Buchbesprechungen

Organizing

von Olaf Gerlach zu Assoziation A)
Dezember 2010

Die große Wut und die kleinen Schritte. Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2010, 192 S., 12,80 Euro.

Die Gewerkschaften sind seit einiger Zeit in der Krise. Das gilt vor allem dort, wo sie über Vertretungs- und Durchsetzungsfähigkeiten für nennenswerte Bevölkerungsanteile verfüg(t)en – in den so genannten höher entwickelten (OECD-)Industrielän-dern. Manifest wird die Krise an Mitgliederverlusten und abnehmender Durchsetzungskraft bzw. der Fähigkeit, in der Vergangenheit Erkämpftes zu verteidigen. Einige Gewerkschaften setzen diesem Trend seit geraumer Zeit Erneuerungsversuche entgegen. Von „Union Renewal“ ist die Rede, die diesbezüglichen Forschungen haben sich mittlerweile als „labor revitalization studies“ (LRS) etabliert.

Wichtigster Ansatz zur Erneuerung sind die zuerst Mitte der 1980er Jahre in den USA entwickelten Praxen des „Organizing“ , mit denen in den 1990er Jahren einige als spektakulär geltende Erfolge erzielt wurden. Anschauungsmaterial dafür lieferte der auch hierzulande bekannte Ken Loach-Film „Bread and Roses“ . Englische und australische Gewerkschaften folgten Anfang der 1990er Jahre diesen Versuchen. Ab etwa 2005 wurde auch in den deutschen Gewerkschaften und in ihnen nahe stehenden Forschungs- und AktivistenInnenkreisen begonnen, über Organizing zu diskutieren und zu forschen. Mittlerweile ist Organizing hierzulande zu einem zwar noch kleinen, aber wachsenden Bestandteil der gewerkschaftlichen Arbeit geworden.

Organizing bedeutet zunächst einmal Mitgliedergewinnung. Allerdings haben sich in den letzten drei Jahrzehnten die Bedingungen für gewerkschaftliche Auseinandersetzungen verändert. In vielen Branchen ist die Nachfrage nach Arbeitskräften stagnierend oder rückläufig. In manchen Ländern, so auch in Deutschland, gilt das – zyklenübergreifend – für die Wirtschaft insgesamt. Geschwächt wird die Kampfkraft der Lohnabhängigen zweitens durch Spaltungen der Belegschaften. Hierzu zählen die bekannten Instrumente wie Outsourcing, Verlagerung und räumliche Aufspaltung von Produktionsschritten – oft über Ländergrenzen hinweg, Einsatz von Leiharbeit etc. Drittens haben es die Lohnabhängigen und die Gewerkschaften mit einer Zunahme der Problemlagen zu tun. Bis in die 1970er und 1980er Jahre ging es vor allem um Fragen der Lohnsteigerung, Arbeitszeitverkürzung und (guter) Arbeitsgestaltung. Jetzt geht es außerdem – und zusätzlich zu den unter zweitens genannten Punkten – um (den Kampf gegen) Arbeitsplatzabbau, Tarifflucht, die Ausdünnung des Personals, steigende Arbeitsbelastung und gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen, Arbeitszeitflexibilisierung, Kündigungen wegen Bagatelldelikten, Nicht-Übernahme nach der Ausbildung, Einsatz von PraktikantInnen etc. Das alles passiert vor dem Hintergrund gesteigerter Ängste vor Arbeitslosigkeit.

Diese Konstellation untergräbt das alte Stellvertretermodell des Kampfes und der Verhandlung. Die Mitglieder wurden hierbei vor allem für die Arbeitskämpfe und die zwar punktuell, aber mit meist branchenweiter Intention geführten Streiks benötigt. Den Repräsentanten der Gewerkschaftsmitglieder, vor allem den Gewerkschaftsfunktionären, aber auch (starken) Betriebsräten kam die Rolle zu zu entscheiden, wann und wofür gestreikt wurde, die Verhandlungen mit der Kapital- und Arbeitgeberseite zu führen und über die Höhe der Zugeständnisse in den Verhandlungen zu entscheiden. Schließlich kam (und kommt) den GewerkschaftsfunktionärInnen die Rolle der Einflussnahme auf politischem Gebiet zu, etwa in Form von Wahlkampfspenden (z.B. USA) oder Wahlempfehlungen und Lobbyarbeit (z.B. Deutschland). Mit dem Rückgang der Nachfrage nach lebendiger Arbeit schwindet aber generell die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen. Überdies geraten die Repräsentanten mit der Diversifizierung der Problemlage in eine Überlastungssituation, da es „‘für jede spezifische betriebliche Herausforderung spezifischer Antworten bedarf’“ – wie Birke einen Aktivisten zitiert (40).

Vor diesem Hintergrund ist Organizing als Versuch gewerkschaftlicher Revitalisierung mehr als nur Mitgliedergewinnung. Dass diese mit einer Stärkung der Rolle der Mitglieder einhergehen muss, ist generell unbestritten. Diskutiert wird in Praxis und Wissenschaft (LRS) aber, wie die Selbstermächtigung und die Wiederherstellung der Durchsetzungsfähigkeit gelingen kann, – die vielleicht wichtigste Frage: – ob sie gelingen kann, und wie stark sich zukünftige Gewerkschaftsmodelle vom alten Stellvertretermodell unterscheiden sollen oder müssen.

Birke stützt seinen „Essay“ (12) zu diesen Fragen nicht nur auf eine solide Rezeption der Gewerkschaftsforschung der letzten Jahre. Er ist seit Mitte der 1980er Jahre gewerkschaftlich aktiv und war an den wissenschaftlichen und gewerkschaftlichen Diskussionen um Organizing von Anfang an beteiligt. Er berichtet aus Organizing-Projekten, aus Gesprächen mit OrganizerInnen und GewerkschaftsfunktionärInnen auf allen Ebenen. Häufig werden in die Ausführungen Beschreibungen eigener Hoffnungen und Zweifel eingeflochten. Zu Anfang blitzt kurz die Frage nach der Wiederherstellung der Durchsetzungsfähigkeit auf: Können die Gewerkschaften mit Organizing „ihrer schwindenden Verhandlungsmacht und den anhaltenden Massenaustritten ihrer Mitglieder erfolgreich entgegenwirken“ (7). Eine Antwort darauf gibt es nicht.

Birkes Ziel ist stattdessen, „die Konfliktlinien nachzuzeichnen, die im Organizing jetzt schon offenbar werden“ (12) und vor allem „eine Debatte über (die) Zielkonflikte im Organizing in Gang zu setzen“ (11). Die beiden Pole dieses Zielkonflikts lassen sich bspw. in den USA nachweisen: Es geht „einerseits um das Ziel“, die „Gewerkschaft als (letztlich bürokratischen) Apparat zu retten, andererseits um den Wunsch nach einer basisdemokratischen und kämpferischen Gewerkschaftspolitik“ (10). Birke lässt an keiner Stelle Zweifel an seinem Eintreten für und seinen Hoffnungen auf eine basisdemokratische Entwicklung.

Dabei werden interessante und spannende Fragen aufgeworfen. Unter anderem auch danach, was Organizing ist bzw. sein könnte (27-43). Birke greift hier schließlich auf eine – gewerkschaftsoffizielle – Liste von Elementen einer idealtypischen Organizing-Kampagne zurück (42). Das ist etwas unbefriedigend und in etwa so, wie die Frage danach, was ein Kuchen ist, mit der Nennung der Zutaten zu beantworten.

Dennoch macht der Autor hier eine Konfliktlinie deutlich. Denn in den Organizing-Kampagnen besteht die erste Aufgabe der eingesetzten OrganizerInnen aus Sicht der einsetzenden Gewerkschaft im „‘Mitglieder machen’“ (42). Die Frage nach der (erwünschten) Rolle der – alten und neuen – Mitglieder wird dann mit dem Rückgriff auf die salomonische Aussage des stellvertretenden Ver.di-Bundesvorsitzenden Werneke so angegeben: „‘nicht fragen, was die Gewerkschaft für sie tun kann’, sondern selbst die Gewerkschaft sein.“ (42f.) Das ist elegant, eine Antwort auf die oben notierten Fragen wird damit aber nicht gegeben – hier wird die Notwendigkeit der Debatte deutlich, die Birke anstoßen will.

Dass die Mitglieder die Gewerkschaft sein sollen, führt den Verfasser zur Frage, was Gewerkschaften eigentlich sind (43-74). Hierzu referiert er – beginnend mit Marx – in Kurzfassung verschiedene Strömungen und Antworten der Gewerkschaftsforschung der letzten ca. 150 Jahre, aber er gibt keine eigene Antwort.

Sein wiederkehrendes Thema ist: Selbstermächtigung. Organizing müsse auf die Öffnung von Räumen zur Kommunikation und auf die Herstellung kollektiver Handlungsfähigkeit setzen. Im Zentrum sollten dabei die Wünsche und Bedürfnisse der Mitglieder stehen. Diesen Standpunkt – man kann ihn vielleicht als basisdemokratisch-kommunistisch bezeichnen – macht das Buch nach dem Geschmack des Rezensenten durchaus sympathisch. Zwar wäre manchmal mehr Systematisierung und mehr Mut zu zuspitzenden Thesen wünschenswert gewesen – zumal sein Text durchaus inhaltliche Elemente dafür bietet.

Sein eigentliches Ziel indes, die im Organizing vorhandenen Konfliktlinien und Schwierigkeiten nachzuzeichnen, gelingt ihm auf vielschichtige Weise. Es mag einfach klingen, „ eine Alltäglichkeit des Austausches über die Arbeitsbedingungen planvoll einzutrainieren“ (73). Die praktische Verwirklichung jedoch stößt auf vielfältige Schwierigkeiten. Und die Tendenz der gewerkschaftlichen Apparate, die Organizer aufs „‘Mitglieder machen’“ zu verpflichten, setzt diese nicht nur unter oftmals immensen Erfolgsdruck, sondern droht die ohnehin schon schwierige Selbstermächtigung in den Hintergrund zu drängen.

Im Interesse der Intention, „eine Debatte über (die) Zielkonflikte im Organizing in Gang zu setzen“, ist dem Buch eine breite Rezeption zu wünschen.

Olaf Gerlach