Bei manchen marxistischen Analysen wird das Recht nicht in seiner ganzen Komplexität und vor allem nicht in seinem dialektischen Zusammenhang mit politischen Strukturen gesehen. Zugleich wird die große praktische Bedeutung einer Analyse des Verhältnisses von Recht und Politik verkannt, weil die politische Bedeutung des Rechts selbst verkannt wird.
Nicht selten erschöpfen sich solche Analysen in einer Art pauschaler Ideologiekritik, die auf grundsätzliche Erkenntnisse der marxistischen Staatstheorie zurückgreift, aber im Ergebnis ohne jeden Bezug zur gesellschaftlichen und politischen Praxis bleibt.
Der Beitrag Ekkehard Lieberams in Z 101[1] richtet sich im Wesentlichen gegen die reformistischen Illusionen linker Politiker und macht diesen zum Vorwurf, den Klassencharakter des Staates zu verkennen. Diese übersähen, dass sie beim Marsch durch die staatlichen Institutionen in aller Regel nicht den Staat, sondern allenfalls sich selbst verändern würden (S. 169). Diese in ihrer Allgemeinheit sicher nicht falsche These führt bei Lieberam allerdings weder zu praktischen noch zu theoretischen Konsequenzen.
Anstatt der Frage nachzugehen, wo und wie und warum linke Politik gerade auch die Widersprüche zwischen Recht und Politik „in Bewegung setzen“ könnte, verharrt der Autor in einer schematischen Sicht des Rechts selbst. So schreibt er: „Gute Verfassungsnormen an sich bewirken noch gar nichts.“ (S. 173). Wer aber behauptet das? Selbst Juristen verfallen dieser Art von „juristischer Illusion“ (Friedrich Engels)[2] äußerst selten, denn seit Rudolf Jhering wissen sie um den gerade in der forensischen Praxis auszutragenden „Kampf ums Recht“.[3] Weder das Recht allgemein noch das individuelle Recht im Einzelfall wirken ohne den permanenten Prozess seiner Umsetzung. Man könnte auch sagen: Man muss das Recht wahrnehmen, um es zur Wirkung zu bringen. Genau dieser Prozess aber verbietet jede praxisferne Analyse.
Er verlangt vielmehr eine Betrachtung des Rechts selbst und seiner Handhabung in der politischen und gesellschaftlichen Praxis. Wer dieses unterlässt, kann keine praktischen Handlungsorientierungen geben. Lieberam meint: „Im Recht, besonders im Verfassungsrecht und Arbeitsrecht, finden die Klassenmachtverhältnisse … einen viel direkteren Ausdruck als im Staat.“ (S. 171)
Einen direkteren Ausdruck? Was heißt das konkret? Was ist mit „Klassenmachtverhältnissen“ gemeint? Ein Hinweis ergibt sich aus dem vorangegangenen Satz, dass das Recht der zum „Gesetz erhobene Wille“ der herrschenden Klasse sei. Doch Recht und Gesetz sind nicht dasselbe. Der äußerst komplizierte Zusammenhang von Rechtsprechung und staatlichem Gesetz wird nicht thematisiert So wäre – trotz Grundgesetzes – die westdeutsche Bundesrepublik und das vereinte Deutschland ein anderes Land ohne die Vielzahl der Korrekturen, die das Bundesverfassungsgericht an der herrschenden Politik im Laufe der letzten 60 Jahre vorgenommen hat. Andererseits ist das bundesdeutsche „Arbeitsrecht“ ohne die so genannte Rechtschöpfung des Bundesarbeitsgerichts undenkbar. Welche „Klassenmachtverhältnisse“ sollen sich im Arbeitsrecht aber „direkter“ widerspiegeln? Richtig ist, dass das Arbeitsrecht „an sich“ bereits im Widerspruch zum Kapitalinteresse entstanden ist. Unternehmer benötigen kein Arbeitsrecht. Sie kommen ganz gut mit dem klassischen Bürgerlichen Recht klar. Die ganze dem Arbeitsrecht immanente Dialektik besteht darin, vom konkreten Kräfteverhältnis beider Seiten abhängig zu sein, gleichzeitig aber auch dieses Kräfteverhältnis zu beeinflussen.
Was den Einfluss des Rechts auf die politische und gesellschaftliche Praxis der Akteure betrifft, so ist vor allem die seit Jahrzehnten bestehende und immer wieder „befeuerte“ Rechtsgläubigkeit der Bevölkerung zu nennen. Eine Rechtsgläubigkeit, die indirekt auch linke Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien stets neu reproduzieren und ausbauen. Welche Initiativen und Bewegungen sind nicht zugleich auch (oft ausschließlich) über „Rechtskanäle“ aktiv? Der Ruf nach Gerichten, nicht nur nach dem Bundesverfassungsgericht, ist allgegenwärtig. Vielfach wird Politik regelrecht ersetzt durch Gerichtsprozesse und Prozessstrategien. Gewerkschaften kämpfen gegen das Tarifeinheitsgesetz durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts. Betriebsräte haben Arbeitsrechtsfachleute fest in ihre Verhandlungsstrategien mit den Arbeitgebern eingebaut und sind bereits gewohnt zu fragen, was man darf, und nicht mehr, was man will.[4] Wie will man dem mit bloßer Ideologiekritik begegnen?
Das Groteske ist doch, dass hinter dem Rücken „reiner“ Ideologiekritik auch die Protagonisten einer solchen Kritik sich von Fall zu Fall in eigener Sache der „unpolitischen“ Strategie eines Anwaltes bemühen, ohne diese einer Ideologiekritik zu unterziehen. …
Dabei geht es gerade um das grundsätzliche Verhältnis von Recht, Rechtsprechung, forensischer Strategie und Politik und die praktische Frage, wie dieses Verhältnis auch die Rechtsdurchsetzung im Einzelfall beeinflusst.
Solange die Rechtskritik nur reine Ideologiekritik bleibt, verharrt sie im unpolitischen Raum. Sie muss die inneren Zusammenhänge von Recht, Gesetz und Politik erkennen und analysieren, um überhaupt Wirkung zu entfalten.
Deshalb hat der Autor dieser Zeilen schon an anderer Stelle gefordert, daß dem Phänomen der Verrechtlichung und des Einflusses juristischen Denkens auf politisches Handeln größere Bedeutung zuerkannt werden muß.[5] Reine ideologische Rechtskritik läuft nämlich Gefahr, im Rechtsnihilismus zu enden. Also in der Verneinung jeder eigenständigen und besonderen Rolle des Rechts in den Köpfen der Menschen wie auch in der politischen Praxis. Diese Art von Rechtsnihilismus ist im Ergebnis der Wirkungslosigkeit mancher „linker Politiker“ nicht unähnlich: In einem Land, in dem Rechtsgläubigkeit und Gesetzesgläubigkeit sehr hoch angesetzt sind und sogar politische Entscheidungen determinieren, ist jede Art von Rechtsnihilismus vielmehr kontraproduktiv und gefährlich. Sie ist im Ergebnis reaktionär. Man sollte bei der Beschreibung und Analyse eines Rechts immer auch an jene denken, die täglich dieses Recht wahrnehmen wollen. Eine Rechtsanalyse erfolgt nie im luftleeren Raum. Rechtsnihilismus kann deshalb verheerende Folgen haben, weil er jenen in die Hand spielt, die Recht brechen oder erst gar nicht anerkennen wollen.[6]
Abschließend sei an die Feststellung von Friedrich Engels in seinem Aufsatz „Juristensozialismus“ erinnert: „Jede kämpfende Klasse muss (!) … ihre Ansprüche in der Gestalt von Rechtsforderungen … formulieren.“[7]
Und im Verlaufe der wechselvollen Geschichte der Arbeiterbewegung flossen einige dieser Rechtsforderungen auch ins Recht ein. Das „reine“ bürgerliche Recht nahm ihm fremde Elemente auf.[8] Die Widersprüche, die zur Entstehung dieser Forderungen beitrugen, schienen und scheinen auch heute noch im Recht selbst auf. Dieses gilt es auch ganz praktisch, also forensisch und das heißt „hermeneutisch“, geltend zu machen. Denn der „tägliche“ scheinbar banale „Kampf ums Recht“ ist eine der wesentlichen Voraussetzungen dafür, daß auch „größere Kämpfe“ aufgenommen werden. Wer sich scheut, eigene individuelle Rechte wahrzunehmen, wird vermutlich auch kaum das Demonstrationsrecht oder gar das Streikrecht wahrnehmen wollen. Das aber ist die bittere Gegenwart: Menschen nehmen ihre Rechte nicht wahr angesichts aktueller „Klassenmachtverhältnisse“. Aber diese Verhältnisse bestehen außerhalb des Rechts meist viel deutlicher und „direkter“ als innerhalb des Rechts. Und das ist eine politische Chance, die auch Marxisten in ihrer Analyse nicht ungenutzt lassen sollten.
Rolf Geffken
[1] Ekkehard Lieberam, Zur marxistischen Sicht auf Staat, Politik, Recht und Verfassung, in: Z 101 (März 2015), S. 162-174.
[2] Friedrich Engels, Juristensozialismus, in: MEW Band 21, 5. Auflage 1975, S. 491 ff.
[3] Rudolf Jhering, Vortrag in der Wiener Juristischen Gesellschaft am 11.03.1872; zuletzt veröffentlicht als „Kampf ums Recht“ bei Trapeza 2012.
[4] Vgl. R. Geffken, Eine eingeschränkte Sicht auf gewerkschaftliches Bewusstsein und betriebliche Aktionsbereitschaft, in: Z 96, Dezember 2013, S. 171.
[5] Geffken, a. a. O., S. 176.
[6] Ders., Wider den Rechtsnihilismus, in: Ossietzky – Zweiwochenschrift für Politik – Kultur – Wirtschaft, Nr. 24, 2014, S. 839.
[7] Engels, a. a. O., S. 509.
[8] R. Geffken, Reines Recht als Unrecht – Zur Dialektik von Praxis und Recht, Hamburg 1984, S. 9 ff., 31 ff.