es eine „ausgeprägte Abhängigkeit zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft“ gibt (Bertelsmann Stiftung u.a. 2014: 17).
[7] Erschwerend kommt hinzu, dass selbst bei gleicher Qualifikation rassistische Einstellungen von Arbeitgeber/innen sich negativ auswirken können, wie Testing-Studien belegen. (Kass/Manger 2010)
[8] Um die Spezifik analytisch greifen zu können, bietet sich der Begriff der „Überausbeutung“ an (Friedrich/Zimmermann 2015). Überausbeutung wird möglich durch rechtliche Konstruktionen (Staatsbürgerschaft, Leiharbeit, Werkverträge), rassistische Diskurse und Klassenkampf von oben. Überausbeutung macht es möglich, dass z.B. gegenwärtig vor allem Migrant/innen aus anderen EU-Staaten über Leiharbeit oder dem Dienstleistungsentsendegesetz juristisch-legal zu extrem niedrigen Löhnen angestellt werden. Dadurch wird eine intensivere Ausbeutung der Arbeitskraft durch Verringerung der Produktionskosten erreichet. Überausbeutung ist insofern eine ökonomische Kategorie als Teil kapitalistischer Aneignung von Mehrarbeit.