Bebels ambivalente Antikriegshaltung
Helmut Bley, Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904-1913. Eine Studie über Bebels Geheimkontakte mit der britischen Regierung und Edition der Dokumente. Mit einem Vorwort von Gustav W. Heinemann und einem aktuellen Vorwort des Verfassers zur zweiten Auflage. Übersetzung der Dokumente aus dem Englischen von Marlies Schleissner-Beer. Offizin-Verlag, Hannover, 2. erw. Auflage 2014, 300 S., 19,80 Euro
Die erste Auflage des Bandes erschien 1975. Für die zweite schrieb Bley ein umfangreiches Vorwort, in dem er die innenpolitischen Bedingungen im Vorfeld des Krieges, Bebels Positionen im Friedenskampf, das negative Rußlandbild der Sozialdemokratie und deren Resignation gegenüber dem Krieg noch einmal resümiert und eine kritische Stellungnahme zu der von Christopher Clark 2014 ausgelösten Debatte über die Entlastung des deutschen Imperialismus von der Verantwortung für die Auslösung des ersten Weltkrieges formuliert.
Der Band enthält zwei Teile, erstens Bleys Darstellung und Analyse der außenpolitischen Konzeption Bebels und seiner Verbindung zum Foreign Office über den britischen Honorarkonsul in Zürich, Heinrich Angst, zweitens die Berichte von Angst an das Foreign Office über seine Gespräche mit Bebel sowie die Korrespondenz von Angst mit Beamten des Foreign Office.
Der Kampf um die Verhinderung eines Krieges bildete einen wichtigen Strang in der Politik der Sozialdemokratie vor 1914 und von Bebel persönlich. Dieser erkannte im preußischen Militarismus und in dessen sozialem Träger, dem aus den Junkern rekrutierten Militäradel, den Hauptkriegstreiber und in dem durch die deutsche Hochrüstung zur See forcierten Gegensatz zu Großbritannien die Hauptgefahr für den Frieden. Bebel scheute sich nicht, neben seinem öffentlichen Wirken gegen den Krieg im Reichstag, auf Parteitagen der Sozialdemokratie oder in seinen Wahlreden auch durch geheime Berichte an das Britische Foreign Office zur Verminderung der Kriegsgefahr beizutragen. Über den ihm befreundeten britischen Honorarkonsul Angst in Zürich richtete er in den Jahren 1910 bis 1913 Warnungen vor der von der Marine-Rüstung und der kaiserlichen Kriegspolitik ausgehenden Kriegsgefahr an den britischen Außenminister Greyl. Bebel kritisierte die britische Regierung, daß sie die kaiserliche Marinerüstung so nahe an den eigenen Rüstungsstand habe herankommen lassen und forderte sie auf, vermittels eines außerordentlichen Rüstungskredits der britischen Seerüstung einen uneinholbaren Vorsprung zu verschaffen, da Deutschland finanziell beim Schlachtschiffbau nicht mithalten könne. Bebel informierte das Foreign Office zugleich, daß die deutsche Sozialdemokratie bei aller grundsätzlichen Kriegsgegnerschaft nicht in der Lage sein werde, einen Krieg zu verhindern. Bebel war durch seine Mitgliedschaft im Haushaltsausschuß des Reichstages über die finanziellen Zusammenhänge der deutschen Rüstung gut informiert. Die britische Regierung schätzte seine Berichte aber nicht nur wegen ihr möglicherweise nicht bekannter Staatsgeheimnisse, sondern vor allem wegen des Gewichts seiner politischen Stellungnahmen.
Bebel war ein entschiedener Gegner eines Krieges zwischen Deutschland und Großbritannien, war aber bereit, einen Krieg Deutschlands gegen Rußland zu unterstützen. Der Grund dafür war das Zarenreich als Hort der äußersten europäischen Reaktion, waren die Mordtaten der Zarenregierung an den Arbeitern in der Revolution von 1905 und Bebels Befürchtung, ein russischer Sieg würde der deutschen Sozialdemokratie alle Existenzmöglichkeiten nehmen.
Bleys Verdienst mit diesem Buch reicht über die Rekonstruktion von Bebels gespaltener und ambivalenter Antikriegshaltung hinaus. Der Herausgeber analysiert das außenpolitische Denken Bebels über Jahrzehnte und läßt sich von seiner Verehrung für dessen mutigen Antikriegskampf nicht davon abhalten, dessen außenpolitische Konzeption rückhaltlos kritisch zu analysieren. Bley benennt Momente sozialimperialistischer Vorstellungen und deutschen Großmachtdenkens, die in Bebels Denken seit 1906 wirksam waren. Er kritisiert, daß Bebel die Hegemonialstellung der deutschen Armee wegen der gefährdeten Mittellage Deutschlands zumindest als Faktum akzeptierte und bemängelt Bebels einseitige und undifferenzierte Situationsanalyse, die zu schweren Fehleinschätzungen des Charakters der deutschen Außenpolitik nach 1911 geführt hat. Faktisch stimmte Bebel in so wichtigen Fragen wie der Marokkokrise 1911, in der Verlangsamung der Flottenrüstung unter dem Druck der Heeresverstärkung und der Abwälzung von deren Kosten auf direkte Steuern mit der Regierung Bethmann Hollweg überein. Bley erklärt auf der Basis der Dokumente, „daß Bebel im Frühjahr 1913 nicht nur die Finanzierung der Heeresvorlage mitgetragen hat, sondern auch die deutschen Aufmarschpläne – einschließlich der wahrscheinlichen Verletzung der belgischen Neutralität – geduldet hat und mit ihm die übrigen Mitglieder der Fraktionsführung“. (121)
Bebel wollte sich in der Frage der Landesverteidigung nicht gegen das „junge deutsche Nationalgefühl“ stellen müssen. „Sicherung der Mittellage und die Verteidigungsfähigkeit waren für Bebel deutsches Interesse, das er mit nationalstaatlicher Loyalität gegenüber anderen Großmachtinteressen abzusichern versuchte.“ (122) Und hier stellt Bley die Frage, ob der „starke Impuls zur Friedenssicherung“, der Bebels Berichte für den britischen Generalkonsul bestimmte, „nicht von dieser Loyalität durchbrochen worden ist“ und antwortet: „In den Gesprächen mit Angst kam es ihm darauf an, auf allgemeine Tendenzen hinzuweisen, um die britische Regierung zu ermuntern, durch ihr Verhalten erwünschte Tendenzen zu verstärken, gefährliche zu behindern. Dies ist sicherlich der eindeutigste Hinweis, daß jede politische oder juristische Verknüpfung mit dem Komplex Landesverrat gegenstandslos wird.“ (122) Das entscheidende Fehlurteil Bebels sieht er vielmehr in dessen Annahme, „daß das deutsche Herrschaftssystem so rational sei, daß es fähig wäre, auch internationale Machtverhältnisse, die die Expansionsmöglichkeit stark einschränkten, ohne Aggression hinzunehmen.“
Werner Röhr
Archive zur Geschichte der Arbeiterbewegung
Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, zwei Hefte/Jahr (März und September), je 64 S., 3 Euro/Heft. Red. Rainer Holze/Birgid Leske. Bezug: Förderkreis..., Finckensteinallee 63, 12205 Berlin. Internet: www.fabgab.de
Im „Zentralen Parteiarchiv“ der SED wurden in der DDR keineswegs nur Archivmaterialien der SED aufbewahrt. Das beim „Institut für Marxismus-Leninismus“ angesiedelte Archiv enthielt darüber hinaus eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten, die bis zu den Anfängen der Arbeiterbewegung zurückreichten: Unterlagen zur Geschichte der SPD und der KPD, einen großen Marx-Engels-Bestand (Originale und Kopien), etwa 270 Nachlässe von Funktionären der Arbeiterbewegung sowie Materialsammlungen zu Ereignissen wie dem Kapp-Putsch oder dem Reichstagsbrandprozess, eine umfangreiche Dokumentensammlung zu Personen des antifaschistischen Widerstands u.a.m. Dazu gehörte eine der größten sozial- und politikwissenschaftlichen Bibliotheken auf deutschem Boden mit an die 800.000 bibliographischen Einheiten. Für die beim IML angesiedelte Herausgabe der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) stellte dieser Fundus aus Archiv und Bibliothek ein wichtiges Arbeitsmittel dar.
Nach 1990 blieb zunächst unklar, was mit diesem Archivbestand des inzwischen umorganisierten und in „Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung“ umbenannten (und zeitweilig völlig willkürlich von der Polizei besetzten und durchsuchten) Instituts geschehen würde. Es gab u.a. die Idee, die Bibliothek in eine größere Stiftung einzubringen. Seit 1990 liefen hierüber Verhandlungen zwischen Friedrich-Ebert-Stiftung und PDS, bei denen die FES sich aber schließlich desinteressiert zeigte. Die Sache wurde auch im Bundestag verhandelt. Der die o.g. Schriftenreihe herausgebende „Förderkreis“ entstand 1991 in diesen Auseinandersetzungen um die Zukunft des Archivs. Durch einen Vertrag zwischen PDS und BRD vom Ende 1992 gelangten die Bestände des ZPA dann in die im Vorjahr gegründete „Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv“ (SAPMO). Damit wurden das Zusammenbleiben der Bestände, deren archivarische Betreuung und öffentlicher Zugang gesichert.1 In die SAPMO sind eine ganze Reihe weiterer Archivbestände aus der DDR eingebracht worden.
Der Förderverein, der sich über diese Auseinandersetzung um das ZPA hinaus für den geschlossenen Erhalt von entsprechenden Archiven und Bibliotheken und für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung einsetzt, gibt mit seinen halbjährlichen „Mitteilungen“ ein instruktives Material heraus. Das betrifft zum einen regelmäßige Übersichten über Archive (37. Folge in H. 46, September 2014, mit Informationen zu Mitteilungsblättern, Findbüchern, Bestandsübersichten usw.; im gleichen Heft berichtet G. Benser über die Erschließungsarbeiten in der SAPMO). Das gilt auch für Archive in der alten Bundesrepublik. Andreas Diers und Rudolf Steffens berichten z.B. (H. 47, März 2015) über die im Bremer Staatsarchiv verfügbaren Aktenbestände über den 1852/53 im Zusammenhang mit dem „Kölner Kommunistenprozess“ in Bremen verfolgten „Todtenbund“: Nach Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern der Bremer Arbeitervereine und an die hundert Verhaftungen wurden der Zigarrenmacher Nicolaus Heinrich Kolby und 81 weitere Mitangeklagte 1853 wegen „Verbrechens wider den Staat und Übertretung des Vereinverbots“ mit bis zu 7 Jahren Haft verurteilt. Es geht in den Berichten der „Mitteilungen“ also nicht nur um trockene Archivbestandbeschreibungen, sondern auch um „die Sache selbst“. Entsprechende Informationen betreffen auch ausländische Archive, so in den Heften 46 und 47 das Archiv des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und dort befindliche Akten zum „Oltener Aktionskommitee“, das 1918 einen landesweiten Arbeiterkongress und einen Generalstreik initiierte, der militärisch unterdrückt wurde, aber zur Einführung der 48-h-Woche führte. In den letzten Ausgaben der „Mitteilungen“ finden sich zahlreiche Materialien und Beiträge zur Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung zum 1. Weltkrieg und zur Rolle der Linken während des Krieges, so u.a. ein Beitrag von Annelies Laschitza „Rosa Luxemburgs Warnung vor einem Weltkrieg seit 1900“ (H. 46). Die „Mitteilungen“ berichten regelmäßig über Tagungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, z.B. über die „Linzer Konferenzen“ der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen (ITH). Dazu kommen Vorstellungen zu Promotionsprojekten, Berichte von den Vortragsveranstaltungen des Förderkreises (H. 46 z.B. Manfred Wilke über „Die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik“, H. 47 Matthias Judt über die Wirtschaftsaktivitäten des „Bereich Kommerzielle Koordinierung“) sowie Buchbesprechungen zu deutschsprachigen Neuerscheinungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Darüber hinaus veröffentlicht der „Förderkreis“ in unregelmäßiger Folge Sonderpublikationen. Hervorzuheben ist z.B. ein Sonderheft „Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932“ (2012) mit Beiträgen von Reiner Zilkenat und Henryk Skrzypczak, sowie ein Sammelband mit biographischen Porträts von etwa 60 „Archivaren, Bibliothekaren und Sammlern der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung“2. Wir hatten in Z 93 (März 2013) Engels’ Entwurf des „Kommunistischen Glaubensbekenntnisses“ von 1847 abgedruckt, dessen handschriftliche Fassung aus dem Archiv der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek 1969 erstmals Bert Andréas veröffentlicht hatte. In dem genannten Sammelband kann man erfahren, wer Bert Andréas war, der schon in den 1930er Jahren mit Archivstudien in Hamburg begonnen hatte, in seiner Exilzeit als Kommunist u.a. in Brasilien tätig war, später für die Feltrinelli-Stiftung arbeitete, als erster Leiter von Archiv und Bibliothek des späteren IML vorgeschlagen (aber nicht genommen) wurde, später in Genf lebte und zahlreiche Dokumente wie die „Gründungsdokumente des Bundes der Kommunisten“ herausgab (Hamburg 1969).
Wer kontinuierlich über die Aktivitäten des „Förderkreises“ und seine „Mitteilungen“ informiert sein will, sollte die website www.fabgab.de konsultieren, die alle notwendigen Informationen enthält.
André Leisewitz
Linke Opposition in der KPD
Marcel Bois, Kommunisten gegen Hitler und Stalin. Die linke Opposition der KPD in der Weimarer Republik, Klartext-Verlag Essen 2014, 613 Seiten, 39,95 Euro
Mit seinem im November 2014 erschienen Buch hat der Hamburger Historiker Marcel Bois eine in mehrerlei Hinsicht bemerkenswerte Arbeit vorgelegt.
Zunächst ist es ihm gelungen, auf knapp 600 Seiten die Entstehungsgeschichte, das Selbstverständnis sowie das praktische Wirken des deutschen Linkskommunismus während der Weimarer Republik nachvollziehbar und lebendig aufzuzeigen. Die besondere Schwierigkeit bei der Bewältigung dieses Forschungsgegenstandes lag zweifellos zum einen in dem Anspruch, eine dermaßen breite Thematik in ihrer ganzen Komplexität darstellen zu wollen, zumal schon die Herausarbeitung der politischen Gemeinsamkeiten zwischen den dieser Bewegung zuzuordnenden zahlreichen Strömungen Probleme aufwirft. Demgemäß konnte der Verfasser diesbezüglich für den gesamten untersuchten Zeitraum, jeweils auf den kleinsten Nenner gebracht, nur zu folgender fundierter Aussage gelangen: Gemeinsam war der linken Opposition in den ersten Jahren ihrer Existenz ihre kritische Haltung gegenüber Parlamentarismus und freien Gewerkschaften sowie die Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie, später dann vor allem die entschiedene Gegnerschaft zur Stalinisierung der KPD (in Verbindung mit der fundamentalen Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und Entwicklungen in der UdSSR im Sinne der Warnung vor einer Degeneration des sozialistischen Experimentes).
Erschwerend kam für Bois außerdem hinzu, dass er bei der Bewältigung seiner Thematik auf nur wenige komplexe Werke – zumeist in Gestalt von Dissertations-, Magister- oder Staatsexamensarbeiten – zurückgreifen konnte. Speziell während der letzten Jahre entstanden lediglich einige kürzere Regionalstudien zum Betrachtungsgegenstand, u. a. zur trotzkistischen Opposition in Leipzig ab 1924.
Dass dieser insgesamt dürftige Forschungsstand, der einem unterschiedlich motivierten Desinteresse seitens des Wissenschaftsbetriebes sowohl der DDR als auch der „alten“ BRD geschuldet war, der tatsächlichen Bedeutung des Themas in keiner Weise gerecht wurde, belegt Bois mit seiner Arbeit eindrucksvoll. Insbesondere wird dies deutlich am überzeugenden Nachweis, dass die linkskommunistische Dissidenz – verglichen mit den ebenfalls als Opposition etablierten „Rechten“ (später KPO) und den „Versöhnlern“ – trotz deren stärkerer politischer Homogenität sowohl intellektuell als auch von ihrer (zeitweiligen) Massenbasis und ihrer Aktivität her es am ehesten vermocht hätte, die verhängnisvolle Umwandlung der „Mutterpartei“ von einer einst selbstbestimmten, lebendigen und durch ein hohes Maß an innerparteilicher Demokratie gekennzeichneten Kampforganisation der deutschen Werktätigen schrittweise in einen monolithischen, weitgehend bürokratischen Organismus unter dem Diktat der inzwischen von der KPdSU-Führung dominierten Kommunistischen Internationale zu verhindern: Sie hatte zeitweilig zehntausende Anhänger, entfaltete mit der Herausgabe von ca. 20 Periodika (Zeitungen und Zeitschriften) eine äußerst lebhafte publizistische Öffentlichkeitsarbeit und konnte zahlreiche prominente Persönlichkeiten zu ihrer Anhängerschaft zählen.
Trotz dieser Pfunde verloren die KPD-Linken nach jahrelangem zähem Ringen schließlich den Kampf um die Partei. Dafür gab es eine ganze Anzahl von Gründen, die teilweise außerhalb der Oppositionsbewegung lagen (hier wäre vor allem das äußerst restriktive und gleichzeitig sehr geschickte Vorgehen der inzwischen fest auf Kominternkurs und „Bolschewisierung“ befindlichen KPD-Führung unter Ernst Thälmann gegen die linken Abweichler anzuführen), in nicht geringem Maße aber auch „hausgemacht“ waren. Zu letzteren zählte beispielsweise die extreme organisatorische und zum Teil auch inhaltliche Zersplitterung (1927 Existenz von ungefähr 10 Gruppen!), die infolge der jahrelangen Ausdifferenzierung in der Partei stattgefunden hatte und den Linken einen erheblichen Teil ihrer potentiellen Schlagkraft nahm. Weiterhin war die linke Parteiopposition keineswegs frei von politischen Irrtümern und Fehlern; ihre teilweise ultralinken Positionen führten beispielsweise auch zu falschen Lageeinschätzungen (wie etwa im Falle einer 1927 ausgemachten „revolutionären Situation“) oder zu groben Schnitzern in der praktischen Politik (zum Beispiel strikte Ablehnung von Einheitsfront-Aktionen mit der SPD im Zusammenhang mit der Kampagne um die Fürstenenteignung). Hinzu kam, dass viele der Arbeiterbewegung verbundene bzw. nahe stehende Menschen, unabhängig von ihrem politischen Organisationsstatus, nicht vergessen hatten, dass zahlreiche nunmehr in der Linksopposition Etablierte zu Anfang der 1920er Jahre selbst an der Entdemokratisierung der KPD mitgewirkt hatten, so dass deren Glaubhaftigkeit nun für viele infrage stand.
Dank einer ungleich verbesserten Quellenzugänglichkeit als noch vor 20 Jahren sowie aufgrund der Existenz einiger hochkarätiger Materialsammlungen (z. B. Trotzki-Nachlass in den USA) konnte Marcel Bois aus dem Vollen schöpfen, was der Faktenreichtum seines Werkes hinreichend belegt.
Mit der vom Verfasser gewählten und wohlbegründeten Darstellungsmethodik (Primat des politikgeschichtlichen Ansatzes mit ergänzender sozialgeschichtlicher Betrachtungsweise) war er in der Lage, die Entstehung bzw. Bedingtheit seines Forschungsobjektes richtig widerzuspiegeln, gleichzeitig aber auch aufzuzeigen, wer die sozialen Träger der Linksopposition waren, weshalb die verschiedenen Dissidenzgruppen über ganz bestimmte Hochburgen verfügten usw. Ausführlich werden die damals wichtigsten in und außerhalb der KPD existierenden Gruppen / Organisationen bezüglich ihrer theoretischen Grundpositionen, ihres praktischen politischen Agierens sowie ihrer führenden Persönlichkeiten vorgestellt und damit einhergehend die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede herausgearbeitet. Besonders hervorhebenswert sind hier die vom Verfasser gewonnenen Erkenntnisse zur „Weddinger Opposition“, einer in der Vergangenheit trotz ihrer Wirksamkeit forschungsseitig sehr stiefmütterlich behandelten Gruppe. Zahlreiche Übersichten, Statistiken und Begriffserklärungen unterstützen beispielhaft das Gesamtverständnis der inhaltlich anspruchsvollen, aber sprachlich-stilistisch sehr gut aufbereiteten Thematik. Somit ist die Lektüre dieser Arbeit keinesfalls nur beruflich einschlägig mit der Thematik „Befassten“, sondern unbedingt auch politikgeschichtlich interessierten Laien zu empfehlen.
Bertram Seidel
Faschismusforschung
Werner Röhr, Faschismusforschung im Spiegel der Kritik, Aurora Verlag, Berlin 2014, 432 S., 24,99 Euro
Der vorliegende Band dokumentiert die Ausnahmestellung von Werner Röhr als Faschismusforscher und zeigt eine Breite der analytischen Durchdringung des Gegenstands, wie es sie auf marxistischer Seite sonst in der Bundesrepublik nicht mehr gibt. Schmerzlich bewusst wird bei der Lektüre die große Lücke, die die Abwicklung marxistisch orientierter Historiographie hinterlässt, völlig unabhängig davon, ob alle Wertungen des Autors geteilt werden.
Werner Röhr arbeitete als Historiker bis zu deren Auflösung 1991 an der Akademie der Wissenschaft der DDR und wurde, selbstverständlich möchte man fast sagen, niemals an eine Universität des vereinigten Deutschland berufen. Der ungeheure inhaltliche Niveauverlust dieser ideologischen Abwicklungspolitik wird auch daran deutlich, dass Röhr ohne Zweifel bis heute zu den besten Kennern der internationalen Faschismusforschung und – jenseits der finanziellen Möglichkeiten universitärer Forschung – zu den produktivsten Faschismusforschern in Deutschland gehört. Neben zahlreichen Monographien, u.a. zur Okkupationspolitik des faschistischen Deutschland, gab Röhr zwischen 1993 und 2008 das „Bulletin zur Faschismus- und Weltkriegsforschung“ heraus. Neben der Faschismusforschung hat Röhr sich intensiv mit Stärken und Schwächen der DDR-Historiographie befasst und damit dazu beigetragen, dem bewussten Verschweigen dieses Teils deutscher Wissenschaftsgeschichte einen Kontrapunkt entgegenzusetzen (vgl. die Rezensionen in Z 92 und 96).
Mehr als 40 teils zentrale teils spezielle Werken der Faschismusforschung, die Werner Röhr in den letzten 30 Jahren für verschiedene Zeitschriften – u.a. auch „Z“ – rezensiert hat, werden in dem Band versammelt. Gegliedert ist der Band in zwei Teile: „Die Anatomie des Faschismus“ und „Deutsche Okkupationsherrschaft“, die wiederum mehrere Unterkapitel umfassen. So versammelt der erste, umfassendere Teil Rezensionen zu zentralen Werken der Faschismusdeutung generell und speziell in Deutschland, der Rüstungs- und Kriegswirtschaft, den „Orten des Terrors“, der Kritik der Naziideologie und den Themen Widerstand und Judenmord. Im zweiten Teil werden Arbeiten zur deutschen Okkupationspolitik in der Tschechoslowakei, Polen, der UdSSR so wie der „Neuordnung“ Europas und schließlich zum Niedergang des Faschismus in den Blick genommen.
Die hier versammelten Kritiken von Röhr umfassen kurze Darstellungen der vorgestellten Werke auf wenigen Seiten bis hin zu 30 Seiten langen intensiven Auseinandersetzungen mit häufig viele tausend Seiten umfassenden Reihen und zentralen Arbeiten der jüngeren Faschismusforschung. Immer handelt es sich jedoch um eine analytische und produktive Auseinandersetzung mit den besprochenen Arbeiten, unabhängig davon, ob Röhr in ihnen wissenschaftliche Fortschritte ausmachen kann oder sie der Apologie des Gegenstands zurechnet. Der Bewertungsmaßstab einer marxistisch orientierten, politökonomisch fundierten, komparatistisch arbeitenden Faschismusforschung wird immer offen benannt, so dass die Maßstäbe von Kritik und Urteil für die Leser und Leserinnen deutlich sind. Röhr spart nie mit deutlicher Kritik und Wertung – „Rezensionen mit Biß“, wie er in der Einleitung schreibt – ohne dabei den Erkenntnisgewinn auch der Arbeiten zu unterschlagen, denen er analytisch das falsche Rüstzeug vorwirft.
Der Band bietet die Möglichkeit, sich einen Überblick zu zentralen Arbeiten unterschiedlicher thematischer Stränge der Faschismusforschung zu verschaffen. So werden im ersten Kapitel die entscheidenden Arbeiten einer in Deutschland leider randständigen faschismustheoretischen Forschung, wie sie von Stanley Payne, Robert O. Paxton, Roger Griffin oder Wolfgang Schieder vorgelegt wurden, ausführlich vorgestellt. Röhr bietet dabei immer einen breiten Überblick über den behandelten Gegenstand, das methodische Vorgehen der Autoren und häufig eine Einordnung des Werks in die wissenschaftliche Diskussion. Dies gelingt nur dank der souveränen Durchdringung und des Überblicks des Verf., mit denen die besprochenen Arbeiten in einen wissenschaftlichen Gesamtkontext eingeordnet werden. Und es bedarf häufig auch des Platzes, mehrbändige Werke in ihren Hauptthesen würdigen und ihre möglichen methodischen oder interpretatorischen Stärken und Schwächen bewerten zu können. So gewinnt der Leser dieser ausführlichen Rezensionen einen Überblick über knapp 3.000 Seiten von Richard J. Evans drei Bänden „Das Dritte Reich“, über sechs Bände der von Wolfgang Benz und Barbara Diestel herausgegebenen Reihe „Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“, über sieben Bände zur „Nationalsozialistischen Besatzungspolitik in Europa 1939-1945“ (Hrg. Wolfgang Benz, Johannes Houwink ten Cart und Gerhard Otto) oder über die knapp 6.000 Seiten der Bände 7-10 der vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“.
Aber auch zentrale Monographien werden ausführlich und differenziert besprochen, so Adem Toozes „Ökonomie der Zerstörung“, Christopher Brownings „Die Entfesselung der ‚Endlösung‘“, Aufsätze zum Faschismus von Kurt Gossweiler oder der Band von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker zur NSDAP.
Daneben findet sich eine Reihe von Werken, die sicherlich nur einem Fachpublikum bekannt sein dürften, deren Bedeutung für die Forschung Röhr jedoch auch dem Nichtspezialisten verdeutlicht.
Insgesamt bietet der Band einen Überblick zu 30 Jahren Faschismusforschung im Spiegel der Kritik. Er erschließt ganze Forschungsgebiete für den interessierten Leser und lädt zum Abgleich mit eigenen Lektüreerinnerungen an zentrale Werke ein. Dabei zeigt der Band, welch reichhaltige und verzweigte Forschung die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Faschismus immer noch hervorbringt, die nur von wenigen Spezialisten zu überblicken ist. Die Lotsenfunktion, die Werner Röhr durch dieses Dickicht übernimmt, verstärkt die Neugier, einige Pfade neu oder wieder zu erkunden.
Gerd Wiegel
Perestroika – Katastroika?
Valentin Falin, Konflikte im Kreml. Der Untergang der Sowjetunion, edition berolina, Berlin 2014, 317 Seiten, 9,99 Euro; Nikolai Ryschkow, Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2013, 286 Seiten, 16,99 Euro; Jegor Ligatschow, Wer verriet die Sowjetunion? Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2012, 320 Seiten, 12,99 Euro.
Auf der geschlossenen Sitzung des Vereinigten Komitees der NATO-Stabschefs am 25. Oktober 1995 führte US-Präsident Bill Clinton den Zerfall der UdSSR und den zeitgleichen Untergang des Staatssozialismus im sowjetischen Einflussbereich auf die „Richtigkeit des von uns eingeschlagenen Kurses zur Beseitigung einer der stärksten Weltmächte und eines sehr starken Militärblocks“ zurück. „Durch Ausnutzung von Fehlern der sowjetischen Diplomatie, der außerordentlichen Selbstgefälligkeit von Gorbatschow und seiner Umgebung, darunter auch jene, die offen eine proamerikanische Position eingenommen haben, haben wir erreicht, was Präsident Harry S. Truman mit der Sowjetunion mittels der Atombombe vorhatte.“ (Zit. bei Ryschkow, S. 261f.) Ursachen und Triebkräfte dieser Weltenwende sind nicht unerklärlich, aber bis heute umstritten und längst nicht vollständig aufgeklärt. Der letzte sowjetische Führer Michael Gorbatschow (*1931) – samt engster Mitstreiter wie Eduard Schewardnadse, Alexander N. Jakowlew, Georgi Arbatow, Anatoli Tschernajew – und der zum Antikommunisten mutierte Boris Jelzin (1931-2007), erster Präsident Russlands, vermitteln in ihren interessengeleiteten und rechtfertigenden schriftlichen Nachlässen lediglich begrenzte Erkenntnisse darüber, da sie – unbeabsichtigt oder wissentlich – diese Entwicklung in den Jahren 1985-1991 vorangetrieben und letztlich zu verantworten haben. Im Nachhinein sahen sich beide Politiker jedenfalls als die „Helden“ der Geschichte, die den Kommunismus und das Weltimperium zur Strecke gebracht hätten. Die persönlichen Rückblicke und kritischen Analysen politischer Akteure der zweiten oder dritten Reihe der sowjetischen Nomenklatura, die als politische Gegenspieler oder kritische Analytiker und Berater Gorbatschows auf die Entwicklung der einstigen Supermacht Einfluss nahmen, bieten hingegen tiefergehende Einsichten in die damaligen Vorgänge.
Das trifft vor allem für den Historiker, Diplomaten, Deutschlandexperten und ZK Mitglied 1986-1991 Valentin Falin (*1926) zu. Er führt den Kollaps der Sowjetunion nicht auf die Reformunfähigkeit des sowjetischen Systems, sondern auf die Inkompetenz ihres letzten Führers zurück, der sich in seiner Funktion als Generalsekretär der KPdSU (1985-1991) und Staatspräsident (1988-1991) „nicht um ein Jota von einem autoritärem Herrscher unterschied.“ Nach Stalin, dem Antipoden der Demokratie, variierte die persönliche Allmacht der Sowjetführer je nach besonderem Charakter dessen, der sie besaß. Bis hin zu Michael Gorbatschow habe sich nichts am autoritären Wesen des Regimes verändert: „Im Vergleich zu Stalin und Chruschtschow gewann dieser äußerlich sogar noch mehr Macht hinzu, da beide Ersten legal niemals als Staatsoberhaupt agiert hatten.“ Sein Herrschaftssystem verlor jedoch bald seine tragfähige Konstruktion. Als sich der Partei- und Staatsführer mit dem Parteiaktiv, dem Parlament und den separatistischen Republikführern anlegte, nutzten ihn diese als nützliches Instrument ihrer eigenen Ziele und machten ihn überflüssig. Gestützt auf eine Reihe Geheimdokumente informiert Falin über die programmatischen Debatten und den versuchten, aber nie zustande gekommenen Umbau des sowjetischen Staatssozialismus in einen demokratischen Sozialismus ohne Entfremdung von Macht und Eigentum, wie sie Kriegskommunismus und Stalinismus hervorgebracht hatten. Falin entwickelte in Fortführung der NÖP-Erfahrungen Mechanismen der erweiterten wirtschaftlichen Reproduktion und einer sozialistischen Marktwirtschaft, wie sie seit den 60er Jahren versucht wurden. Hätte man den Generalsekretär überzeugen können – so Falin – den herangereiften wirtschaftlichen Aufgaben alles andere unterzuordnen, wäre das Schicksal der Sowjetunion anders verlaufen. Überhaupt sei für Gorbatschow die fehlende Übereinstimmung von Wort und Tat, von Wollen und Können kennzeichnend gewesen. So in Fragen einer sozialistischen Demokratisierung oder der Offenlegung von Staatsgeheimnissen aus der stalinschen Herrschaft wie die deutsch-sowjetischen Geheimverträge 1939 oder Katyn 1940. Die im Buch vorgelegten vier Dokumente zur Deutschlandfrage vermitteln eine Vorstellung davon, welche Alternativen zu deren Lösung bestanden, ohne die legitimen Interessen der UdSSR und ihrer Verbündeten aufzugeben.
Das Buch von Nikolai Ryschkow (*1929) ist mehr als nur eine Anklageschrift gegen Gorbatschow, es gibt gleichfalls tiefere Einblicke in Ursachen, treibende innere und äußere Kräfte, die zum Untergang des Staatssozialismus und der sowjetischen Supermacht führten. Der Sohn eines Bergarbeiter aus dem Donbass stieg vom studierten Techniker bis zum Leiter des sozialistischen Konzerns „Uralmasch“ auf, habilitierte in den ökonomischen Wissenschaften, war ZK-Sekretär für Wirtschaft und schließlich 1985-1990 Ministerpräsiden der UdSSR. Dass er im höchsten Zirkel der Macht von den rechten Neoliberalen als „konservativer Bremser“ abgestempelt wurde, ist darauf zurückzuführen, dass er das staatssozialistische System auf seinen eigenen Grundlagen reformieren, also erneuern wollte. Das gelang ihm nicht. Denn sein Chef samt seiner Entourage wollte eine Erneuerung des staatssozialistischen Sowjetsystems auf der Grundlage sog. allgemeinmenschlicher Werte, die ihrem Wesen nach lediglich das nordamerikanisch-westeuropäische kapitalistische Gesellschaftsmodell ausdrücken. Die Perestroika brachte aber keine sozialistische Erneuerung, sondern eine Revision des Sozialismus. Sie endete damit, dass das große eurasische Land samt seiner osteuropäischen Einflusssphäre in den Schoß der vermeintlichen Weltzivilisation zurückfiel. Nachdem sich die sowjetische Führung bei den Verhandlungen auf Malta im Dezember 1989 den USA ausgeliefert hatte, war besonders verhängnisvoll, dass sowohl der Kremlführer wie auch sein erbitterter Kontrahent, der Präsident des Kerngebietes der Supermacht, Jelzin, nur noch auf ihre westlichen „Freunde“ als Hauptverbündete setzten. So geriet die Perestroika – im Unterschied zu den Reformversuchen Nikita Chruschtschows – in den Sog des Neoliberalismus, der diese westliche „Weltzivilisation“ voll erfasst hatte. Der Autor kennzeichnet die Zerstörung des eurasischen Vielvölkerstaates als Putsch Jelzins und als Jahrhundertkatastrophe seines Landes. Den meisten Lesern wird kaum noch in Erinnerung sein, dass Ryschkow zu den Initiatoren eines Beschlusses gehörte, der die Entscheidung Jelzins vom 8. Dezember 1991 über die Auflösung der UdSSR rückgängig machte und der von der Duma am 15. März 1998 mit 56 Prozent der Abgeordneten angenommen wurde. Aber das russische Parlament hatte schon damals faktisch keine Macht. Der Autor stellt die berechtigte Frage: Was wäre aus der Sowjetunion geworden, wenn Jelzin im Ural geblieben und Gorbatschow nicht an die Spitze der KPdSU gelangt wäre?
Der aus einer Bauernfamilie kommende Flugzeugingenieur Jegor Ligatschow (*1920), der zwischen 1959-1983 als Parteichef die Erschließung und Entwicklung der sibirischen Gebiete Nowosibirsk und Tomsk wesentlich voranbrachte, kam erst unter Juri Andropow (1914-1984) in den Inner Circle des Kreml, gehörte als ZK-Sekretär zu den Befürwortern der Wahl Gorbatschows und war anfangs dessen zweiter Mann. Er hatte in der eigenen politischen Praxis erlebt, dass die Amtszeit Breschnews zwar keine Stagnationsperiode war, das Riesenland aber vor grundlegend neuen Herausforderungen stand. Er gehörte zu den Reformkräften, die entschieden den Erhalt sozialistischer Wirtschaftsstrukturen und die Einheit des Unionstaates wollten. Dadurch geriet er nicht nur in Konflikt mit Gorbatschow, sondern auch mit dem „radikal-demokratischen“ Flügel (Jelzin, Anatoli Sobtschak, Gawrill Popow), der einen neoliberalen Wirtschaftsumbau anstrebte, national-separatistische Entwicklungen des Vielvölkerstaates der UdSSR unterstützte und weitgehend die Medien beherrschte. Als einer der politischen Hauptakteure jener Zeit analysierte und bekämpfte er die verhängnisvollen Tendenzen, die zum Auseinanderfallen der UdSSR führten. Für das sich links und demokratisch gebärdende rechtsliberale Lager wurde der damals zweite Mann im Machtgefüge als konservativer Gegner der Perestroika mittels ihrer Dominanz im Medienbereich diskriminiert. Sehr differenziert setzt sich der Autor mit den Erfordernissen, Ergebnissen, aber auch den Fehlern des damals versuchten Kampfes gegen Alkoholismus auseinander. In einem Kapitel des Buches analysiert er die heraufziehende Katastrophe globalen Charakters – die demografische Krise und die Alkoholisierung der Gesellschaft. Er weist nach, dass in dieser komplexen und langfristigen gesellschaftlichen Aktion in nur wenigen Jahren Erfolge erreicht wurden. Er verweist aber auch auf Fehlentscheidungen wie reine Verbotspolitik und planlosen Aktionismus. Partei- und Staatschef Gorbatschow versuchte vergeblich, die beiden politischen Richtungen in Partei und Gesellschaft zusammenhalten, beschnitt aber seit 1988 die Macht Ligatschows in der Parteiführung und schickte ihn zwei Jahre später in Pension. Der Autor setzt sich mit seinem wichtigsten Gegenspieler Jakowlew in der Partei, der grauen Eminenz Gorbatschows, auseinander. Das Buch vermittelt eine ausgewogene Sicht über die anfänglichen Erfolge der Perestroika, bis sie um 1988 in die Katastrophe umkippte.
Karl-Heinz Gräfe
Ukraine: Geopolitik und Geschichte
Mathias Bröckers, Paul Schreyer, Wir sind die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren. Westend-Verlag, Frankfurt/Main 2014, 207 S., 16,99 Euro. Reinhard Lauterbach, Bürgerkrieg in der Ukraine. Geschichte, Hintergründe, Beteiligte. edition berolina, Berlin 2014, 157 S., 9,99 Euro. Jörg Kronauer, „Ukraine über alles!“. Ein Expansionsprojekt des Westens. Mit einem historischen Überblick von Erich Später. Konkret texte 66, KVV konkret, Hamburg 2014, 215 S., 19,80 Euro
Der bekennende Ex-68er Reinhard Mohr zeigte sich in der FAZ (13.2.2015) tief besorgt um die Deutungshoheit des Westens im ‚Informationskrieg um die Ukraine’: „Es sind goldene Zeiten für Verschwörungstheoretiker. Während in den Meinungsschlachten der siebziger Jahre zumindest die Fakten anerkannt wurden, regiert in den heutigen Debatten über Abendland und Ukraine der Zweifel.“ Ein bedeutender Teil der deutschen Bevölkerung war bis dahin nicht zu überzeugen, dass der ‚freie Westen’ im Ukraine-Konflikt richtig handele. Offenbar gebe es nach einer Ära der ‚Entspannungspolitik’ von Willy Brandt bis Helmut Kohl aus fehl geleiteter Sorge um den Frieden in Europa und die deutschen Beziehungen zu Russland zu viele ‚Putinversteher’.
Das diffamierende Etikett des Putinverstehers heften sich die Autoren Mathias Bröckers und Paul Schreyer[1] offensiv an die Brust. Ihr Ende Juli 2014 fertig gestelltes Buch ‚Wir sind die Guten’ schaffte es immerhin auf die Bestsellerliste des Spiegel und hält sich dort.
Bröckers und Schreyer weigern sich, den Ukraine-Konflikt als „Schwarzweißfilm mit eindeutiger Rollenverteilung in Gute (USA, EU und Nato) und Böse (Putin und Russland) zu sehen (16).“ Dass „Putin ein Waisenknabe, sein Regierungsstil der eines ‚lupenreinen Demokraten’ (…) und Russland ein freiheitlicher Rechtsstaat ohne Fehl und Tadel sei“, glauben auch sie nicht (17). Ihr Credo lautet: „In diesem Krieg geht es nicht um Freiheit oder Menschenrechte, sondern um Macht- und Stellungskriege auf dem geopolitischen Schachbrett. Und wie im verfrüht beendet geglaubten Kalten Krieg wird in seiner Neuauflage der Kampf wieder mit Stellvertretern geführt – in diesem Fall mit der ohnehin schon gespaltenen und streitenden Bevölkerung der Ukraine (24).“ Das Buch bietet einen eher knappen und teils oberflächlich recherchierten Überblick zur Geschichte der Ukraine. Seine starken Seiten sind jedoch historische[2] und aktuelle[3] Analysen zur Geostrategie der USA (nicht nur) in diesem Raum, die gut dokumentiert sind.
Zur Hochform laufen die Autoren auf, wenn sie transatlantische Elite- und Lobbynetzwerke von Politik und Journalismus (z.B. den Atlantic Council) und ihre Rolle in der Ukraine-Krise unter die Lupe nehmen. Wie deren ‚Deutungen’ sich in der einseitigen Berichterstattung und einem ‚Kampagne-Journalismus’ zum Ukraine-Konflikt in den deutschen (und westlichen) Leitmedien niederschlagen, wird an verschiedenen Beispielen kritisch auseinander genommen. Aufklären zur Geopolitik ‚Westen vs. Russland’ und zur Meinungsmache der Medien im Ukraine-Konflikt – dies ist dem Autorenduo aus meiner Sicht sehr gut gelungen.
Reinhard Lauterbachs ‚Bürgerkrieg in der Ukraine’ teilt wohl im Großen und Ganzen die diesbezüglichen Analysen von Bröckers und Schreyer[4]
Mit einem guten Gespür für historisch langfristige Entwicklungen zeichnet Lauterbach die Entwicklung des heutigen Gebiets der Ukraine als ‚Grenzland’ zwischen es dominierenden Mächten nach – z.B. vom ‚Niemandsland’ der Kosaken im 16. und 17. Jahrhundert, der Beherrschung durch das zaristische Russland, Polen und Österreich-Ungarn bis zum Ersten und Polen und der Sowjetunion bis zum Zweiten Weltkrieg.
Er thematisiert die ukrainisch-nationalistische Bewegung im 19. Jahrhundert, die anfangs nur von bürgerlichen Intellektuellen und Honoratioren getragen wurde und im zur österreichischen Monarchie gehörenden Galizien Unterstützung fand. Zwischen der Februar- und der Oktoberrevolution 1917 in Russland wurde von bürgerlichen und sich zeitgemäß als sozialdemokratisch gebenden Kräften in Kiew eine ‚Ukrainische Volksrepublik’ proklamiert. Diese wurde schon 1918 von deutschen Truppen gestürzt und durch ein autoritär-nationalistisches Marionettenregime des ukrainischen Großgrundbesitzers Pavlo Skoropadskyj abgelöst. Diese Versuche zur ukrainischen Staatsgründung scheiterten schnell – sie verloren gegen die Bolschewiki im Osten und gegen die 1918 gegründete Zweite Polnische Republik unter Josef Pilsudski im Westen.
Der von der Abwehr des Deutschen Reichs finanzierte Flügel des ukrainischen Nationalismus überlebte politisch und ging in den Untergrund (‚Ukrainische Militärorganisation’ UVO des ehemaligen k.u.k.-Offiziers Jevhen Konovalec). Er richtete sich gegen Polen, Russen und Juden und radikalisierte sich in den 1930er Jahren in Richtung Faschismus (Stepan Banderas OUN u.a.). Wie zuvor konnte er in der Ostukraine übrigens nicht Fuß fassen.
Lauterbach schildert die Rolle der OUN in der Zwischenkriegszeit, ihre Rolle als Helfer der Nazis, ihre eigenständigen Massaker an Juden und Polen und ihre Mordkampagne gegen ‚ukrainische Verräter’ im Gefolge von Hitlers ‚Operation Barbarossa’ gegen die Sowjetunion 1941 wie auch beim Rückzug der Wehrmacht aus dem Osten. Das Schicksal der erstmals 1918 proklamierten ukrainischen Sowjetrepublik, ihrer Abspaltung von der UdSSR 1991 und der Entwicklung der ‚unabhängigen Ukraine’ bis 2013 analysiert Lauterbach mit Blick auf die inneren Machtverhältnisse im sog. ‚realen Sozialismus’, warum und wie sie sich änderten.
Der ukrainische Staat wurde nach der Unabhängigkeit zur Beute regional verankerter Oligarchen-Clans, die ihn in wechselnden Bündnissen stets nur zur Selbstbereicherung benutzten. Dies leitete den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang des Landes ein – schlimmer als unter der von US-Beratern konzipierten ‚Schocktherapie’ in Russland unter Boris Jelzin. Die historische Konstante als ‚Grenzland’ blieb weiterhin bestimmend für das Geschehen in der Region: ‚Schaukelpolitik’ zwischen Russland und dem Westen (EU und USA) zum Vorteil der jeweiligen ukrainischen Elite-Interessen – selbst unter dem als ‚Russland-Freund’ geltenden Präsidenten Viktor Janukowitsch.
Kritisch analysiert und beschreibt er den Euromaidan 2013/14, den Staatsstreich gegen diesen (ebenfalls korrupten) Präsidenten, die Geostrategien von USA, EU und Russland im Ukraine-Konflikt[5], den Bürgerkrieg und die ‚Separatisten’ im Donbass. Lauterbachs im Oktober 2014 abgeschlossenes Buch nimmt so die innere gesellschaftliche Dynamik der Ukraine und die sie prägenden Akteure in den Fokus. Er entschlüsselt das aktuelle Geschehen mit Bezug auf die Geschichte der Region in verständlicher Weise – kurz und knapp, nüchtern und präzise.
Jörg Kronauers[6] Buch ‚Ukraine über alles!’ seziert sowohl die Geopolitik als auch die innere Entwicklung der Ukraine mit kühlem, realistischem Blick – in Vielem detailreicher als die oben besprochenen Bücher. Sehr aufschlussreich ist der historische Überblick seines Ko-Autors Erich Später[7]. Er befasst sich u.a. mit der Situation der jüdischen Bevölkerung im zaristischen Russland, den Pogromen vor dem Ersten Weltkrieg und danach, der Politik der Bolschewiki zur ‚ukrainischen Frage’, dem Terror der OUN, ihrer Unterstützung der Vernichtungspolitik der Nazis im Holocaust, mit der deutschen Besatzungspolitik auf der Krim im Zweiten Weltkrieg, dem Terror Stalins und wie die faschistischen ukrainischen Nationalisten um Stepan Bandera und die Angehörigen der ehemaligen ‚SS-Division Galizien’ nach dem Zweiten Weltkrieg als ‚Kämpfer für Freiheit und Demokratie’ gegen das ‚sowjetische Völkergefängnis’ von CIA und BND in Dienst genommen wurden. Seine kompakte und wissenschaftlich belegte Darstellung gehört mit zum Besten, was ich über diese Geschichte bisher gelesen habe.
Kronauer widerspricht der These der westlichen Leitmedien, die extreme Rechte (z.B. Svoboda, Rechter Sektor usw.) spiele in der Ukraine eine zwar problematische, aber eher marginale Rolle. Er zeichnet nach, wie die pro-westliche ‚Orangene Revolution’ unter Viktor Juschtschenko und der ‚Gasprinzessin’ Julia Timoschenko bei ihren Massendemonstrationen 2004/2005 diese Kräfte als ‚Security’ einsetzten (77-107), wie Juschtschenko als ukrainischer Präsident den Bandera-Mythos förderte, wie die extreme Rechte den ‚Sieg des Euromaidan’ 2013/14 leitete und organisierte (129-159). Wie diese rechten Kräfte danach Schlüsselpositionen im Sicherheits- und Militärapparat des neuen Regimes unter Arsenij Jazenjuk und bis heute erhielten, Kommandeure aus ihren Reihen auf die Listen aller pro-westlichen ukrainischen ‚Parteien’ aufgenommen und ihr aus der Bandera-Tradition stammender Schlachtruf „Ukraine über alles! Heil unseren Helden!“ in die staatliche Bürgerkriegspropaganda (die Rebellen im Donbass wurden u.a. von Jazenjuk als ‚Untermenschen’ und ‚Verräter an der ukrainischen Nation’ gebrandmarkt) aufgenommen wurde (181-212). Rechtsextreme Parteien wie Svoboda erlitten bei der Wahl im November 2014 zwar Rückschläge – ihre nationalistische Ideologie wird von den neuen Machthabern in der Ukraine zur Mobilisierung für den Bürgerkrieg genutzt.
Wie im Fall der Ukraine über westliche Stiftungsnetzwerke von George Soros’ ‚Renaissance Foundation’ bis zur Konrad-Adenauer-Stifung[8], von USA und EU geförderte NGO’s (z.B. das ‚National Endowment for Democracy’ NED), staatlichen Organisationen wie US-AID und westlichen Botschaften nach dem Muster der ‚Farben-Revolutionen’ Einfluss genommen wurde, wird in diesem Buch detailreich und gut belegt.
Kronauer betont eine eigenständige Strategie Deutschlands (11-21; 107-129) als dominanter Kraft der EU, die auch im Konflikt mit den USA und anderen ‚EU-Partnern’ stehe. „Wer Kiew hat, kann Russland zwingen“ – so schon 1916 der Mitarbeiter des Auswärtigen Amts Paul Rohrbach. In diesem Geiste erfolgte nach seiner Deutung die schnelle Anerkennung der unabhängigen Ukraine durch Deutschland 1991 – während die ‚internationale Gemeinschaft’ damals zögerlicher war. Da ist was dran.
Den Waffenstillstand unter ‚Minsk II’ mag man als Versuch der deutschen Regierung deuten, ‚die Realitäten anzuerkennen’ (d.h. die zweifache Niederlage der ukrainischen Armee im Bürgerkrieg mit dem Donbass) und einen offenen Krieg des Westens gegen Russland zu vermeiden. Sie ist bestrebt, die Situation offen zu halten (sei es für einen ‚Regime-Change’ in Russland oder eine Verständigung mit Putin), so dass die ‚deutsche Wirtschaft’ künftig ihr ‚Ostgeschäft’ wieder ausbauen und US-Konzerne dabei auf Abstand halten kann. Ob die Durchsetzungskraft des ‚Deutschen Europa’ dafür reicht, sei mal dahin gestellt. Schließlich hat der US-Kongress mit den Stimmen der Republikaner und vieler Demokraten eine massive ‚Waffenhilfe’ der USA für die Ukraine gefordert. Die Schützengräben für eine erneute Eskalation des Konflikts sind längst ausgehoben.
Klaus Dräger
Aufholen ohne einzuholen
Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 431 S., 26,95 EURO.
Mit der neuen Ordnung ist der Neoliberalismus gemeint. Ther geht es dabei zunächst einmal und überwiegend um dessen Einzug in Osteuropa nach den Revolutionen, die 1989/91 den Realsozialismus, der dort nach 1917 bzw. 1945 an die Stelle der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung getreten war, wieder abschafften. Die Transformation der Wirtschaft in den Staaten Osteuropas begeisterte Anhänger der neoliberalen Lehre wie die Havard-Professoren Kenneth A. Froot und Jeffrey D. Sachs wie auch Olivier Jean Blanchard vom Massachusetts Institute of Technology. Sahen sie doch, dass die neue Lehre, die Anfang der 80er Jahre mit Thachterismus und Reagonomics in Großbritannien und den USA gesiegt und mit Helmut Kohls neoliberaler Wende auch auf dem europäischen Festland Fuß gefasst hatte, ihren Siegeszug auch in das östliche Europa trug, wo die sozialistischen Planwirtschaften eine nach dem anderen innerhalb kurzer Zeit aufgaben. Sachs Begeisterung ging so weit, dass er in der Sowjetunion und Polen als wirtschaftspolitischer Berater seinen unmittelbaren Beitrag zur Beschleunigung der Transformation leistete. Die drei Ökonomieprofessoren gaben 1994 ein zweibändiges Kompendium „The Transition in Eastern Europe“ heraus. Ein anderer Mittelpunkt der osteuropäischen Transformationsforschung entstand um den stellvertretenden Generalsekretär des „Zentrums für Kooperation mit dem Transformationsökonomien“ in Paris, um den italienischen Wirtschaftswissenschaftler Salvatore Zecchini. Er veröffentlichte 1997 mit „Lessons from the Economic Transition. Central and Eastern Europe in the 1990s“ ein Werk, in dem mehr als 60 Ökonomen auf 600 Seiten die Phänomene der Transformation in Osteuropa beschrieben.
Das vom Wiener Wirtschaftsprofessors Philipp Ther verfasste Buch kommt mit seinen etwas über 400 Seiten demgegenüber bescheidener daher. Anspruch und Inhalt der in 10 Kapiteln gegliederten Publikation ist aber nicht nur denen der Wirtschaftsprofessoren von Havard, MIT und OECD gleich, sondern geht in mancherlei Hinsicht über sie hinaus. Erstens schon deshalb, weil der von Ther zugrunde gelegte Zeitrahmen natürlich ein anderer ist – und sein kann. Er verfolgt die Entwicklung in Osteuropa von 1989/91 bis zur Ukraine-Krise 2014. Die von ihm zu beschreibenden zweieinhalb Jahrzehnte machen für Ther eine Periodisierung und für die behandelten Länder auch eine gewisse Gruppierung möglich. Da beides für Osteuropa bisher kaum vorgenommen wurde, sei Ther dazu an einer Stelle zitiert, die auch seine bei Ökonomen nicht oft anzutreffende – bei aller Präzision der Aussage – bildhafte Darstellung dokumentiert. „Der Neoliberalismus war wie ein funkelnder Expresszug, der Wachstum und Wohlstand versprach. Alle Staaten … wollten ab einem bestimmten Zeitpunkt auf diesen Zug aufspringen, keiner konnte sich seinem Sog entziehen. Außerdem schien es so, als würde nach dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West nur noch dieser Zug eine Reise in die Zukunft anbieten. Als erste Passagiere stiegen Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und in gewisser Hinsicht die DDR zu. Den Reisenden wurde gelegentlich übel von der Fahrtgeschwindigkeit und den Reformrezepturen, die sie einnehmen mussten, aber Mitte der neunziger Jahre ging es ihnen schon etwas besser. Die Schaffner und die Ober im Speisewagen (die internationalen Wirtschaftsorganisationen) riefen erfreut und laut: Seht, die Schocktherapie hat gewirkt! Es lässt sich darüber streiten, ob dem so war, aber die Wachstumskurven, die Foreign Direct Investments und andere Kennwerte (die neoliberale Ordnung beruht nicht zuletzt auf ihrer Fixiertheit auf Zahlen) zeigten nach oben. Deshalb wollten auch jene Länder mitfahren, die den Zug zuvor aus verschiedenen Gründen (späterer Zeitpunkt der Revolution oder der Unabhängigkeit, Machterhalt der Postkommunisten) verpasst hatten. Einige dieser Passagiere, konkret die baltischen Staaten, die Slowakei, etwas später Rumänien und Bulgarien, versuchten die Vorreiter dadurch einzuholen, dass sie zu noch radikaleren Reformen griffen“ und dadurch in Osteuropa eine zweite Wellte des Neoliberalismus einleiteten. (S. 348)
Bei aller von Ther betonten einheitlichen Zielstellung der Transformation unterscheidet er doch vier Varianten: eine neoliberale Ordnung mit sozialer Abfederung (die Visegrádstaaten), eindeutig neoliberale Regime (Baltikum, Rumänien und Bulgarien), das neokorporatistische Modell in Slowenien und die oligarchisch-neoliberalen Systeme in der Russischen Föderation, Weißrusslands und der Ukraine.
Sehr sachlich und mit Statistiken und Graphiken unterlegt beschreibt Ther dann, wie diese europaweite Wachstumsphase durch die weltweite Finanz-, Budget- und Wirtschaftskrise 2009-2011 ein Ende fand. Die osteuropäischen Regierungen reagierten unterschiedlich: Deutschland (für die NBL), Polen und die Slowakei antworteten mit einer Steigerung der staatlichen Abgaben und versuchten die Folgen der Rezession abzumildern. Die baltischen Staaten, Rumänien und Bulgarien hingegen griffen zu harten Sparmaßnahmen. Die Folge der Abwälzung der Krise auf die Bevölkerung waren eine stark steigende Arbeitslosigkeit, „eine massenhafte Verarmung der Bevölkerung“ und Bevölkerungsverluste, „die an die Substanz gingen.“ Als eine dritte Reaktionsart beschreibt Ther das „Durchwursteln ohne klaren Kurs“ und bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Tschechien, Slowenien und die Ukraine.
Zweitens zeichnet sich Thers Publikation gegenüber früheren Versuchen, die Transformation in Osteuropa zu erfassen, dadurch aus, dass er sich keineswegs auf die Ökonomie beschränkt, nicht nur die sozialen Begleiterscheinungen der Transformation, ihre Auswirkungen auf Beschäftigung und Qualifikationsentwicklung ausweist sondern auch die psychologischen Auswirkungen des Aufholens bzw. fortgesetzten Zurückbleiben von Wirtschaft und Wohlstand gegenüber dem Westen und deren Folgen benennt wie z.B. die sich infolge der Krise dramatisch zuspitzende demographische Auszehrung, die vor allem in Lettland, aber auch in Litauen und Rumänien um sich griff. Für die Veranschaulichung der sozialen und alltagskulturellen Folgen der wirtschaftlichen Transformation erweist sich das 6. Buchkapitel „Ostmitteleuropäische Metropolen im Vergleich“ als besonders aussagekräftig.
Drittens – und das ist wohl der bemerkenswerteste Versuch Thers, gegenüber den früheren Darstellungen der neoliberalen Transformation in Europa Neuland zu betreten – behandelt der Wiener Wirtschaftsprofessor Osteuropa nicht isoliert, sondern in Zusammenhang mit dem kapitalistisch gebliebenen und in den 80er Jahren neoliberal gewordenen Westeuropa. Den Aufholprozessen der osteuropäischen Staaten widmet er besondere Aufmerksamkeit und wartet dabei mit bisher wenig beachteten makroökonomischen Vergleichsdaten auf, die ein kontinuierliches Aufholen der osteuropäischen Staaten nach Überwindung der ersten Transformationskrise für die Jahre zwischen 1996 und 2008 zeigen, ebenso aber die seit Beginn der weltweiten Wirtschaftskrise andauernden Stagnation und den teilweise sogar zu verzeichnenden Rückgang bei der Annäherung an den EU-Durchschnitt, gemessen am Bruttoinlandprodukt pro Kopf bzw. „BIP pro Kopf im Kraufkraftstandard“. Ther wagt sich in Kapitel 9 sogar so weit, die Rückwirkungen des Sieges des Neoliberalismus in Osteuropa auf die westeuropäischen Staaten anzusprechen, ein Moment, dass er als Kotransformation bezeichnet. In ihm wirft er die Frage auf, „ob und wie der Verlauf und die Resultate der Reformen im Osten im Westen und insbesondere in Deutschland rezipiert und diskutiert wurden“. So erörtert er, ob und wieweit die unter dem Begriff „Hartz IV“ bekannten Sozial- und Arbeitsmarktreformen von Bundeskanzler Gerhard Schröder in den Jahren 2001-2005 Vorbilder in der Politik der polnischen, ungarischen und tschechischen Sozialdemokraten zwischen 1993 und 1998 hatten. Der krisenhaften Entwicklung in den südeuropäischen Staaten widmet Ther ein ganzes (8.) Kapitel, unter der bezeichnenden Überschrift „Der Süden als neuer Osten“. Auch den Einfluss postkommunistischer Staaten auf den Diskurs über die „Zivilgesellschaft“ spricht Ther in diesem Zusammenhang an, ebenso wie die Rolle ostdeutscher Politiker in der Berliner Republik. Besonders anschaulich werden von Ther die Auswirkungen der osteuropäischen Entwicklung nach 1989/90 auf den Westen am Beispiel der sozialen und kulturellen Entwicklung der Metropolen Wien und (Ost- wie West-) Berlin nachgezeichnet.
Die verallgemeinerungswürdigen theoretisch-methodischen Schlussfolgerungen, die der Leser aus Thers hervorragend recherchierten und gut, bisweilen sogar vergnüglich zu lesendem Band ziehen kann, finden sich, diese kritische Bemerkung sei erlaubt, in den jeweiligen Kapiteln und damit doch etwas verstreut. Nur einige seien hier genannt: So hält Ther „ältere Vorstellungen, wonach sich bestimmte Systeme ... mehr oder weniger unverändert von Land zu Land ... ausbreiten, für überholt“. Auch ist er auf Grund seiner Recherchen überzeugt, dass „der Neoliberalismus auf einen starken Staat angewiesen ist“. Ther kommt, insbesondere im Ergebnis seiner Untersuchungen zur „zweiten Welle des Neoliberalismus“ in Kapitel 5 zu dem Schluss: „Überall dort, wo in den neunziger Jahren im Gefolge der neoliberalen Transformation eine tiefe soziale Kluft entstanden ist, hat sich die Wirtschaft mittel- und langfristig weniger dynamisch entwickelt.“ „Offenbar“, begründet Ther diese Beobachtung, „sind breite Mittelschichten leistungsfähiger, weil ihre Angehörigen mehr Unternehmen gründen, mehr investieren und konsumieren als eine kleine Elite wie die postsowjetischen Oligarchen.“ Ther schätzt das, was er als „Transformation von unten“ bezeichnet, hoch ein und weiß, dass sich deren Erfolg auf gesellschaftliche Ressourcen gründet, die über einen längeren Zeitraum, d. h. auch schon vor dem Sturz der kommunistischen Regierungen 1989/90 entstanden waren, vor allem während der langen, zwei Jahrzehnte umfassenden Reformperiode in Ungarn und während des deutlichen Abbaus der Dominanz zentralstaatlichen Eigentums und des Hineinregierens in die Betriebe in Polen seit Beginn der Solidarnocz-Bewegung in den 1980er Jahren.
Ther stellt, bezogen auf die Transformationspolitik, auch die Frage, „ob man eine direkte kausale Verbindung zwischen bestimmten wirtschaftspolitischen Impulsen und ökonomischen Resultaten herstellen kann“ und meint, dass dies in manchen Bereichen möglich sei. Als Beispiel nennt er die erfolgreiche Bekämpfung der Inflation in Polen. Die von ihm herausgestellte „Transformation von unten“, der Boom des mittelständischen Unternehmertums, beruhe aber in erster Linie auf Voraussetzungen, die in den Ländern über einen längeren Zeitraum geschaffen worden seien. Ther stellt in diesem Zusammenhang die gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen und in der Ukraine, wie sie sich seit den 1980er Jahren entwickelt haben, als gegensätzlich heraus.
Insgesamt gesehen hat Ther ein Buch geschrieben, dass ein Muß für jeden Wissenschaftler darstellt, der sich für die Probleme Osteuropas während des letzten Vierteljahrhunderts interessiert.
Jörg Roesler
Proletarisches Leben in Frankreich
Aurélie Filippetti, Das Ende der Arbeiterklasse. Ein Familienroman, Frankfurt am Main 2014, S. Fischer (frz. Les derniers jours de la classe ouvrière, Paris 2003), 187 S., 18,99 Euro
Dass heutige KultusministerInnen Bücher schreiben, mag nichts Ungewöhnliches sein. Dass sie aber Bücher über die Arbeiterklasse, wenn auch über deren „letzte Tage“, schreiben, kann man sich zumindest für Deutschland nur schwer vorstellen. In Frankreich dagegen ist so etwas möglich, wie Aurélie Filippetti mit ihrem Buch beweist.
Die französische Ausgabe von 2003 erschien jetzt bei S. Fischer in einer guten, nur in einzelnen Punkten korrekturbedürftigen Übersetzung. Die Autorin, geboren 1973, war von 2012 bis 2014 Kulturministerin in den sozialistischen Regierungen Ayrault und Valls. Sie gehört zur Gruppe derjenigen sozialistischen Abgeordneten in der Nationalversammlung, zu den „Frondeuren“, die wie Benoît Hamon, Arnaud Montebourg und ein paar Dutzend Weiterer den wirtschaftsfreundlichen Kurs des Staatspräsidenten Hollande nicht länger mitragen wollen. Aurélie Filippetti stammt in dritter Generation aus einer italienischen Immigrantenfamilie, die wie viele andere seit Ende des 19. Jahrhunderts nach Frankreich kamen, um dort in den Erzminen und Kohlenzechen zu arbeiten. Die Geschichte ihrer eigenen Familie stellt das zentrale Thema ihres Buches dar. Aber es handelt sich nicht um einen Roman im üblichen Sinn (die Bezeichnung „Familienroman“ geht auf den deutschen Verlag zurück), sondern eher um eine literarisch frei gestaltete Montage und Rückblende auf Ereignisse und Menschen unterschiedlicher Generationen vor dem gebieterischen Hintergrund der alles dominierenden Arbeit in den lothringischen Erzminen.
Das Leben der Minenarbeiter und ihrer Familien ist exemplarischer Ausdruck kollektiver Erfahrung und Daseinsbewältigung der industriellen französischen Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert. Immer wieder beschreibt Filippetti anschaulich die auf dem Charakter der Arbeit unter Tage basierende Vergemeinschaftung der Betroffenen, die für Individualismus und vom Kollektiv abweichende Interessen keinen Platz hat, aber gleichzeitig dem Einzelnen einen unersetzbaren Schutz und sozialen Rückhalt bietet. Die bedingungslose Verlässlichkeit und Arbeitssolidarität der Kumpel „vor Ort“ bildet eine fast schon natürliche Grundlage für die Entstehung von Klassenbewusstsein, das sich fast ebenso natürlich in der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei (PCF) und der eng mit ihr verbundenen Gewerkschaft CGT manifestierte. Diese „condition de prolétaire“ der lothringischen Berg- und Stahlarbeiter, zwischen denen es allerdings durchaus Unterschiede der sozialen Lage und des Habitus gab (die Stahlarbeiter verdienten weniger, waren „individualistischer“ und weniger intrinsisch mit ihrer Arbeit verbunden), umfasste alle Dimensionen des Lebens: Familie, die Beziehungen zwischen den Generationen, Ehen, Freundschaften, das Politische, Krankheit und nicht zuletzt das Sterben. Der Tod war ein ständiger Begleiter der Minenarbeiter, die morgens beim Einfahren in den Schacht nie sicher wussten, ob sie am Abend wieder unversehrt aus ihm herauskommen.
Wo es Kommunisten gab – und in Audun-le-Tiche gab es viele – gehörte der Klassenkampf gegen die Minenbesitzer und ihre politischen Repräsentanten gleichsam zum täglich Brot. Es überrascht deshalb kaum, dass die Minen auch ein Hort des Widerstands gegen das faschistische Vichy-Regime und die deutschen Besatzer waren. Gemeinsam mit dreizehn anderen holte die Gestapo, willfährig unterstützt von den Zechenbaronen des de Wendel-Clans, Anfang 1944 den Großvater der Autorin aus dem Stollen. Im KZ Bergen-Belsen büßte er für seinen Widerstand mit dem Leben. Die Kontinuität des Klassenbewusstseins konnte aber dadurch in Audun-le-Tiche und anderswo nicht gebrochen werden. Filippettis Vater Angelo, auch er Kommunist, wurde Jahre später Bürgermeister des Städtchens.
In dem Maß, wie sich seit den sechziger Jahren die Krise des lothringischen Erzbergbaus verschärfte, trat die Verteidigung der Minen im Becken von Longwy in den Vordergrund. 1979 kam es zu militanten Aktionen der vom Verlust ihres Arbeitsplatzes bedrohten Minenarbeiter. Sie stürmten ein Polizeirevier, Schüsse fielen, zum Glück waren keine Toten zu beklagen. Der Klassenkampf hatte aber noch viele andere Facetten, so zum Beispiel immer wieder unternommene Versuche des Grubenmanagements, qualifizierte Arbeiter mit dem Versprechen höherer Löhne und beruflichen Aufstiegs auf die andere Seite der Barrikade des Klassengegensatzes zu locken. Im Falle erfolgreicher Abwerbung agierten diese Arbeiter dann im Interesse des Minen- und Stahlkapitals. Filippetti erwähnt einen Steiger, einen ehemaligen Kumpel, der die Angehörigen eines unter Tage Verunglückten aufsuchte, um sie zum Verzicht auf eine Klage vor Gericht zu veranlassen.
Das proletarische Milieu von Longwy und Audun-le-Tiche war nicht nur politisch durch die Zugehörigkeit zu PCF und CGT geprägt. Kommunist zu sein bedeutete auch eine bestimmte kulturelle Lebenswelt. Die Autorin schreibt, dass sich die Publikationen parteinaher Verlage in den Arbeitersiedlungen lebhafter Nachfrage erfreuten und die Vertreter dieser Verlage dort die Werke von Marx, Jaurès und dem kommunistischen Dichter Louis Aragon verkauften, von dem sie eine Strophe aus dem berühmten Gedicht „Die Rose und die Resede“ (1943) zitiert, das zu einem „Sinnbild“ der für ihre Befreiung vom Faschismus kämpfenden Arbeiterklasse wurde (78).
Wiederholt geht Aurélie Filippetti auf politische Probleme des PCF nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Dabei verfällt sie jedoch nicht selten in einen moralisierenden totalitarismustheoretischen Ton. Ungarn 1956, Prag 1968 und Afghanistan 1979 fungieren bei ihr bloß als Schlaglichter einer autoritären „Linie der Partei“, ohne dass die Kontexte und konkreten Bedingungen erörtert würden, die zu den genannten Ereignissen führten. Gelegentlich blendet sie auch den Text von Dokumenten ein. Besonders interessant ist hier eine längere Mitteilung des Zentralkomitees des PCF an die Parteiorganisationen der Departements von 1976, in der es um die Bewertung des Atomprogramms der damaligen Regierung geht. Diese Mitteilung beinhaltet einerseits eine grundsätzlich Bejahung der Atomenergie durch den PCF, namentlich der Entwicklung des mit Plutonium betriebenen Reaktortyps eines „Schnellen Brüters“, andererseits sucht sie die Lösung des Energieproblems in einer Verstaatlichung der Atomindustrie. Von einer umweltpolitischen Perspektive war die PCF also Mitte der siebziger Jahre noch weit entfernt, auch wenn die Mitteilung eine Verständigung mit lokalen Bürgerinitiativen empfahl.
Es gelingt Filippetti, in ihrer Darstellung von Situationen, Geschehnissen und Menschen ein eindringliches, lebendiges Bild nicht nur der eigenen Familiengeschichte zu zeichnen, sondern das einer ganzen Klasse. Ihre Botschaft besteht darin, die Erinnerung an diese Klasse, ihre Identität und Würde, zu bewahren.
Die lothringischen Erzbergwerke wurden bis Ende der neunziger Jahre Schritt für Schritt stillgelegt. Mit diesem Prozess löste sich das bis dahin für die Region charakteristische proletarische Milieu auf und die Kommunistische Partei verlor ihren hegemonialen Einfluss auf die französische Arbeiterschaft.
Mit der Stilllegung der letzten Erzmine im Becken von Longwy 1997 endet das Buch und dieses Datum besiegelt gleichzeitig das Verschwinden der Arbeiterklasse, wie Aurélie Filippetti sie erlebt und beschrieben hat.
Das Ende dieser Arbeiterklasse ist unwiderruflich – in Frankreich ebenso wie in Deutschland, Großbritannien oder Italien. Unverändert bleiben aber, so kann man den Text von Filippetti ergänzen, die Antagonismen des Kapitalismus. Sie werden neben den herkömmlichen Ausbeutungs- und Herrschaftsformen neue Methoden der Ausbeutung und Kommodifizierung der Arbeitskraft hervorbringen. Ob aus ihnen zukünftig wieder Aktionen und Kämpfe der Lohnabhängigen hervorgehen, die Individualismus, „Selbstoptimierung“ und Konkurrenz überwinden und so eine neue kollektive Solidarität stiften können, muss die Zukunft zeigen.
Lothar Peter
Zusammenbruch des
Kapitalismus?
Manfred Sohn, Am Epochenbruch. Varianten und Endlichkeit des Kapitalismus, PapyRossa Verlag, Köln 2014, 222 S., 14,90 Euro
Der Autor möchte zeigen, dass der moderne Kapitalismus heute an einer Schranke angekommen ist, „die er nicht mehr überwinden wird.“ (8) Mit „Epochenbruch“ sind Veränderungen gemeint, wie sie sich (der Autor orientiert sich, zumindest für Europa, am historischen Fünfstufenmodell der Gesellschaftsformationen) z. B. mit dem Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus vollzogen haben. Es handelt sich im Kern um eine ökonomische Zusammenbruchsprognose, womit er sich in eine lange und illustre Reihe marxistischer Theoretiker stellt, die so etwas immer mal wieder versucht und sich dabei immer geirrt haben. Nun kann ein produktiver Irrtum wissenschaftlich und politisch allemal mehr Wert sein als die Vorhersage eines ‚weiter so’. Dieses Lob aber kann dem vorliegenden Buch aus methodischen Gründen leider nicht gespendet werden. Denn der Autor hat die Irrtümer seiner Vorgänger zwar erwähnt, sich mit ihnen aber inhaltlich an keiner Stelle auseinandergesetzt.
An mehreren Stellen könnten den Leser Zweifel beschleichen, ob der Autor wirklich mit einem in absehbarer Zeit bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus rechnet. So behauptet er, dass wir seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Etappe des staatsmonopolistischen Kapitalismus lebten, d.h. im (mit Lenin) höchsten Stadium des Kapitalismus: „Höher geht es nicht“ (46) Dabei handele es sich um eine „Schlussetappe“, „nach dem Stamokap folgt keine weitere Variante, sondern die Ablösung des Kapitalismus.“ In Lenins Imperialismustheorie sei „das Ende des Kapitalismus inbegriffen.“ Diese Theorie „beginnt jetzt“ „wenn auch mit ein paar Jahrzehnten Verzögerung“ „ihre prognostische Wirkungskraft zu entfalten“ (46). Wollte man den Autor hier (unfairerweise) beim Wort nehmen so könnte man schlussfolgern, dass es seit Lenin keine wesentlichen Veränderungen im Kapitalismus mehr gegeben habe, dass wir also seit fast hundert Jahren (nicht bloß seit ein paar Jahrzehnten) „am Epochenbruch“ stünden. Auch im weiteren Verlauf sät der Autor Zweifel an der These vom unmittelbar bevorstehenden Ende des Kapitalismus, wenn er darauf hinweist, dass sich Epochenbrüche „über mehrere Generationen, einige Jahrzehnte und zuweilen auch ein oder zwei Jahrhunderte hinziehen“ könnten (100) – da der Kapitalismus in seiner modernen Form ja erst knapp zweihundert Jahre alt ist, könnte der „Epochenbruch“ also auch noch ein paar Generationen dauern.
Ich enthalte mich hier solcher bewussten Missverständnisse des Texts und nehme an, dass der Autor wirklich einen zeitlich nahe bevorstehenden Epochenbruch (Zusammenbruch) meint: „Die Grundthese ist, dass der Zeitpunkt gekommen ist, an dem ‚die auf dem Tauschwert ruhende Produktion zusammen(bricht)’“ heißt es, unter Bezug auf Marx, auf Seite 130. Es geht dem Autor also in der Tat um einen in naher Zukunft liegenden Zeitpunkt.
Er entwickelt seine Argumentation in acht Kapiteln: Einem ersten, dem Geld gewidmeten Kapitel, auf das später kein Bezug mehr genommen wird, folgt eine Definition des Kapitalismus einschließlich einer kurzen Diskussion seiner Entwicklungsvarianten, wobei, wie gezeigt, der Stamokap als höchste bezeichnet wird. Dass in seiner Kapitalismusdefinition die Lohnarbeit nicht vorkommt, ist Programm1: In seiner Ableitung des Zusammenbruchs fehlt konsequenterweise das historische Subjekt. Nun könnte man einwenden, dass die Lohnarbeit ja im Begriff des „Privateigentums an Produktionsmitteln“ aufgehoben ist, jedenfalls wenn wir es mit Marx als gesellschaftliches Verhältnis definieren, welches die Eigentumslosigkeit der Massen meint. Wie die weitere Verwendung des Begriffs „Privateigentum“ zeigt, scheint der Autor aber keinen Unterschied zwischen dem Rechtsverhältnis und dem gesellschaftlichen Verhältnis zu machen – Lohnarbeit gehört also seiner Ansicht nach nicht zu den „vier Kernmerkmalen der bürgerlichen Ordnung“. (39) Der dritte Abschnitt ist dem Krisenbegriff gewidmet, der ja eigentlich ein zentraler Baustein seiner Theorie sein müsste: Dass es sich bei der gegenwärtigen Krise nicht um eine „normale Überproduktionskrise“ , sondern eine „strukturelle Krise“, ja, um eine „finale Krise“ handele (78), wird hier leider nur behauptet: Es fehlen die Bestimmungen der unterschiedlichen Krisentypen, ebenso ein Bezug auf die verbreitete Diskussion über ‚große Krisen’. Eine genauere Ableitung zumindest der finalen Krise, d.h. die Begründung dafür, warum die aktuelle „final“ sein soll, erwartet den Leser im vierten Abschnitt („Minen“). Hier verweist der Autor aber im Kern lediglich auf die durch die Entwicklung der Produktivkräfte gegebenen „Möglichkeiten“ von nichtkapitalistischen Produktionsweisen (93), was etwas anderes ist als die Unmöglichkeit der Fortexistenz der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Möglichkeit aber könnte nur durch die Handlung der subalternen Klassen in Wirklichkeit verwandelt werden, vulgo durch den Klassenkampf. Der aber fehlt in Sohns Analyse: Die auf S. 93 versprochene Darstellung der „Realisierung dieser Möglichkeit“ in den beiden letzten Kapiteln, ist, wie unten gezeigt wird, eine herbe Enttäuschung. Dass die Möglichkeit einer Überwindung des Kapitalismus besteht, leitet Sohn aus der Technik, u.a. aus den Potenzen der Mikroelektronik, ab – nur unzureichend zeigt der Autor, dass diese sowohl Zentralität fördern (siehe Google, Amazon & Co) als auch Dezentralität ermöglichen kann. Im fünften Abschnitt zum „Epochenbruch“ führt er mehrere auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Indikatoren für dessen Bevorstehen an, darunter auch sehr eigenartige wie die demographische Entwicklung: Das Schrumpfen der Bevölkerungszahlen (was die UN in ihrer mittleren Prognosevariante erst für die Jahrzehnte nach 2050 bei einem absoluten Stand von knapp zehn Milliarden Menschen erwartet – derzeit werden gut 7 Milliarden gezählt) habe schon früher Epochenumbrüche angekündigt: „Die Datenlage (die dem Leser hier verschwiegen wird, JG) – beginnende Schrumpfung als Wetterzeichen für die Unmöglichkeit, nach der alten Art weiterzuleben – ist also in den jeweiligen Endphasen der Epochen der Sklavenhaltergesellschaft und des Feudalismus vergleichbar.“ (105/106) Da aber derzeit die Weltbevölkerung immer noch kräftig (um rund ein Prozent jährlich) zunimmt, ja, der absolute jährliche Zuwachs mit rund 80 Millionen Menschen im Jahr heute nahe seinem Höhepunkt ist, hätte es mit dem „Epochenbruch“ also noch einige Generationen Zeit. Hier hat sich der Autor vom Demografengeschwätz über ein aussterbendes Deutschland irreführen lassen. Auch ein anderes angeführtes Merkmal ist eher unspezifisch: „Die vollständige Herausbildung des Weltmarktes ist also Gipfel- und Kulminationspunkt der Entwicklung des Kapitalismus überhaupt.“ (119) Der Weltmarkt hat sich aber schon seit etlichen Jahrzehnten „herausgebildet“ (genau genommen war er schon Anfang des 20. Jahrhunderts hoch entwickelt), und es gibt absolut kein Anzeichen dafür, dass dieser Prozess an irgendeine Schranke gekommen sein könnte (und der Autor nennt auch keines). Mit Ungeduld schlägt der Leser nun die drei letzten Kapitel, „Sozialismus“ (150), „Einwände“ (178) und „Pfadfinderinnen“ (192) auf, soll er doch hier endlich erfahren, wie und durch wen die Möglichkeit der Überwindung des Kapitalismus in Realität verwandelt werden könnte: „Epochenbrüche kommen nicht von selbst. Sie sind kein Naturgesetz, sondern Ergebnis menschlichen Handelns.“ (197) Würde man diese Aussage – der der Rezensent nur zustimmen kann – ernst nehmen, so müsste man spätestens hier etwas über den Stand der sozialen Bewegungen auf der Welt erfahren. Tut man aber nicht: „Im Verlauf der vor uns liegenden Jahrzehnte wird sich eine Organisation herauskristallisieren, die in der Lage ist … den dritten Schritt in Richtung Sozialismus ...“ zu gehen (197). Außer dass diese Organisation sich nicht allein auf das Proletariat stützen kann (weil das Heer der Überflüssigen zunimmt) (205) und dass sie wohl stark weiblich geprägt sein wird, erfährt der Leser wenig: außer dass es diese „epochenmachende Organisation“ noch nicht gibt. Wie der Autor gleichzeitig behaupten kann, dass ein Epochenbruch nur Ergebnis menschlichen Handelns sein könne, dass das handelnde Subjekt aber erst in den nächsten Jahrzehnten entstehen würde und wir trotzdem heute am „Zeitpunkt“ des Umbruchs angekommen seien – das entzieht sich dem Verständnis des Rezensenten. Und ist dies nur die Frage einer „Organisation“, nicht die von wirklichen Massenbewegungen?
Letzten Endes tut der Autor nichts anderes, als einmal mehr anekdotische Evidenzen für die historische Begrenztheit der kapitalistischen Produktionsweise zu sammeln – das ist nicht falsch, und durchaus nicht uninteressant, aber eben auch nicht neu. Vor allem wird dadurch weder belegt, dass der Kapitalismus keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr hat, noch ist das eine Grundlage für eine moderne politische Strategie der Überwindung des Kapitalismus. Einen Beleg für den bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus, „dass der Kapitalismus diese jetzige Krise nicht überleben wird“ (151) kann das Buch schon aus methodischen Gründen nicht liefern: Trotz des zitierten plakativen Satzes über „menschliches Handeln“ klammert er erstens die handelnden Menschen, den Klassenkampf, aus seiner Instabilitätsanalyse völlig aus. Sein Kapitalismus kommt ohne Klassenkampf aus. Dass der Kapitalismus heute ökonomisch an eine absolute Schranke gestoßen sei, müsste zweitens auf der Grundlage von umfassendem empirischem Material abgeleitet und begründet werden. Das aber fehlt in dem Buch völlig, alle seine Belege sind anekdotisch. Drittens ignoriert er völlig, dass der Kapitalismus in vielen Weltteilen noch in den Kinderschuhen steckt, seine Analyse ist eurozentristisch. Wenn andere Regionen als Europa und Nordamerika überhaupt mal genannt werden, dann werden Behauptungen ohne jeden Beleg aufgestellt. Bezogen auf China heißt es: „Die Industrien, die dort entstehen, haben eine qualitativ völlig andere Arbeitsproduktivität als die Industrien, mit denen die ältesten kapitalistischen Länder in die Industrialisierung starteten.“ (188) Das ist natürlich wahr, aber was besagt das? Und wenn er sich (leider nur willkürlich) auf Rosa Luxemburgs ‚Landnahmethese‘ bezieht: Warum nimmt er nicht zur Kenntnis, dass das „Endresultat“, die Durchkapitalisierung der Welt (221), heute noch lange nicht erreicht ist? Eric Hobsbawm betonte in einem seiner letzten Interviews zu den Perspektiven der Welt nach dem Jahrtausendwechsel: China „ist noch in einer frühen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung, da ist noch enormer Spielraum für Expansion.“ (New Left Review 61/2010, S. 137) Die Bilanz der neoliberalen „Revolution von oben“ der letzten vierzig Jahre (vgl. Z 100) zeigt nun eher – entgegen vielen klassischen Annahmen – eine große Dynamik kapitalistischer Entwicklung gerade in den peripheren Ländern und die Intensivierung zwischenimperialistischer Konflikte, während linke, antikapitalistische Bewegungen nach wie vor Mühe haben, auf die Beine zu kommen.
Der Autor ist sicherlich kenntnisreich und belesen. Seine Argumentation im vorliegenden Buch aber ist inkonsistent und widersprüchlich. Der Versuch, Geschichte ohne deren Triebkraft, die „Klassenkämpfe“ (Kommunistisches Manifest, Einleitungssatz) zu denken, kann nur in die Irre führen.
Jörg Goldberg
Historische Mission der
Arbeiterklasse
Walter Rösler, „Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt.“ Marx und Engels über die weltgeschichtliche Rolle des Proletariats. Ein Rezeptionsversuch (= Rosa Luxemburg Stiftung. Manuskripte Neue Folge 12), Berlin 2014, 440 S., kostenloser download
Der Autor hat es unternommen, die Ansichten von Marx über die weltgeschichtliche Rolle des Proletariats, deren Ursprünge und Ausprägungen zu analysieren. Insoweit dies im Gedankenaustausch oder in Arbeitsteilung mit Friedrich Engels geschah, ist dies selbstverständlich berücksichtigt. Er hat seinen Text in prononcierter Auseinandersetzung mit der Formel von der „historischen Mission der Arbeiterklasse“ angelegt. Diese hält er für eine ideologisierte Verzerrung der authentischen Anschauungen von Marx, die letztlich zur Verabsolutierung der Führungsrolle einer marxistisch-leninistischen Partei im stalinistischen System hinführe.
Ob sich diese Deformationen tatsächlich an der begrifflichen Unterscheidung zwischen „weltgeschichtlicher Rolle des Proletariats“ und „historischer Mission der Arbeiterklasse“ festmachen lassen, sei dahin gestellt. Ich denke eher nicht. Aber in der Sache verweist Rösler auf entscheidende, von Marx gesetzte Prämissen und Akzente, die bei oberflächlichen Berufungen auf die historische Mission der Arbeiterklasse in der Regel nicht mitgedacht werden. Deshalb reibt er sich mit so manchen vor allem in der DDR verbreiteten vereinfachenden und verzeichnenden Interpretationen und deren Verfechtern.
Er begründet detailliert das Wissenschaftsverständnis von Marx, das sich geradezu als Gegenpol zu Ideologie herausgebildet hat. Marx habe der Gedanke, ein System zu erschaffen, gänzlich ferngelegen, denn er war offen für jegliche neuen Erkenntnisse und berechtigte Kritiken. Rösler hält demgegenüber die „historische Mission“ für eine dem Proletariat von außen zugeschriebene Funktion oder Sendung, die eine Gesetzmäßigkeit unterstellte, während es Marx darum ging, aus dem Wesen der bürgerlichen Gesellschaft heraus die objektive, aus den realen Gesellschaftszuständen erwachsende Rolle ihres Gegenpols Proletariat aufzudecken. Marx betonte demzufolge die gesellschaftliche Praxis als eigentliche Quelle der Erkenntnis (in Verbindung mit theoretischen Diskursen). Dabei widmete er der Produktivkraftentfaltung der industriellen Revolution und der unverzichtbaren bahnbrechenden Rolle der Bourgeoise viel Aufmerksamkeit, denn ohne diese gäbe es auch kein Proletariat. Sehr lesenswert ist, was Rösler über die Herausbildung des historisch-materialistischen Geschichtsverständnisses von Marx und Engels darbietet.
Der Autor hat mit enormem Aufwand der Genesis der Marxschen Ansichten nachgespürt und eine respekteinflößende Textexegese betrieben, die allerdings im Wesentlichen mit dem „Kommunistischen Manifest“ – also vor der Herausbildung proletarischer Massenparteien – endet. Die weitere Entwicklung findet da als Ausblicke Berücksichtigung, wird aber nicht mit gleicher Gründlichkeit analysiert. Solche Begrenzungen stehen natürlich jedem Autor zu. Nur lässt sich so seine Kritik an anderen Autoren, die Unterschiede zwischen dem frühen und dem späteren Marx betonen, meines Erachtens nicht hinreichend begründen.
Nicht jeder an der Thematik interessierte Leser wird bereit sein, solch intensive Textunterbreitung und -interpretation nachzuvollziehen, zumal sich doch Vieles in Variationen wiederholt. Das wird – wie ich mit Bedauern feststelle – den potentiellen Leserkreis dieser vom Anliegen her wichtigen Publikation vermutlich einschränken. Über die Stichhaltigkeit der in diesem Buch dargebotenen Ausdeutungen der Gedanken von Marx in all ihren Verästelungen müssen Experten entscheiden, die selbst ebenso tief in diese Texte eingedrungen sind wie der Autor.
Bei aller Wertschätzung der hier erbrachten Forscherleistung und des Nutzens einer solchen Überprüfung eines versimplifizierenden Umgangs mit dem Erbe von Marx und Engels scheint mir, dass die vom Autor gewählte Herangehensweise auch ihre Grenzen hat und einige Probleme aufwirft. Indem er die weltgeschichtliche Rolle des Proletariats vor allem als sich durch „Bewegung“ zu realisierende versteht, unterschätzt er meines Erachtens die Bedeutung politischer und gewerkschaftlicher Organisationen und deren Behandlung in den Schriften von Marx und Engels. Ihr Engagement im Bund der Kommunisten und in der I. Internationale wird erwähnt, aber nicht systematisch untersucht. Der Anteil von Marx und Engels an den Programmen der Arbeiterbewegung beziehungsweise ihre Programmkritiken erscheinen eher als Pflichtübungen, die nicht die Möglichkeit boten, ihre ausdifferenzierten wissenschaftlichen Einsichten angemessen in die Öffentlichkeit zu transportieren.
Wenn Rösler herausarbeitet, dass Marx ein weitaus gründlicheres, tieferes und differenzierteres Verständnis von der Rolle des Proletariats hatte, als dies in der Arbeiterbewegung und vor allem in marxistisch-leninistischen Parteien seinen Niederschlag gefunden hat, trifft dies zweifellos zu. Aber damit ist nicht das Problem aufgehoben, dass der Reichtum der Erkenntnisse von Marx und Engels nicht in Gänze in die theoretischen, politischen und agitatorischen Manifestationen realer politischer Organisationen umsetzbar ist, selbst wenn es deren Führer gewollt oder versucht hätten. Aber wertet das die Verbreitung vereinfachter Grundeinsichten, die dann eher den Charakter einer Ideologie als einer strengen Wissenschaft annehmen, generell ab? Hier muss wohl immer nach dem historisch bestimmten Zusammenhang zwischen Theoremen, Ideologien, Mythen und Riten mit der gesellschaftspolitischen und kulturellen Praxis gefragt werden, gemessen an den Bedürfnissen der Menschen beziehungsweise der Mehrheit der Bevölkerung.
Obwohl Rösler einige aus den heutigen Realitäten erwachsende Zweifel benennt, die gegen eine zu eng gefasste Übernahme Marxscher Thesen über die welthistorische Rolle des Proletariats sprechen, sieht er ihren Grundgehalt bestätigt und die Voraussetzungen für eine Verwirklichung dieser Rolle in umfassenden Sinne überhaupt erst in längerer Frist heranreifen.
Günter Benser
Das diskrete Wirken der
Eliten
Uwe Krüger, Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse, Verlag Herbert von Halem, Köln 2013, 29,50 Euro.
Manchmal entwickelt ein Buch seine Wirkung nicht gleich nach Erscheinen, sondern erst nach einer gewissen Wartezeit. Das gilt zum Beispiel für die überarbeitete Dissertation von Uwe Krüger, die mehr als ein Jahr nach Veröffentlichung für Wirbel sorgte. Ihr Ausgangspunkt ist eine weit verbreitete Beobachtung: Wenn es um Weichenstellungen in der Außen-, Wirtschafts- oder Sozialpolitik geht, dann erfolgt die Darstellung in den Massenmedien ziemlich einheitlich im Sinne der Herrschenden – zumindest was die Grundlinien angeht. Abweichende Beiträge kommen vor, sie bestimmen aber nicht den Tenor der Berichterstattung.
Naheliegende Ursachen sind die kapitalistischen Eigentumsstrukturen, die Zentralisation des Kapitals auf den Medienmärkten sowie die Politiknähe bei ARD und ZDF. Zwar erfolgt nicht überall die politische Formierung der Redaktionen so offen wie beim Springer-Konzern, wo die Unternehmensgrundsätze („Verteidigung der freien sozialen Marktwirtschaft“, „Unterstützung des transatlantischen Bündnisses“ usw.)1 Bestandteil der Arbeitsverträge sind. Aber auch in anderen Redaktionen ist klar, welche Meinung geht und welche nicht. Notfalls sorgt der Tendenzschutz-Paragraf dafür, dass die politische Linie gewahrt bleibt.2 Angesichts von Stellenabbau und Arbeitsverdichtung dürfte die Neigung zur Anpassung wachsen.
Aber reicht das als Erklärung? Der erstaunliche politische Gleichklang der Massenmedien fiel schon in der Vergangenheit nicht nur Linken auf, sondern auch kritischen Journalisten und Wissenschaftlern. Neben dem ökonomischen Druck gerieten dabei soziale Mechanismen in den Blick: die Kumpanei zwischen Redakteuren und politischen/wirtschaftlichen Entscheidungsträgern auf allen Ebenen. Man trifft sich, duzt sich, tauscht sich aus – und irgendwann identifiziert sich der Medienmensch mit denen, über die er/sie eigentlich kritisch berichten sollte. Man meint, dazuzugehören, und fühlt sich wohl dabei.
Solche Beobachtungen sind nicht neu. Der Arbeit von Uwe Krüger kommt das Verdienst zu, die Strukturen akribisch erfasst und mit neuen wissenschaftlichen Methoden analysiert zu haben. Seine zentralen Begriffe sind Eliten und Leitmedien. Die Eliten definiert er nach Viktoria Kaina als „diejenigen Personen, die in allen relevanten Gesellschaftssektoren Führungspositionen innehaben, von wo aus sie regelmäßig und maßgeblich an zentralen Entscheidungsprozessen mitwirken“ (88) – also das Spitzenpersonal der „staatstragenden“ Parteien und Organisationen sowie die führenden Vertreter des Kapitals. Als Leitmedien bestimmt er „jene Medien ..., die von besonders vielen Journalisten rezipiert werden und die damit auf andere Medien wirken“ und deren „Zielgruppe ... vorrangig aus Eliten besteht bzw. ... [die] sich argumentativ und stilistisch vorrangig an Eliten“ richten (99). Das umfasst die überregionalen „Qualitätszeitungen“ (einschließlich „taz“), die Nachrichtenmagazine und die Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF.
Krügers Buch besticht durch eine verständliche Sprache, überzeugende Beispiele und eine stringente Argumentation. Ausgesprochen spannend wird es, wenn er die zahlreichen Gesprächskreise und Netzwerkorganisationen auflistet, in denen sich die maßgeblichen Journalisten der Leitmedien mit Eliten aus Politik und/oder Wirtschaft treffen und nicht selten sogar als Funktionäre mitwirken (117ff.). Er nennt 82 solcher Organisationen (von der „Atlantik-Brücke“ über die „Bilderberg-Konferenzen“ bis zum „Weltwirtschaftsforum“). 64 führende Journalisten von 13 der 14 Leitmedien waren 2009 mit 82 solcher Strukturen verbunden. Eine Grafik, in der dies zusammenhängend dargestellt wird, wirkt beklemmend (118).
Krüger geht noch weiter in die Tiefe, indem er das Wirken von vier außenpolitisch tonangebenden Journalisten bei einem zentralen strategischen Thema nachzeichnet, dem „erweiterten Sicherheitsbegriff“. Gemeint ist der Umbau der Bundeswehr von einer Defensivarmee zur imperialistischen Interventionstruppe. Die Journalisten sind Klaus-Dieter Frankenberger, Verantwortlicher für Außenpolitik bei der FAZ, Stefan Kornelius, SZ-Ressortleiter Außenpolitik, Michael Stürmer, Chefkorrespondent der „Welt“, und Josef Joffe, Mitherausgeber der „Zeit“. Die Bevölkerung war und ist mehrheitlich gegen „Out-of-Area“-Einsätze der Bundeswehr, die Elite ist fast komplett dafür. Das Ergebnis überrascht schon nicht mehr: Nahezu unisono trommelten die vier „Alpha-Journalisten“ für „mehr Verantwortung“ weltweit.
Das ist natürlich noch kein Beweis dafür, dass die Einbindung der Journalisten in die einschlägigen Organisationen und Gesprächskreise für ihre politische Haltung ausschlaggebend ist. Sie können auch schon vorher so gepolt gewesen sein (wären andernfalls wohl gar nicht in ihre Position gekommen). Das räumt Uwe Krüger auch ein, darauf kommt es aber nicht an. Der offizielle Anspruch der Massenmedien, mit dem sie verfassungsmäßigen Status und diverse Privilegien (z. B. Informantenschutz) beanspruchen, besteht darin, objektiv und nicht interessengeleitet zu informieren. Dieses Credo tönte zwar schon immer hohl, durch Krügers Analyse aber wird es mit vielen Fakten und in seltener Klarheit entlarvt.
Welche empfindlichen Nerven der Autor getroffen hat zeigen die Vorgänge nach der Veröffentlichung. Dabei dürfte ausschlaggebend gewesen sein, dass er nicht, wie bislang üblich, das Geflecht von Spitzenjournalisten und Eliten vor systemtheoretischem Hintergrund, durch (anonymisierte) Befragung von Akteuren oder anekdotisch untersucht. Er erklärt das Medienverhalten mit Hilfe von Zirkeln und Netzwerken, die dafür sorgen, dass Leitmedien mehr oder weniger den laufenden Diskurs der Eliten reflektieren, dessen Grenzen nicht überschreiten und dessen Vorgaben nicht kritisch hinterfragen. Und er scheut sich nicht, Namen zu nennen.
Zunächst fand das Buch keine große Beachtung (folgenlose Besprechungen u. a. in FAZ, SZ, „Ossietzky“). Das änderte sich, als die ZDF-Sendung „Die Anstalt“ am 29. 4. 2014, gestützt auf Krügers Forschungen, die Netzwerke thematisierte. Der „Zeit“-Mitherausgeber Joffe klagte auf Unterlassung, scheiterte aber vor Gericht. Daraufhin sah sich der Münchner Ordinarius für Kommunikationswissenschaft Christoph Neuberger veranlasst, einen Verriss der Arbeit zu schreiben.3 Er unterstellte Krüger schwere methodische Mängel und eine tendenziöse Interpretation der Fakten. Inhalt und Ton seines Textes zeigten klar: Er wollte Krüger als Wissenschaftler fertigmachen. Nach einer Replik des Angegriffenen legte Neuberger mit einer Gegenrede nach. Schließlich sah sich der Erstgutachter („Doktorvater“) Krügers, der Leipziger Ordinarius Michael Haller, im Januar 2015 veranlasst, Neuberger in die Schranken zu weisen. Er wertete dessen Kritik als sachlich unhaltbar und destruktiv, würdigte Krüger als „klug forschenden Nachwuchswissenschaftler“. Darüber hinaus legte er offen, dass Neuberger mit einem der vier von Krüger vorgeführten „Alpha-Journalisten“, dem SZ-Auslandschef Stefan Kornelius, nebenberuflich eng vernetzt ist, ohne auf diesen Umstand hingewiesen zu haben.
In jüngster Zeit sind mehrere Arbeiten mit ähnlich gelagerter Fragestellung wie bei Krüger erschienen.4 Sie erreichen zwar nicht die gleiche analytische Tiefe, zeigen aber, dass die zugrunde liegende Problematik offenbar zunehmend die Öffentlichkeit erreicht. Im Vorwort zu Krügers Buch schreibt Michael Haller, dessen „Netzwerkanalyse hat für die akteurszentrierte Journalismusforschung in Deutschland Pilotcharakter. Und seine Vorschläge zur Sicherung redaktioneller Unabhängigkeit ... sollten von den Meinungsmachern ernst genommen werden“ (18). Einer der Vorschläge lautet: Keine Funktionen mehr für Journalisten in Beiräten, Kuratorien und in vertraulichen Politikplanungskörperschaften. Ei, wo kämen wir denn da hin...
Gert Hautsch
Eine neue Sicht auf die Kapitalismusentwicklung
Jörg Goldberg, Die Emanzipation des Südens. Die Neuerfindung des Kapitalismus aus Tradition und Weltmarkt, PapyRossa Verlag, Köln 2015, 326 S., 18,90 Euro
Das – hier zunächst kurz – anzuzeigende Buch wird mit Sicherheit längere Debatten (auch innerhalb der marxistischen Diskussion) auslösen und Spuren in der weiteren Kapitalismusanalyse hinterlassen; handelt es sich doch um nicht weniger als eine deutliche Revision von vielen Aspekten, die bislang sowohl in einer affirmativen wie in einer kritischen Einschätzung als quasi universale und notwendige Elemente der kapitalistischen Produktionsweise bzw. der kapitalistischen Gesellschaftsformation galten.
Ausgehend von den beträchtlichen Machtverschiebungen innerhalb des kapitalistischen Weltsystems als den „bedeutendsten Veränderungen der letzten 30 Jahre“ (11), die u.a. durch einen Aufstieg von „Wachstumspolen im Süden“ gekennzeichnet sind (BRICS-Länder als deutlichster Ausdruck davon), wird nach Ursachen und Triebkräften dieser neuen Wachstumszentren gefragt. In Abgrenzung zu den verschiedenen Spielarten von Modernisierungs- und Dependenztheorien, zu institutionenökonomischen, aber auch teilweise zu marxistischen Lesarten auf- und nachholender Entwicklung vertritt Goldberg die innovative und provozierende These, dass gerade jene Elemente, die bislang als hemmende Bremsklötze einer schnellen kapitalistischen Entwicklung galten – u.a. Fehlen eines verbreiteten und gesicherten Privateigentums (an Produktionsmitteln), Abwesenheit formaler Rechtssysteme, freier Märkte, Fehlen unpersönlich-anonymer Verkehrsverhältnisse, Nicht-Vorhandensein einer Trennung von Wirtschaft/Gesellschaft auf der einen und Staat/Politik auf der anderen Seite (idealiter und teilweise durchaus auch realiter) – nicht nur keine nachteiligen Wirkungen auf rasche Akkumulationsprozesse ausübten, sondern sogar – in einem bestimmten internen politischen und Weltmarktkontext – eine positive, zusätzlich dynamisierende Rolle zu spielen vermochten.
Die Studie ist in drei Hauptteile gegliedert. Die ersten drei Kapitel, die den ersten Teil umfassen, nähern sich empirisch-historisch und systematisch-theoretisch dem Thema. Das erste Kapitel beschreibt den Aufstieg bzw. Wiederaufstieg des Südens in den wichtigsten makro-ökonomischen Dimensionen als „ungleichzeitigen und aufhaltsamen Prozess“ und differenziert damit die Eingangsthese. Das zweite Kapitel entfaltet systematisch-theoretisch einige Grundfragen der Kapitalismusanalyse (Kernelemente, historisches Milieu, in welches der Kapitalismus Einzug hält, die Unterscheidung von kapitalistischer Produktionsweise und kapitalistischer Gesellschaftsformation, Logisches und Historisches sowie die Frage nach den Spielarten des Kapitalismus und der „Artikulation“ von unterschiedlichen Produktionsweisen etc.) und gelangt dabei zu einem wichtigen Zwischenresümee, welches auch als Hypothese für die nachfolgenden regionalen Analysen zu sehen ist: Im Unterschied zu vielen „institutionalistischen“ und teilweise auch marxistischen Positionen betont Goldberg, dass die kapitalistische Produktionsweise in ihrer Grundstruktur nur zwei „universal gültige Prinzipien (kennt), den Zwang zur Akkumulation einerseits und den Klassenkampf andererseits“ (88). Dagegen könnten andere – häufig als essentiell qualifizierte Elemente – wie z.B. das Privateigentum an Produktionsmitteln u.a. (s.o.) – als substituierbar durch andere – häufig als „vormodern/traditional“ bezeichnete – Elemente angesehen werden. Vielfach werde in den Kapitalismusanalysen übersehen, dass europäische Traditionen des Kapitalismus (teilweise aus dem spezifischen okzidentalen Feudalismus stammend) nicht als universal gültig und notwendig betrachtet werden dürfen. Der europäische Kapitalismus habe durch seine Expansion die ganze Welt beeinflusst und einen Anstoß in Richtung kapitalistischer Produktionsweise gegeben, ohne jedoch die außereuropäische Welt überall gleichermaßen intensiv zu durchdringen und sie nach seinem Bild zu transformieren. Vielmehr habe die kapitalistische Produktionsweise sich dem jeweiligen historischen (vorkapitalistischen) Milieu in gewisser Weise angepasst und/oder dieses zu ihrem Nutzen entsprechend umgeformt. „Im Ergebnis sind unterschiedliche kapitalistische Gesellschaftsformationen entstanden, die sich – im Rahmen weltwirtschaftlicher Zusammenhänge – nach eigenen Regeln entwickeln und auf dem Weltmarkt interagieren.“ (89) In einem dritten Kapitel wird dieser Grundgedanke nochmals – vor dem Hintergrund einschlägiger Debatten („kapitalistische Landnahme“, Artikulation von Produktionsweisen, Spielarten des Kapitalismus etc.) – systematisiert und eine rudimentäre Typologie unterschiedlicher möglicher Bausteine und Bewegungsformen von Kapitalismusformationen vorgelegt (99).
Der zweite Hauptteil (101- 273) analysiert in drei Kapiteln die regionalen Beispielfälle – China, subsaharisches Afrika und Lateinamerika – relativ detailliert und fokussiert auf die entwickelte Fragestellung. Ohne auf Einzelheiten im vorliegenden Zusammenhang eingehen zu können, wird deutlich, wie verschieden und wirksam die differierenden „historischen Milieus“, auf die der europäische Kapitalismus traf, gewesen sind und in welchem Maße sie den Siegeszug des Kapitalismus befördert oder behindert haben. Im Fall Chinas – nach Widererlangung der zentralstaatlichen Souveränität und Steuerungsfähigkeit durch die kommunistische Revolution von 1949 – im positiven Sinne (auch ohne das Element einer autonomen und politisch relevanten Bourgeoisie), in Afrika mit ambivalenten Folgen, insofern als Goldberg die Perspektiven eines autochthonen afrikanischen Kapitalismus eher skeptisch einschätzt (216).
Im folgenden Kapitel dieses Teils resümiert Goldberg die aktuellen ökonomischen Tendenzen in Lateinamerika, berührt das Thema „Linksregierungen“, um dann informative Streifzüge in die vorkolonialen, kolonialen und nachkolonialen Verhältnisse dieses Subkontinents zu unternehmen. Ein zentrales Resultat seiner Analyse kulminiert in der Erklärung der hohen Persistenz indigener Gemeinschaften im ländlichen Bereich, deren Bedeutung er allerdings weniger im Ökonomischen als vielmehr im Politischen sieht (253, 271); jedoch wird hier nicht immer der Bezug zur zentralen Fragestellung deutlich, zumal den überwiegend relativ kleinen ländlichen Bevölkerungsanteilen für die weitere kapitalistische Entwicklung eine eher untergeordnete Bedeutung zukommen wird.
Im letzten Hauptteil schließlich, welcher wieder zwei Kapitel umfasst, reflektiert der Verf. nochmals systematisch (und aufbauend auf dem vorgetragenen empirischen Material) das Verhältnis von „einheitlichem Weltmarkt und gesellschaftlicher Vielfalt“ (275).
Bezüglich der Privateigentumsproblematik insistiert er auf der Unterscheidung von Privateigentum an Produktionsmitteln als gesellschaftlichem Verhältnis (welches in der Tat unter kapitalistischen Bedingungen allgemein sei) und den spezifischen Rechtsformen, die dieses Verhältnis annehmen kann. Die spezifische Form des unbedingten individuellen Privateigentums sei in außereuropäischen Kulturen weitgehend unbekannt (und auch nach der kapitalistischen Durchdringung marginal geblieben). In ähnlicher Weise relativiert Goldberg die „Vertragsfreiheit und Rechtssicherheit“, die „Lohnarbeit“, die „Trennung von Ökonomie und Politik“, „Markt und Konkurrenz“, das für die entwickelte kapitalistische Gesellschaft als idealtypisch angesehene Verhältnis von Familie, Individuum und Verwandtschaftsbeziehungen – dies alles mit Blick auf die Relevanz bzw. unabdingbare Notwendigkeit dieser Institutionen bzw. Organisationsformen für das Funktionieren kapitalistischer Entwicklung und Dynamik.
Im letzten Kapitel beschäftigt sich Goldberg mit der Zukunft des „Aufstiegs des Südens“ und kritisiert, dass langfristig angelegte Prognosen die politische, ökonomische und vor allem auch ökologische Krisenhaftigkeit der weiteren kapitalistischen Entwicklung weitgehend ausblenden sowie zudem von einer „einheitlichen Wirkungsweise des Weltmarkts“ ausgehen, welche aber angesichts der sehr unterschiedlichen, nationalen Reaktionsweisen auf dessen Zwänge nicht gegeben sei. Trotz der Relativierung der Bedeutung bestimmter bislang als essentiell angesehener Institutionen des Kapitalismus beinhalte die Wirksamkeit „funktionaler Äquivalente“ (diesen Luhmannschen Ausdruck benutzt Goldberg nicht) keineswegs auf Dauer und unumkehrbar die Garantie eines weiteren Aufstiegs „des Südens“, zumal gewisse Anpassungen an bestimmte Erfordernisse der Weltmarktspielregeln dessen Verletzlichkeit auch erhöhen könnten. Mit dieser – in letzter Instanz – ergebnisoffenen Argumentation relativiert Goldberg wieder seine vorherigen Ausführungen über die positive Funktionalität mancher scheinbar kapitalismusfeindlichen Strukturelemente ein stückweit, womit seine Beweis- und Argumentationsführung zwar unangreifbarer und flexibler wird, andererseits an Eindeutigkeit etwas verliert. Abgesehen von wenigen eher formalen Punkten (Irrtum über Jahreszahl, Eigenwilligkeit beim Zitieren, wo Herausgeber von mehrbändigen Sammelbänden statt der einzelnen Autoren genannt werden etc.) kann die von Goldberg vorgelegte Studie als äußerst anregend, wichtig und lesenswert qualifiziert werden.
Dieter Boris
Minima Socialistica
Dietmar Dath, Klassenkampf im Dunkeln. Zehn zeitgemäße sozialistische Übungen, KVV konkret, 151 Seiten. 15 Euro.
Der Titel des Buches kündigt an, dass es einen Gegenstand behandelt, der nicht offen vor Augen liegt: „Klassenkampf im Dunkeln“. Gleiches gilt für den Untertitel: „Zehn zeitgemäße sozialistische Übungen“. Er unterstellt nicht, dass der Sozialismus aktuell sei. Im Gegenteil: Zeitgemäß ist die Feststellung, dass er sich nicht auf der Tagesordnung befindet, außerdem die Erörterung der Ursachen dieser Lage sowie der Möglichkeiten und Grenzen von Abhilfe.
Vorangestellt wird einer solchen Denkbemühung eine Option, die der Verfasser in der „Ersten Übung“ darlegt. Er argumentiert hier weder geschichtsteleologisch noch ökonomisch (auf die Debatten zur Wert-Preis-Transformation und „Kapital“-Lesezirkel zumindest dort, wo er sie für selbstgenügsam hält, reagiert er genervt), sondern normativ: Es geht um die „politische Verfassung eines Gemeinwesens, das […] Ressourcen zur Förderung von Schönheit, Gerechtigkeit und Freiheit nutzt“. (10) Die Nennung des Ästhetischen gehört in den Umkreis der Überlegungen, die in „Feldeváye – Roman der letzten Künste“ (2014) angestellt wurden. Basis ist bereits vorhandener gesellschaftlicher Reichtum. Dessen Vorenthaltung für die meisten ist der stärkere Antrieb: als ein unerträglicher Zustand. Ausbeutung wird als „Umbuchung“ von Zeit von unten nach oben definiert. Mehrwert als unbezahlte Mehrarbeitszeit ist hierfür Bedingung, zugleich aber ein Spezialfall. Der Verfasser unterscheidet „1. Arbeitszeit, 2. Konsumzeit, 3. Politische Zeit, 4. Unbestimmte Zeit“. (12) Den Unterklassen sind die beiden letzten Zeitsorten weitgehend versperrt, Klassenkampf ist der Versuch, dies so zu revidieren, dass von der so gewonnenen „Politischen Zeit“ aus auch eine Neuverteilung der anderen Zeiten vorgenommen werden kann. Der Unterschied etwa zur „Vier-in-einem-Perspektive“ von Frigga Haug liegt darin, dass das Geschlechterverhältnis hier wieder als Unterfall aufgefasst werden kann, vor allem aber darin, dass der Autor deutlich un-utopisch vor allem die Hindernisse der Verwirklichung untersucht. Dies (nicht die normative Option) ist der Schwerpunkt dieser Schrift.
Sozialismus gilt seinen Verächtern intellektuell als outdated, da angeblich logisch und historisch widerlegt. Der Auseinandersetzung damit gelten die Zweite und die Dritte Übung.
In der Zweiten benennt Dath die „mathematischen Grenzen ökonomischen Wissens“, die der Behauptung von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek gesetzt sind, wonach der Markt die optimale Regulation sei. Sein überraschender Trick ist – implizit – die Anwendung des Kritischen Rationalismus, auf den Hayek in seinem Bündnis mit Popper sich einst stützte. Eine solche Behauptung sei, da weder verifizier- noch falsifizierbar, nicht wissenschaftlich. Die Behauptung der Markt-Absolutisten fällt im theoretischen Stresstest durch und muss dem von ihnen selbst ja letztlich zu akzeptierenden Probabilismus weichen, der effizientere Regulationsformen als den Markt nicht ausschließt.
Mit dem gleichen Verfahren lassen sich die „historischen Grenzen ökonomischen Wissens“ (Dritte Übung) bestimmen. Der Fehlschlag eines sozialistischen Experiments kann nur für diesen einen Fall nachgewiesen werden, nicht aber für etwaige künftige Versuche. Auch der Kapitalismus scheiterte in seinen Anfängen immer wieder einmal. Da er über Zwangsmittel (Arbeitslosigkeit) verfügt, die im Sozialismus ausgeschlossen sind, wird letzterer so lange unterlegen bleiben, wie er dieses Manko nicht durch auf andere Weise zu bewerkstelligende Erhöhung der Arbeitsproduktivität aufzuwiegen vermag. Dass ihm dies misslang und er sich zugleich dem kapitalistischen Weltmarkt aussetzte, bedingte seine Niederlage.
Die ersten beiden hier referierten Übungen sind eine vergleichsweise heitere Wissenschaft im Vergleich zu dem, was der Verfasser sich anschließend vornimmt: die Untersuchung aktueller vorschnell optimistischer Vorschläge und resignierender Selbstbescheidungen auf mögliche Denkfehler hin. In der Vierten Übung geht er gegen sich selber an. Sein Manifest „Maschinenwinter“ von 2008 (siehe Z 76 [Dezember 2008], S.192ff.) endete mit dem Satz: „Die Menschen müssen ihre Maschinen befreien, damit die sich revanchieren können.“ Er forderte: „Zerschlagt die Apparate, schützt die Baupläne!“ Heute nennt er das leicht selbstironisch „eine brave Losung“ (69). Das Durchspielen der verschiedenen Wahrscheinlichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung und ihrer Pfadabhängigkeiten im 2012 gemeinsam mit Barbara Kirchner veröffentlichen Buch „Der Implex“ (Siehe Z 90 [Juni 2012], S. 134ff.) veranlasst jetzt eine Modifikation. Die Pläne selbst – einschließlich monopolkapitalistischer Planwirtschaft und deren elektronischer Logistik – sind von ihrem Ausbeutungszweck her kontaminiert. Bei aller Zustimmung zu Cockshotts und Cottrells Programm „Alternativen aus dem Rechner“ kann dieses kein Selbstläufer sein, sondern ist abhängig von Umwälzung der Macht- und Eigentumsverhältnisse. Der zuweilen gegen Dath erhobene Vorwurf des vorbehaltlosen Technik-Optimismus greift hier nicht.
Sarkastisch fällt in der Fünften Übung die Abrechnung mit der Selbstermächtigung einer „Phantomkleinbürgerei“ (83ff.) zum Transformationssubjekt aus sowie – in der Sechsten – mit der heute kurrenten Auffassung des gegenwärtigen Kapitalismus als eines in erster Linie finanzmarktgetriebenen (teilweise sogar mit eingebautem Potential zu finalem Crash). Letztere verkenne die Dominanz der unveränderten kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die lediglich ihre Erscheinungsformen ändern und miteinander austauschen können. Den denkbaren Vorhalt, er betreibe die „Wiederkehr eines einfachen Marxismus“ oder eines „Arbeiterbewegungsmarxismus“ (101) nimmt Dietmar Dath explizit in Kauf.
Die Tautologie, dass die verschiedenen kapitalistischen Vergesellschaftungen der Produktion nicht dem Proletariat dienen, sondern der Bourgeoisie, von Kautsky und Lenin (auf den sich Dath mehrfach bezieht) in einer vergangenen Phase zur Unterscheidung von trade-unionistischem und revolutionärem Bewusstsein veredelt, wird in der Siebenten Übung als Anlass zur Entmutigung einerseits benannt und bildet andererseits den Ausgangspunkt für Erwägungen, dennoch auch betriebliche Angriffspunkte zu suchen, verbunden mit neuen Formen der Organisierung. Werde dieser Kampf aufgegeben oder sei er nicht mehr möglich, „so weiß das Manifest der Kommunistischen Partei immerhin einen Namen für das Szenario, das der Welt in einem solchen Fall droht – der ‚gemeinsame Untergang der kämpfenden Klassen‘“. (121)
Das Kräfteverhältnis bleibt ungünstig: „Die Kampfkassen der Nichtbesitzenden sind leer“. Eine Möglichkeit wäre, die Kampfkassen der Besitzenden anzuzapfen – nicht ihr Geld, aber deren Logistik, allerdings zunächst nicht durch deren parasitäre Nutzung, sondern durch Unterlaufung und Desinformation (Achte Übung).
In der Neunten Übung wird es fast hoffnungslos eng: „Die militärische Lage ist entsetzlich“. Es gibt keine Alternative zum antimilitaristischen Kampf. „Sonderscheiße Deutschland: Daß dieser Gauck nicht zum Hauptziel ununterbrochener Agitation wurde, daß man ihm von links auch nur noch eine Minute Ruhe gönnte, nachdem er das Jahr 100 seit dem Ersten Weltkrieg dazu nutzte, öffentlich darüber nachzudenken, man könnte doch zum Jubiläum… Das ist unfaßbar, das ist eine verschenkte Chance, nach der eine Fußballtrainerin in der Provinzliga gehen müßte. Was treiben wir da eigentlich? Warten, bis die Bundeswehr genug Drohnen hat oder überhaupt ein besser gerüstetes Heer? Denn der technische Fortschritt marschiert. Man braucht nach Industrialisierung, Automatisierung, Computerisierung und Biotechnisierung nicht nur weniger Massenarbeit dazu, Leute zu versorgen, sondern auch dazu, sie zu verletzen, obdachlos zu machen, ihre Produktion zu zerschlagen, ihre Lebensgrundlagen zu zerstören oder sie umzubringen. Mit der Massenbewaffnung stehender Heere (keine schlechte Voraussetzung für Revolutionen) ist es gegangen wie mit dem Fabrikwesen (der ehemaligen Schule des Proletariats): Heute hat man Module, heute arbeitet und tötet man flexibel und mit reduziertem Personal.“ (133/134) Was sich auf den ersten Blick wie eine Beschreibung verschütteter Milch – allgemeine Wehrpflicht als Voraussetzung von Revolutionen, Fabriken als Schulen des Proletariats – liest, ist auf den zweiten die Anregung, sich zunächst auf die Höhe der Situation zu begeben, hier in der Wendung gegen regressive Selbstablenkung auf „weiche“ Themen: „Die Hegemonialkämpfe um Öffentlichkeit in der Gegenwart und in der nahen Zukunft vorschnell von technologischen Fragen, die wiederum sowohl ökonomische wie staatsmachtvermittelt-politische sein werden, begrifflich und operativ zu trennen, wäre bereits das erste Eigentor einer neuen sozialistischen Bewegung nach den verheerenden Niederlagen der ersten.“ (140) Dies sei die Antwort auf eine „Zwischenfrage vom Gramsci-Lesezirkel Unterwiehre in Freiburg/Breisgau“. (135)
Da eine Ontologie der Hoffnung fehlt, Möglichkeiten zur Befreiung zwar nicht prinzipiell ausgeschlossen sind, aktuelle Ansätze nach Prüfung immer wieder falsifiziert werden, gibt es Anlässe zu Verzweiflung. Kapitulation wird abgelehnt, weil dann ein etwaiger schmaler Spalt von Möglichkeit nicht erkannt werden kann. Notgedrungen changiert der Autor zwischen dem Nachweis zu kurzer Perspektiven und dem Aufspüren von Möglichkeitsverzweigungen. Er nennt dieses Verfahren: „Immer an der Wand lang“, wobei dann aber wieder aufgepasst werden muss, wohin letztere führt. Die „Zehnte Übung“ endet in einem Zehnpunkte-Pogramm mit dem Schwerpunkt auf Gegenwehr, Verhinderung, Entdeckung und Sammlung verstreuter Aktionsmöglichkeiten.
„Klassenkampf im Dunkeln“ ist die Wiedergabe einer Situation, in welcher der Geisterfahrer zum Vertreter der Vernunft wird, zugleich eine Operationalisierung des „Implex“. Darin, dass die Abwehr von Gegenaufklärung und die Suche nach denkbarem Störpotential überwiegt, zeigt sich ein Realismus, der sich weigert, mehr zu geben als er hat. Anders als bei Utopisten ist Sozialismus hier (trotz der Setzung Schönheit – Gerechtigkeit – Freiheit) kein Zustand, im Unterschied zum optimistischen Eduard Bernstein keine historische Tendenz, sondern an uphill battle. Gerade die ungünstigen Ausgangsbedingungen machten ihn unvermeidlich: „Wer sie bloß anstarrt, macht sie schlimmer.“ (151)
Georg Fülberth
Krise in Griechenland
Ulf-Dieter Klemm, Wolfgang Schultheiß (Hg.), Die Krise in Griechenland. Ursprünge, Verlauf, Folgen, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2015, 546 Seiten, 29,90 Euro
Beide Herausgeber kommen aus dem Auswärtigen Dienst und haben über einige Jahre hinweg die bundesdeutschen Interessen an der Botschaft in Athen vertreten. Mit ihrer Publikation setzen sie diese Tätigkeit fort. Im Vorwort wird die den Sammelband prägende Erzählhaltung programmiert. Verlauf, Ursprünge und Folgen der „Krise in Griechenland“ werden nicht im Kontext europäischer Hegemonialverhältnisse und Interessenkollisionen gedeutet, sondern als interne „Krise des politischen Systems, wenn nicht sogar der griechischen Gesellschaft.“ (10, Hervorhebung DP) Nach 1989/90 zur Durchsetzung gebrachte deutsche Interessen und geopolitische Maßnahmen (zum Beispiel gegen die von Frankreich forcierte Union pour la Méditerranée) sind dabei nicht die einzigen unsichtbar gemachten Größen. In Ulf-Dieter Klemms eigenem verständnisvollen Beitrag über „Deutsche und Griechen. Eine Beziehung mit Missverständnissen“ wie auch in der Einleitung von Wolfgang Schultheiß bleibt die DDR ein nichtexistenter Staat. Deutsch-griechische Nachkriegsgeschichte, das meint hier allein die Geschichte einer erfolgreichen Annäherung zwischen Westdeutschland und Griechenland, welche nicht zuletzt dem Engagement der deutschen Bundespräsidenten von Theodor Heuss bis Gauck zu verdanken sei. In keinem der dem Klientelismus und der Korruption gewidmeten Beiträge fällt der Name Siemens.
Der Großteil der Verfasser rekrutiert sich aus der (wirtschaftlichen, politischen und akademischen) griechischen Vorkrisenelite sowie (deutschen und griechischen) Funktionären des durch die Memoranden vorgegebenen EU/IWF-Anpassungsprogramms, welches von Panos Kazakos immerhin in dankenswerter Offenheit expressis verbis als „Regimewechsel“ bezeichnet wird, der in mancher Hinsicht „dem Übergang der ehemaligen sozialistischen Länder zur Marktwirtschaft“ (41) ähnele. Manches andere schlägt ins Komische um. So benutzen der ehemalige stellvertretende Außenminister Jannis Valinakis und Sotiris Serbos (ein ehemaliger Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Außen- und im Verteidigungsministerium) ihren der griechischen Regional- und Balkanpolitik gewidmeten Beitrag, um einmal mehr die mazedonische Position anzugreifen und die griechische Sicht auf den Namensstreit sowie die Zypernfrage vorzutragen. Das Urteil über die eigene Außen- und Sicherheitspolitik fällt entsprechend freundlich aus: „Kern der griechischen Regionalpolitik war und ist, die Integration ganz Südosteuropas in die erweiterte europäische Familie zu unterstützen.“ (256) Und ein Chefökonom der griechischen Alpha-Bank empfiehlt neben der Privatisierung der Stromversorgung den verstärkten Bau von Golfplätzen und Autorennbahnen sowie (473) den Export von Schnecken. Interessant ist immerhin der im Band mehrmals betonte Gegensatz zwischen pauschalen und allzu harten Vorgaben der Troika und durchaus funktionalen Lösungsstrategien der EU-Task-Force, eine Wahrnehmung, die im Hinblick auf die notwendige Reform des Fiskalsystems jüngst auch der griechische Finanzminister Varoufakis in mehreren Interviews betont hat.
Bezeichnend ist: Während in den der krisenhaften Jetztzeit gewidmeten Beiträgen – mit Ausnahme von Alexandros-Andreas Kyrtsis“ sozialpsychologisch einfühlsamen Ausführungen über „Die griechische Gesellschaft unter dem Druck der Krise“ und eines Beitrages zur rechtlichen und sozialen Situation von Flüchtlingen im Land – die Perspektive der internationalen Kreditgeber, der Investoren und Ratingagenturen vorherrscht, bieten die historischen Beiträge zum Teil hervorragende Einführungen in die griechische Geschichte seit der Staatsgründung. Das gilt in jedem Fall für die Aufsätze über „Staat und Gesellschaft seit 1830“ (Antonis Liakos), über „Zahlungsausfälle in der Geschichte Griechenlands im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ (Korinna Schönhärl), über „Griechenland im Zweiten Weltkrieg“ (Richard Clogg) und Thanos Veremis’ Darstellung des politischen Systems seit dem Sturz der Junta 1974. Dann aber liest man im Beitrag zur Reparationenfrage (von der – S. 299 – behauptet wird, dass sie „aus rechtlicher Sicht geschlossen“ sei) das Folgende: „Nach der italienischen Invasion Griechenlands im Herbst 1940 und dem anschließenden Fiasko Mussolinis hatte Hitler jedoch keine andere Wahl, als sich in Griechenland militärisch zu engagieren.“ (300)
Für das 19. Jahrhundert unterteilten die Historiker die politischen Lager in Anhänger der für den griechischen Staat entscheidenden Garantiemächte: Es gab eine Englische, eine Französische und eine Russische Partei. Für das 20. Jh. sprach man von konservativen bzw. monarchistischen und liberalen (und nicht unbedingt antimonarchistischen) Parteien, später von „der Rechten“ und „der Linken“. Für die Gegenwart ist es in Griechenland gerade Mode geworden, die politischen Kräfte in Anhänger und Gegner der Memoranden zu unterteilen. In dem besprochenen Band kommen Erstere zu Wort – auf eine entsprechende Antwort bliebe zu hoffen.
Dennis Püllmann
Sozialreformen in Brasilien und Südafrika
Bernhard Leubolt, Transformation von Ungleichheitsregimes. Gleichheitsorientierte Politik in Brasilien und Südafrika, Springer VS, Wiesbaden 2015, 426 S., 49, 99 Euro
Umfassende, kritische und zudem komparative Analysen von Sozialpolitik in Schwellenländern, deren Regierungen einem mehr oder minder progressivem Selbstverständnis folgen, sind in der gegenwärtigen Entwicklungsforschung rar gesät. Besonders interessant wird ein derartiges Unternehmen, wenn es sich bei den Beispielländern um Repräsentanten der BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) handelt, über deren „interne Strukturen“, die ja letztlich über ihre mittelfristige Positionierung auf dem Weltmarkt entscheiden werden, wenig bekannt ist.
In seiner an der Universität Kassel ausgearbeiteten Dissertation hat der Wiener Sozialwissenschaftler Bernhard Leubolt sich dieser Aufgabe in mehrjähriger Theorie- und Empiriearbeit unterzogen und diese – das sei vorweg genommen – in vorbildlicher Weise abgeschlossen. Seine zentrale Forschungsfrage lautet: „Was sind die Möglichkeiten und Grenzen sozial-reformistischer Politik in Brasilien und Südafrika?“ (23) Der Beantwortung dieser und zahlreicher anderer damit zusammenhängender Unter- und Seitenfragen nähert er sich über viele Pfade, deren Vielfalt und Komplexität hier kaum angedeutet werden kann: Wissenschaftstheoretische Grundlagen, Umriss des Forschungsparadigmas, Begründung der Länderauswahl, Skizze des Literaturstands, Theorie „multipler Ungleichheiten“ und deren Artikulation, strategisch-relationale Theorie des Staates, besonders im Hinblick auf „periphere Staatlichkeit“, Umriss der Analysegrundlage im Anschluss an Bob Jessop: Agency, Structure, Institutions and Discourse (ASID).
Nach dieser opulenten theoriegeleiteten Annäherung (1. bis 3. Kapitel) wird im 4. Kapitel das Fallbeispiel Brasiliens (133-276) detailliert behandelt: Historische Etappen ökonomischer und politischer Entwicklung, Entfaltung der Kräfteverhältnisse nach der Demokratisierung (1984/85), Entwicklung der Sozialstruktur während der letzten zwanzig Jahre und entsprechende politische Veränderungen, schließlich die Verlaufsformen von Sozialpolitik unter den letzten Regierungen dieses Zeitraums mit besondere Fokussierung von Armutseindämmung und Ungleichheitsreduzierung. Nach einem ähnlichen Raster wird im 5. Kapitel die „Transformation des südafrikanischen Ungleichheitsregimes“ eingehend behandelt (272-356). In „abschließenden Reflexionen“ (357-384) werden die Hauptergebnisse der vergleichenden Studie zusammengefasst, die außer auf Primärquellen, Statistiken, breiter Sekundärliteratur auch auf Experteninterviews in Brasilien (17) und Südafrika (11) beruht.
Zwar gab es bezüglich von Elementen der Sklavenhaltergesellschaft in der Frühphase und hinsichtlich der „strukturellen Heterogenität“ der Sozialverhältnisse (dauerhaftes Nebeneinander von kapitalistischen und vorkapitalistischen Bereichen) Ähnlichkeiten zwischen Brasilien und Südafrika, dennoch auch wichtige Unterschiede, die auf die Kolonialzeit zurückgehen. „Im Gegensatz zum portugiesisch kolonialisierten Brasilien war der koloniale Charakter der britischen Herrschaft und somit auch die Abgrenzung von der indigenen Bevölkerung deutlicher… Daher kam es weitaus weniger zu ethnischer Durchmischung als in Brasilien und Ethnizität stellte eine wichtige Achse identitärer Repräsentation dar.“ (360) Damit hängt u.a. auch zusammen, dass mit der „Institutionalisierung der Apartheid“ in Südafrika (1948-1994) ein deutlicherer, teilweise gewaltsamer Widerstand gegen den herrschenden Block erfolgte als in Brasilien, wo eher informelle Exklusionsverhältnisse dominierten. Obwohl beide sozialreformistischen Regierungen in Brasilien und Südafrika (geführt von der PT bzw. vom ANC) sich aus dem Widerstand gegenüber autoritären Regimen entwickelten und an die Regierung gelangten, gab es deutliche Unterschiede in den schwerpunktmäßig verfolgten Methoden und Formen der Armutsbekämpfung bzw. Ungleichheitsreduktion. Der in Ansätzen erfolgten Umverteilung durch Sozialpolitik in Brasilien steht in Südafrika die Anerkennung bisheriger Diskriminierung durch spezielle Förderpolitik gegenüber.
Jenseits vieler komplexer und differenzierter Sachverhalte, die der Verfasser herausarbeitet, lässt sich auf allgemeiner Ebene festhalten, dass sowohl in Brasilien wie in Südafrika – trotz rhetorischer Frontstellung zu neoliberalen Orientierungen – in der Wirtschafts- und Sozialpolitik Elemente von Kontinuität (zu den vorherigen neoliberalen Regimes) wie solche des Bruchs nebeneinander stehen. Obwohl – so ein weiterer wichtiger Befund – die Mobilisierung der unterprivilegierten Bevölkerung in Brasilien deutlich niedriger als in Südafrika gewesen sei, seien dort klarere Erfolge in der Armutsbekämpfung und Ungleichheitsreduktion erzielt worden als in Südafrika, wobei allerdings in beiden Fällen weitergehende transformative Implikationen weder beabsichtigt waren noch ausgelöst wurden.
Wirtschaftswachstum durch Armutsreduktion (und umgekehrt: Armutsreduktion durch Wirtschaftswachstum), Verringerung der Ungleichheit, aber nicht allzu sehr zu Lasten der Reichen, Ermöglichung gesellschaftlichen Aufstiegs als wichtigere Schiene gegenüber einem unmittelbaren Abbau der Ungleichheit – dies waren vor allem die Maximen der Sozialpolitik in Brasilien. „Dennoch wurden die Einkommensungleichheiten im Gegensatz zu Südafrika beträchtlich reduziert.“ (368) Und: „Paradoxerweise sind auf Transformation des Bestehenden abzielende Diskurse in Südafrika präsenter als in Brasilien, das durch stärkere Veränderungen in der Ungleichheitsstruktur gekennzeichnet ist.“ (378) Trotz der geringen Erfolge sei die Stellung des ANC in seiner politischen Führungsrolle „nahezu unangefochten“, im Unterschied zur PT. Diese vom Verfasser registrierte Ungereimtheit bleibt letztlich offen, da der Hinweis auf unterschiedliche Diskurse (als letzter Erklärungsinstanz) wohl kaum zu überzeugen vermag.
Die sehr sorgfältige, breit angelegte und in vielen Einzelaspekten äußerst informative Studie ist im übrigen durch die jeweiligen Zwischenfazite nach den Kapiteln sowie durch die zahlreichen Tabellen, Schaubilder und Organigramme sehr gut lesbar und bietet eine fast lexikalische Fundgrube für jeden Leser, der sowohl an den beiden Ländern wie auch an der Theorie der Veränderung von Ungleichheitsregimen interessiert ist.
Dieter Boris
Gegen den Strich
Georg Fülberth, Explorationen. Politische Publizistik aus drei Jahrzehnten. Neue Kleine Bibliothek, Band 205, PapyRossa Verlag, Köln 2014, 207 S., 13,90 Euro.
Der Verlag hatte die wunderbare Idee, hinter dem Rücken des Autors zu dessen Fünfundsiebzigsten diesen Band zusammenzustellen. Die in ihm versammelten 28 Artikel liefern in der Tat das, was der Titel verspricht, Erkundungen und Überprüfungen. Alten, einst fraglos gewissen Antworten wird ebenso nachgegraben wie neue Fragestellungen aufgeworfen werden, stets leicht geschrieben und mit spitzer Feder, ohne je ins Feuilletonistische abzurutschen. Das Umschlagbild des Buches versinnbildlicht diese Tätigkeiten des Autors, zeigt es doch die Kombination von Kugelschreiber und Spaten in einem Gerät. Da kommt einem doch glatt die Marx’sche Version eines Shakespeare-Verses in den Sinn: Brav gewühlt, alter Maulwurf. Und natürlich ist es nicht möglich, die in dem Band zusammengefassten Resultate dieser Wühlarbeit en detail zu rezensieren.
Das immer wieder Verblüffende an Fülberths Artikeln ist die ihr inhärente Kombination von Hellsicht und Vorsicht. So schon im ersten Artikel, geschrieben 1987, über „Das scheinbare Ende als Chance. Vorläufiger Abschied von der KP als Massenpartei“, dessen Schlusswort zu ihrer aktuell oft paradoxen Situation auch dreißig Jahre später unvermindert gültig ist: Die kommunistischen Parteien „stehen für die revolutionäre Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft, aber sie haben ein ‚Monopol’ in dieser Position nur während einer nichtrevolutionären Situation, welche zugleich ihre Schwäche bedingt.“
Fülberth kann aber auch Klartext. Zum Terminus „Demokratischer Sozialismus“, den er einen „grauslichen Unbegriff“ nennt, vermerkt er sehr präzise: „Der einzige konkrete Inhalt, den er je hatte, ist: Verhinderung des Kommunismus.“ Zu dem immer wieder verbreiteten (und leider auch geglaubten) Ammenmärchen, hohe Staatsschulden seien „eine Last für die Kinder und Enkel, die sie einst zurückzahlen müssten“, stellt er die simple Frage „An wen denn?“, gibt die lapidare Antwort „an die Kinder und Enkel“ und folgert: „Wer von Opa und Oma Anleihen geerbt hat, bekommt die Auszahlung plus Zinsen. Letztere werden ebenfalls von Enkeln aufgebracht, aber von anderen.“
Vollkommen fremd ist ihm Deutschtümelei, gleich welcher Spielart. So etwa, wenn er im Jahre 2010 zum Thema „Sarrazin“ schrieb: „Weder steht er allein, noch fehlt es an verbreiteter Gegnerschaft und Unterstützung. Ein Blick über die Grenzen mag zeigen, dass Deutschland auch in solchen Fragen in der Normalität der großen Demokratien des Westens angekommen ist. In der Schweiz und in den Niederlanden gewinnt man mit Sarrazins Sprüchen Wahlen“, um nach weiteren Blicken sarkastisch zu konstatieren: „Deutschland ist in dieser übernationalen Bewegung des Rechtspopulismus nachgerade noch etwas zurück. Ist es am Ende doch nicht ganz so demokratisch?“ Dazu passt seine Aussage: „Eine Unterstützung der Faschisten durch die Industrie wie in Deutschland seit 1930, vor allem aber seit 1932, gibt es heute nicht, denn das wären zurzeit Investitionen, die nicht rentieren... Heute wird die Demokratie nicht zerschlagen, sondern unterlaufen: durch die Herrschaft der sogenannten ‚Märkte’.“
Selten, aber wenn, dann sehr treffsicher äußert er sich zum untergegangenen Staatssozialismus, der „sich letztlich die Arbeiterklasse in Ost und West zum Feind gemacht hat. Sie war in seinen letzten Jahrzehnten ebenso zuverlässig antikommunistisch wie die Kapitalistenklasse, und zwar in Ost und West.“ Im Eurokommunismus dagegen „war die Kritik am Staatssozialismus nur eine Facette einer Sozialdemokratisierung, der Auflösung und der Marginalisierung dieser Parteien, die ihre Ursache nicht in dieser Kritik hatte“.
Fülberths Scharfzüngigkeit ist gewiss nicht jedermanns und jeder Frau Sache, aber an- bis aufregend sind seine Aufsätze allemal. Wenn der Publizist Kurt Hiller einmal von sich sagte, es gäbe kein Paar Stühle in Deutschland, zwischen denen er nicht sitze, so trifft das in gewisser Weise auch auf Fülberth zu, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass alle Stühle, zwischen denen er sitzt, nur auf der linken Saalseite placiert sind. Wenn er jedoch zum 100. Geburtstag seines Lehrers Wolfgang Abendroth schreibt: „Er war – in verschiedenen Organisationen, Funktionen und Umständen – ein revolutionärer Kommunist. Das ist eine Sache nicht von heute, sondern von übermorgen“, so ist hier entschiedener Widerspruch anzumelden, und zwar nicht zu der darin ausgesprochenen Charakterisierung des Lehrers, wohl aber zu der unausgesprochenen des Schülers, denn der revolutionäre Kommunist Fülberth lebt nicht im Übermorgen, sondern im Heute.
Thomas Kuczynski
Sozialistischer Außenseiter
Christoph Jünke, Leo Koflers Philosophie der Praxis. Eine Einführung, Laika, Hamburg 2015, 231 S., 18,90 Euro
Jünke lässt Leo Kofler (1907-1995) nicht los. Nach einer umfassenden Biografie (2007) und zwei Sammelbänden (2001 und 2011) folgt nun die erste Einführung in das Denken des linken Außenseiters. Der Band ist, so Jünkes zutreffende Selbsteinschätzung, „Wiederholung und Vertiefung“ gleichermaßen und hat den Anspruch, die „anhaltende […] Aktualität der Theoreme und Haltungen“ Koflers vor Augen zu führen (9). Jünke legt eine „Auswahl alter, überarbeiteter und neuer Beiträge“ vor, die als „Neben- und Folgeprodukte“ der früheren Veröffentlichungen entstanden sind (ebd.). Ferner versteht sich das Buch auch als „theoretischer Ergänzungsband“ zu Jünkes 2014 erschienen Streifzügen durch das rote 20. Jahrhundert (10).
Kofler war zu Lebzeiten „an den Rand der Gesellschaft und ihrer Bewegungen“ gedrängt und auch posthum wird er noch immer weitgehend „ignoriert“. Vor diesem Hintergrund stellt Jünke der „neue[n] Generation“ die „Aufgabe einer retrospektiven Aneignung“ (9), für die er mit diesem Buch eine wichtige, rundum gelungene Grundlage schafft.
Neben dem Vorwort umfasst der Band acht Kapitel. Im ersten stellt Jünke „das zentrale werktheoretische Schaffen“ samt Koflers „Verständnisses marxistischer Philosophie“ vor (10f.). Dem folgt die Darstellung der Koflerschen Kritik des Stalinismus (11). Im dritten Kapitel erkundet Jünke die Verknüpfung des „humanistische[n] Marxismusverständnis“ Koflers mit dessen „anthropologische[r] Erkenntnistheorie“. Kofler als Kritiker Adornos und der Frankfurter Schule steht im Fokus der Kapitel vier und fünf (ebd.). Im sechsten Kapitel arbeitet Jünke eine Auseinandersetzung um Kofler auf, in der rechte, darunter ehemals linke, Theoretiker versuchten, diesen national-sozialistisch zu wenden (151). Kapitel sieben ist eine kritische Auseinandersetzung mit konkurrierenden Kofler-Interpretationen von Hans Heinz Holz und Werner Seppmann (12), die Jünke sachlich und messerscharf formuliert. Zuletzt folgt die Darstellung zum Leben und Wirken Koflers im Rahmen des 20. Jahrhunderts (209-225).
Jünke dokumentiert Koflers umfangreiches Schaffen ausführlich. Dieser beschäftigte sich mit der „Methodologie des Marxismus, d[er] Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, d[er] Soziologie und Kritik des sozialstaatlichen Kapitalismus“ sowie mit „Anthropologie“ und „Ästhetik“ (15). Er habe „Theorie in praktischer Absicht“ betrieben, auch wenn stets von der „Tagespolitik seiner Zeit“ distanziert (16). Jünke bewertet Kofler als „Erneurer des marxistischen Denkens“, der „groß geworden“ ist „im Marxismus der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert“ und „Schüler“ von Max Adler war (17). Zugleich verortet er ihn im Rahmen des Westlichen Marxismus, „gekennzeichnet durch einen intensiven Rückgriff auf Hegel und den jungen Marx“ (17f.). Nur einige dieser Punkte werden im Weiteren vor Augen geführt werden.
Kofler differenziere sich von anderen Denkern durch seine besondere Betonung „des menschlichen Bewusstsein[s]“ sowie der „‘relative[n] Autonomie des Ideologischen’“ (19). So entwickele sich die Geschichte nach Kofler „mittels des Bewusstseins, durch das Bewusstsein hindurch“ (20). Hierin sieht Jünke eine Übereinstimmung mit Antonio Labriola und dessen Philosophie der Praxis (ebd.), womit sich die Herkunft des vorliegenden Buchtitels erklärt, der aber auch Assoziationen mit Antonio Gramsci hervorruft, leider ohne Gegenstand der Abhandlung Jünkes zu sein.
Nach dem Ende Zweiten Weltkriegs und seiner Flucht aus der DDR, die er aus ideologischen Gründen verlassen musste, wurde Kofler zu einem unablässigen Kritiker der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft – die er als eine Klassengesellschaft charakterisierte – und des „neokapitalistischen Konsumkapitalismus“, insbesondere aus „sozialpsychologischer Sicht“ (31f.). Dem Proletariat fehlte aus Koflers Perspektive, als Resultat der versagenden Sozialdemokratie und des Stalinismus, „das Bewusstsein seiner gesellschaftlichen und geistigen Armseligkeit“ (33f.). Diesen Zustand hielt Kofler für grundsätzlich veränderbar und er plädierte für einen „dritte[n] Weg“, „innerhalb der sozialen Bewegungen“. Als unabdingbare Grundlage für dessen Realisierung nannte Kofler die Beseitigung der Bürokratisierung der Arbeiterbewegung (37). Als Träger dieses Prozesses setzte er auf eine neue Avantgarde (ebd.), die er „mal die progressive, mal die humanistische Elite“ (38) nannte und aus „Individuen“ mit „‘höhere[m]’, kritischere[m] Bewusstsein“ bestand, die aber „keine besondere“ oder „geschlossene Gruppe“ bildeten, noch Bestandteil einer spezifischen „Klasse oder Schicht“ waren. Kofler charakterisierte sie als „widerspruchsvoll“ und „unbeständig, gesellschaftlich machtlos“ (39). Ferner handele es sich bei ihr nicht um eine Ablösung der Arbeiter, sondern nur um eine Art von Übergangslösung, gekennzeichnet von einem Hang zum Utopismus, Pessimismus und Resignation sowie Optimismus gleichermaßen (39). Kofler habe damit, so Jünkes Urteil, in den 1950er Jahren treffend den Aufstieg der Neuen Linken „beschrieben und analysiert“ (40).
Ebenfalls in den 1950er Jahre begann Kofler mit der Erarbeitung einer „marxistischen Anthropologie“, womit er sich in guter Gesellschaft befand: u.a. Henri Lefebvre, Erich Fromm, Karel Kosik waren auf dem gleichen Gebiet tätig (92). Im Zuge dessen formulierte Kofler eine formale, aber keine inhaltliche Bestimmung des Menschen. Zu den Kennzeichen der Menschen gehörten die menschliche Vernunft, die Geschichtlichkeit des Menschen, die physische und psychische Organisation des Menschen etc. (96). Jünke gelingt es, Koflers spezifischen Ansatz als einen originellen und noch immer überlegenswerten Beitrag zur Frage und Diskussion eines sozialistischen Humanismus darzustellen. Dabei ist es Jünkes Anliegen, Kofler gegen Althusser und dessen Absage an einen Humanismus zu wenden. Über das Ziel hinaus schießt Jünke, wenn er bei Adorno und Foucault andeutungsweise von einem Antihumanismus spricht (105), ohne dies genauer zu vertiefen.
Dass Jünke differenziert und kritisch mit Kofler umgeht und auch Adorno reflektiert behandelt, geht insbesondere aus dem Kapitel über die Ästhetik-Diskussion zwischen Adorno und Lukacs hervor. Jünke benennt Kofler ferner als den ersten Marxisten, der „die Frankfurter Sozialphilosophie grundsätzlich und theoretisch fundiert kritisiert“ habe. Dabei war er bei genauerer Betrachtung kein Kritiker der Person Adorno, sondern vielmehr der Kritischen Theorie als Schule (136ff.). Insbesondere Habermas stand dabei im Fokus, dem Kofler „antimarxistischen Konformismus“ vorwarf (140). Problematisch sei, dass Kofler aber in diesem Zusammenhang zu viel an „Entlarvungskritik“ betrieben habe (146) und eine systematisch, analytisch tiefreichende Auseinandersetzung unterblieb (145).
Das zu Lebzeiten Koflers gerade auf Seiten der gesellschaftlichen Linken vorherrschende Schweigen über seine Beiträge zur marxistischen Theorie hat ihn „in eine gewisse Verbitterung und Verhärtung getrieben“ (143). Und so verblieb er auch deshalb ein „Sonderling“, der „nicht schuldbildend“ wirkte (223).
Jünke betont die Stärken und benennt Koflers Schwächen und Fehler. Hier ist vor allem Koflers Bruch in den 1980er und 1990er Jahren mit seinem früheren „Freiheitsverständnis“ und Denken zu nennen, als dessen Ursache Jünke die „Enttäuschung“ Koflers über die reale Entwicklung der progressiven Elite ansieht (71). So „entlastete und entschuldigte“ Kofler „das stalinistische System“ (69), als dessen Kritiker er noch in den 1950er Jahren gewirkt hatte, und entwickelte gar eine „Erziehungsdiktatur von oben“ (70).
Es handelt sich um eine gelungene, lesenswerte und sprachlich elegante Einführung, die die Leserschaft motiviert und ihr die Mittel in die Hand gibt, sich eigenständig und tiefgehender mit Kofler auseinanderzusetzen, ohne dabei den Weg vorzugeben. Ob sich die Hoffnung Jünkes erfüllt, eine wie auch immer geartete kleine ‚Renaissance‘ Koflers einzuleiten, ist fraglich, aber die eine oder andere Arbeit, die sich mit dessen Aktualität auseinandersetzt, wäre zu begrüßen. Überzeugende Anhaltspunkte hat Jünke hiermit vorgelegt.
Sebastian Klauke
Kapitalismus und Rassendenken
Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 332 S., 28 Euro
Rassismus und Rassedenken werden gemeinhin als dem „modernen“ Kapitalismus zumindest äußerliche, wenn nicht gar wesensfremde Kategorien betrachtet, auch wenn eingeräumt wird, dass dieser in der Praxis Rassedifferenzen gerne zu Profitzwecken ausnutzt. Der kameruner Philosoph und Historiker Achille Mbembe, bekannt vor allem als Denker der Postkoloniale, zeigt in dem vorliegenden Essay dagegen, dass der Rassismus als Grundzug der Moderne erst mit dem Kapitalismus eine systematische, in den gesellschaftlichen Beziehungen fest verankerte Existenz gewann, dass er integraler Bestandteil des Kapitalismus ist. „Der Aufschwung des Liberalismus als Wirtschaftslehre wie auch als besondere Regierungskunst erfolgt vor dem Hintergrund des Sklavenhandels ...“, (153), d.h. der transatlantische Sklavenhandel und die mit ihm verbundene Plantagenwirtschaft war jene Form, in der der Kapitalismus zuerst als globale Erscheinung Realität wurde. Untrennbar damit verbunden ist die Reduzierung der Menschen auf Körper, die durch das Aussehen unterscheidbar sind: Der Sklave war zugleich Neger und Afrikaner. Der alles durchdringende Rassismus erhält in der Figur des Negers seinen wichtigsten Ausdruck. „Aus der Sicht der merkantilistischen Vernunft ist der Negersklave Objekt, Körper und Ware.“ (153) „Die Geburt des Rassensubjekts – und damit des Negers – steht im Zusammenhang mit der Geschichte des Kapitalismus.“ (325) Auch für Marxisten eine herausfordernde These, die in der Kategorie der abstrakten Arbeit von der Körperlichkeit des Menschen absieht. Mbembe belegt seine These u.a. durch die Analyse afrikanischer Literatur, in der der Körper und dessen Vereinnahmung eine wichtige Rolle spielen. Dabei kann er allerdings nicht verhindern, dass sein christlich-religiöser Hintergrund manchmal einseitigen Interpretationen Vorschub leistet.
Das Prinzip der Rasse wurde durch den modernen Kolonialismus verallgemeinert, da dieser auf der Unterscheidung zwischen jenen Teilen der Menschheit basiert, für welche die Ideen der Freiheit, der Gleichheit und der Demokratie Gültigkeit besitzen, und jenen, für die – aus welchen Gründen auch immer – dies nicht gilt. Die Hautfarbe, die Beschaffenheit des Körpers, waren und sind dabei die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale. Und in dem Maße, wie die Herrschaft der ‚weißen’ Rasse (des Westens) heute gefährdet erscheint, in dem Maße gewinnt die Hautfarbe wieder verstärkt an Bedeutung. Denn die Herrschaft des Westens basiert auf der Vorstellung, „die nichteuropäischen Völkerschaften seien mit einem minderen Sein geschlagen“, d.h. auf der Vorstellung der Rasse. Daher erleben wir heute, an der Wende zum 21. Jahrhundert „nach einem kurzen Zwischenspiel“ „eine Rückkehr zu einem biologischen Verständnis der Unterscheidung zwischen menschlichen Gruppen ...“. (48) In Zeiten der Bedrohung der weißen (= westlichen) Vorherrschaft „funktioniert die Rasse wie ein Sicherheitsdispositiv“, „die Rasse erlaubt es, Bevölkerungsgruppen zu identifizieren und zu definieren, von denen angeblich jeweils besondere und mehr oder weniger zufällige Gefahren ausgehen.“ (77) Wer es als 'Weißer' am Flughafen eilig hat wird darauf achten, dass er in der Warteschlange vor den Kontrollen nicht hinter Menschen dunkler Hautfarbe zu stehen kommt – er kann sicher sein, dass es dann lange dauern wird. Nebenbei macht Mbembe auch auf die Vermischung von geografischen und rassischen Kategorien aufmerksam: Afrikaner sind Neger sind schwarz, Europäer sind Weiße sind weiß – ein Mythos, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Alle diese Zusammenhänge macht Mbembe auf eindringliche Art sichtbar, und auch die Konsequenzen, die diese Praxis für die zum „Neger“ erklärten Menschen und deren Denken hat. Die Kritik der schwarzen Vernunft ist eine Kritik an allen Denkweisen, welche die körperlichen Unterschiede in den Mittelpunkt stellen. Er kritisiert somit auch jene Denkweisen, die sich am „Status des Opfers“ orientieren, die daran hindern, „ein Mensch unter anderen Menschen“ zu sein, wie er mit Bezug auf Frantz Fanon formuliert (324). Implizit ist damit auch eine Kritik an Positionen der „Négritude“ verbunden: „Man wehrt sich nicht gegen die Zugehörigkeit des Negers zu einer eigenen Rasse, sondern gegen das an diese Rasse geknüpfte Vorurteil ihrer Minderwertigkeit.“ (173) Damit, so Mbembes Kritik, werde die Fiktion der Rasse übernommen (172).
Obwohl Mbembe den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, Rassismus und dem „schwarzen Denken“ scharfsinnig entwickelt indem er zeigt, dass „der Kapitalismus stets auf das Instrument der Rasse angewiesen (war), um die Ressourcen der Erde auszubeuten“ und heute dabei ist, „sein eigenes Zentrum zu rekolonisieren“, so dass „die Aussichten auf ein Schwarzwerden der Welt deutlicher als jemals zuvor zutage treten“ (325), fehlt ihm jene kritische Dimension, die nur in einer antikapitalistischen Praxis bestehen könnte. Es wäre unsinnig, von ihm hier ein Programm der Überwindung des Kapitalismus zu verlangen. Darum geht es nicht. So behauptet er, dass alle Versuche der Klassifizierung, der Einfriedung, der Grenzziehung, der Hierarchisierung vergeblich seien angesichts der Tatsache, dass es nur eine Welt gibt (329). Dem möchte man gerne zustimmen. Warum diese Grenzziehungen aber vergeblich sein sollen, belegt er nicht. Angesichts der völlig andersartigen Realität bleibt das bei ihm ein frommer Wunsch. Seinen an vielen Stellen erhobenen Anspruch „Fanon heute erneut zu lesen…“ (310) kann er nicht einlösen. Dessen Perspektive der antikolonialen Gewalt lehnt er zwar nicht explizit ab, scheint sie aber
auch nicht teilen zu wollen. Was an dessen Stelle treten könnte bleibt schwammig: “Wir erleben übrigens schon heute, dass vielerorts rund um den Erdball neue – zellenartige, horizontale, laterale – Formen des Kampfes entstehen, die zum digitalen Zeitalter passen.“ (311). Mehr erfahren wir leider nicht zu diesem Thema.
Trotzdem ist dieses als philosophischer Essay aufgebaute Buch von großer aktueller Bedeutung in Zeiten, wo Bevölkerungen gerne nach ethnischen, religiösen oder anderen vermeintlich fundamentalen Merkmalen sortiert werden und wo in Konflikten der einfache Rückgriff auf rassische/nationale/religiöse Merkmale der Akteure schon als Erklärung gilt. Deutlich wird der rassistische Kern von gedankenlosen Parolen nach dem Muster „Je suis Charlie“ zur Verteidigung ‚unserer’ „westlichen Werte“ (was unterstellt dass diese besser seien als andere). Kleinere Irrtümer (wie auf S. 82, wo Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ zu „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie“ werden) zeigen, dass auch große und renommierte Verlage am Lektorat sparen.
Jörg Goldberg
1 Diese Auseinandersetzungen sind verschiedentlich dokumentiert worden. Vgl. Günter Benser, Was geschah mit den Archiven und Bibliotheken der Parteien und Organisationen der DDR? Berlin 2008 (Helle Panke).
2 Günter Benser/Michael Schneider (Hrsg.), „Bewahren – Verbreiten – Aufklären“. Archivare, Bibliothekare und Sammler der Quellen der deutschsprachigen Arbeiterbewegung. Bonn-Bad Godesberg 2009.
[1] Bröckers war Mitbegründer der taz, publizierte zuletzt u.a. Bestseller zu 9/11 und dem Mord an John F. Kennedy. Schreyer schreibt als freier Journalist für Telepolis und Gobal Research; letztes Buch ‚Faktencheck 9/11’.
[2] Weltherrschaft: das „Great Game“, 41- 50; CIA: sechzig Jahre Erfahrung in der Ukraine, 77 - 86
[3] Öl, Gas und Sicherheit: Willkommen in Pipelinistan, 51 – 68; Besser als Krieg: Farb-Revolutionen und Fake-Demokratie, 69- 77
[4] Siehe Prolog, 7 – 10. Lauterbach war Auslandskorrespondent für deutsche öffentlich-rechtliche Medien in der Ukraine und in Weißrussland. Seit 2013 schreibt er als freier Journalist aus Polen unter anderem für die Tageszeitung ‚junge welt’.
[5] Unter anderem die Strukturanpassungspolitik des IWF, den Konflikt um EU-Assoziierungsabkommen versus Eurasische Zollunion mit Russland usw.
[6] Kronauer ist Sozialwissenschaftler und freier Journalist, Redakteur des Nachrichtenportals german-foreign-policy.com
[7] Historiker und Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung; Kapitel „Die Befreiung der Nation“ – Wie sich Staatlichkeit und Nationalismus der Ukraine entwickelten (21 – 57).
[8] Sie baute systematisch den Ex-Boxer Vitali Klitschko als politische Führungsfigur in der Ukraine auf.
1 Sohns wichtigster Kronzeuge, Robert Kurz, sprach mit Abscheu vom „Arbeiterbewegungsmarx“, im Gegensatz zum „esoterischen“ Marx, den er für den wirklichen hielt. Letzterer habe angeblich behauptet, dass der Kapitalismus irgendwann nicht „durch den ‚starken Arm’ der Arbeiterklasse ... sondern durch den Kolbenfresser der Kapitalmaschine“ zu einem „unheimlichen Stillstand“ käme (Marx lesen: Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert. Herausgegeben und kommentiert von Robert Kurz, Frankfurt/M 2001, S. 277). Vgl. die Besprechung in Z. 48 (Dezember 2001), S. 193ff.
1 http://www.axelspringer.de/artikel/Grundsaetze-und-Leitlinien_40218.html
2 Der § 118 des Betriebsverfassungsgesetzes schränkt für Journalisten und andere „Tendenzträger“ u. a. den Kündigungsschutz ein und erlaubt die Entlassung wegen unerwünschter politischer Haltungen.
3 Christoph Neuberger, Meinungsmache statt Macht, in: Medium Magazin, München, Heft 11/2014.
http://de.ejo-online.eu/13464/ethik-qualitat/13464 (dort auch die Replik Krügers, die Duplik Neubergers und die Wertung Hallers).
4 1) So PEGIDA-Unterstützer Udo Ulfkotte, Gekaufte Journalisten. Wie Politiker, Geheimdienste und Hochfinanz Deutschlands Massenmedien lenken, (im zur extremen Rechten gehörenden) Kopp-Verlag Rottenburg 2014. (2) Manuel Puppis u.a., Arbeitsbedingungen und Berichterstattungsfreiheit in journalistischen Organisationen. Studie der Universität Fribourg (Schweiz), Dezember 2014. Zusammenfassung unter http://medienwoche.ch /2015/01/30/ausbildung-medienkritik-und-finanzierung-staerken/; dort auch Download der kompletten Studie. (3) Nicole Joens, Korrupte Medienmacht. CINDOGO-Verlag München/Berlin 2015.