Johanna Klages, Meinung/Macht/Gegenmacht. Die Akteure im politischen Feld. VSA: Verlag, Hamburg 2009, 191 S., Euro 16,80.
„Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“ soll Mao-Tse-Tung einst gesagt haben. Dem hatte Hannah Arendt vehement widerprochen. Mao habe Macht mit Gewalt verwechselt. Beide Phänomene seien aber begrifflich streng auseinander zu halten, obwohl sie – wie Arendt zugesteht – in der politischen Realität häufig zusammen aufträten. Gewalt habe grundsätzlich instrumentellen Charakter, während Macht ein kommunikatives Phänomen sei. Dort, wo Menschen sich aufgrund eines gemeinsamen Verständnisses zu dem Ziel der Organisation des gemeinsamen Zusammenlebens vereinten, entstehe politische Macht. Zwar könne solchermaßen zustande gekommene Macht prinzipiell durch die Anwendung von Gewalt vernichtet werden, dies sei aber regelmäßig verbunden mit einem Verlust an Macht auf Seiten der ‘siegenden’ Gewalthaber. Dass es sich dabei nämlich häufig um einen Pyrrhussieg handele werde deutlich, wenn die hinter der Gewalt stehende politische Machtstruktur – das zuvor fraglos akzeptierte und als ‘legitim’ angesehene System von Befehl und Gehorsam – zusammenbreche. Solange die Gewaltapparate (Polizei, Armee etc.) bereit seien, von ihren Waffen im Sinne der Befehlshaber Gebrauch zu machen, sei die Machtstruktur des Staates intakt. „Ist das nicht mehr der Fall, so ändert sich die Situation jählings.“ (Arendt) Nun zeige es sich, dass die Anwendung der Staatsgewalt in letzter Instanz abhängig sei vom Willen und Bewusstsein der Angehörigen des staatlichen Gewaltapparates. Sofern und soweit diese nämlich in das Leben der Gesellschaft integriert sind, werden sie teilhaben am Prozess der politischen Meinungs- und Willensbildung und daher ggf. die Zersetzung der bisherigen Staatsmacht beschleunigen. Damit ist – nach Arendt – eine Sitution entstanden, in der eine Revolution oder ein Regimewechsel möglich, wenngleich keineswegs notwendig ist. Zu einem erfolgreichen politischen Wechsel bedürfe es schließlich einer hinreichend großen Gruppe von Menschen, die bereit und Willens seien, die politische Macht zu ergreifen und den bestehenden Gewaltapparat entweder zu übernehmen, zu reformieren oder zu zerschlagen – je nach den Vorstellungen dieser Gruppe von der Form des zukünftigen gesellschaftlich-politischen Zusammenlebens. Als Resultat dieser Arendtschen Überlegungen kann festgehalten werden, dass politische und insbesondere staatliche Macht, auch wenn sie auf die eine oder andere Weise mit Gewalt bzw. einem Gewaltapparat verbunden ist, langfristig und in letzter Instanz auf dem Bewusstsein der jeweiligen Gesellschaftsmitglieder – seien sie nun Bürger oder Untertanen – beruht, d.h. in letzter Instanz von ihrer ‘Meinung’ über Legitimität oder Illegitimität der politischen Ordnung abhängt.
Damit ist freilich für die konkrete Analyse der politischen Macht noch nicht viel gewonnen, falls man nicht weiß, wie das gesellschaftlich-politische Bewusstsein der Menschen, die öffentliche Meinung – vor allem in einer ökonomisch, sozial und kulturell gespaltenen oder differenzierten Gesellschaft – hervorgebracht wird, sich strukturiert und entwickelt. Dies ist das Thema, dem sich Johanna Klages in ihrem Buch zuwendet.
Bekanntlich gibt es zahlreiche Versuche, die damit verbundenen Probleme, insbesondere das tatsächliche oder bloß vermeintlich paradoxe Phänomen zu erklären, dass große Menschengruppen – darunter gerade auch ausgebeutete und unterdrückte Klassen, Schichten – vielfach ihre eigenen Interessen nicht zu erkennen scheinen, jedenfalls sich nicht aktiv dafür einsetzen, wenn nicht sogar gegen ihre eigenen Interessen handeln. In der Vergangenheit hat man etwa von einem marxistischen Standpunkt aus versucht, diesen ‘verkehrten’ Inhalt des spontanen gesellschaftlichen (Alltags)Bewusstseins ‘subalterner’ Klassen aus der spezifischen Struktur der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ‘abzuleiten’ oder im Rahmen einer an Gramsci orientierten Ideologietheorie phänomenologisch zu deuten bzw. kulturhistorisch zu beschreiben.
Obwohl diese Ansätze durchaus nicht ohne Erkenntnisse und praktische Bedeutung geblieben sind, erscheinen sie jedoch angesichts des dramatischen Verlusts an kritischem Bewusstsein in den subalternen Klassen, einschließlich des Bedeutungsverlusts ihrer traditionellen Organisationen, allesamt unzureichend. Deshalb konkretisiert und konzentriert Johanna Klages ihre Untersuchung auf die Frage, wie und mit welchen Mitteln es dem ‘Neoliberalismus’ in den letzten drei Jahrzehnten gelingen konnte, die Meinungsführerschaft (Hegemonie) in der Gesellschaft, d.h. vor allem im ‘Mittelstand’ ebenso wie in den intellektuellen Milieus und vielfach selbst in den Unterschichten zu erlangen. Um die ‘verborgenen Mechanismen der (Meinungs)Macht’ aufzudecken stützt sie sich in erster Linie auf die theoretischen und empirischen Untersuchungen Pierre Bourdieus.
Bourdieu beruft sich auf Pascal, der schon im 17. Jh. wusste, „daß keine Macht sich umstandslos in ihrer Rohheit, auf willkürliche Weise, ausüben kann; sie muß sich tarnen, sich verbergen, sich dafür, daß sie existiert, wie sie es tut, rechtfertigen; es muß ihr gelingen, die Anerkennung ihrer Legitimität zu erwirken, indem sie die Verkennung der Willkür, die ihr zugrunde liegt, bewirkt.“ (Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, S. 76.) Wie das im Falle der neoliberalen Hegemonie gelingen konnte und welche Möglichkeiten des Aufbaus einer demokratisch, ggf. auch demokratisch-sozialistischen Gegenmacht bestehen, versucht die Autorin anhand von konkreten Beispielen aus den letzten drei Jahrzehnten in Deutschland zu klären.
Theoretischer Ausgangspunkt ihrer Analysen ist Bourdieus Verständnis von politischer ‘Repräsentation’ (11-24), das er im Rahmen seiner Konzeption gesellschaftlicher ‘Felder’, hier des politischen Feldes – oder des ‘Felds der Macht’ – entwickelt hat. Demnach bestimmt die Struktur des Feldes der Macht die Formen der politischen Repräsentation. Innerhalb der modernen politischen Systeme reichen sie vom reinen Parlamentarismus (‘freies Mandats’) über die ‘Parteiendemokratie’ bis hin zur ‘direkten’ Demokratie (hier wiederum vom ‘imperativen Mandat’ bis zum Plebiszit). Für die konkrete Ausgestaltung der Repräsentation ist entscheidend, wer (Stellvertretung), mit welcher Überzeugungskraft (Darstellung) die Interessen oder Ziele (Vorstellungen) der konkurrierenden Akteure des politischen Feldes (der Bürger) öffentlich zum Ausdruck bringt (43-48). Hier spielt nun die Kategorie der ‘Öffentlichkeit’ in die Theorie des ‘politischen Feldes’ hinein. Erst sie macht die Analyse der Dynamik des Feldes als ‘Prozess’ möglich. Es kommt bei dieser Analyse darauf an herauszufinden, wem es mit welchen Mitteln gelingt, im machtpolitischen Kampf die ‘Deutungshoheit’ über das, was als ‘legitim’ und/oder als ‘Gemeinwohl’ etc. gelten soll, zu erlangen. Entscheidend ist hierbei die Untersuchung der unterschiedlichen ‘Kapitalausstattungen’ der Akteure, d.h. der Verfügungsgewalt über die Mittel zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung (vom Bildungssystem bis zu den ‘Medien’). Die Analyse von Struktur und Funktion politischer (dazu zählen auch die gezielt entpolitisierenden) Medien bildet damit das eigentliche Zentrum der weiteren Untersuchung.
Leider überfrachtet Johanna Klages ihren ansonsten konsistenten Ansatz mit einem Exkurs zu Habermas’ Untersuchung zum ‘Strukturwandel der Öffentlichkeit’, der sich im Kontext der Bourdieuschen Überlegungen als wenig anschlussfähig erweist (u.a. 66-72, 94-99). Sinnvoller erscheint dagegen der knappe – und daher naturgemäß nicht lückenlose – Versuch, die Grundzüge der Sozialgeschichte der letzten Jahrzehnte (73-82) mit den Strukturveränderungen des politischen Feldes (83-99) zu vermitteln und das Resultat schließlich als „Krise der politischen Repräsentation“ (100-117) zu interpretieren; ein Resultat, das etwa mit Colin Crouchs derzeit viel diskutiertem Begriff der ‘Postdemokratie’ weitgehend übereinstimmt.
Wer sich von der bisweilen etwas hermetisch klingenden Sprache der Autorin („Im Folgenden seien beispielhaft die repräsentativen Effekte feldfremder Akteure auf die Genese politischer Prozesse im politischen Feld dargestellt“ – 118) nicht abschrecken lässt, wird mit konkreten Untersuchungen einzelner Aspekte der bundesdeutschen Meinungsbildung (Begriffsbesetzung, am Beispiel von ‘Reform’, Diskursgenerierung, Diskurs-Mächte), der Rolle sog. Think-Tanks (insbesondere der Bertelsmann-Stiftung), von Expertenkommissionen (prominent der ‘Sachverständigenrat’) etc. entschädigt.
Dass Johanna Klages angesichts der von ihr selbst geschilderten Macht der Meinungsmacher am Ende nur bescheidene Alternativen aufzuzeigen vermag, wird man ihr nicht anlasten können. In der Tradition Bourdieus wendet sie sich vor allem an die kritischen Intellektuellen (Wissenschaftler): „Wir benötigen mehr als bisher eine wissenschaftliche Kritik der herrschenden Wissenschaften und eine Analyse, in wessen Dienste diese sich stellen. Wir benötigen mehr als bisher sozialwissenschaftliche Analysen über die Gesellschaft, um Perspektiven über das lediglich Aktuelle hinaus entwickeln zu können.“ (183)
Werner Goldschmidt