Editorial

März 2015

Seit 2007/2008 überschlagen sich Krisenprozesse, Krisenereignisse und Krisendiskurse, die sich nicht nur im engeren Sinne auf Fragen der Ökonomie beziehen, sondern längst auf die gesamte Gesellschaft ausgreifen. Inwieweit hat die Krise inzwischen auch die Literatur erreicht? Dieser Frage widmen sich die Beiträge zum Themenschwerpunkt „Literatur (in) der Krise?“ dieses Heftes. Sie untersuchen, inwieweit sich die Literatur – etwa ähnlich dem Zeitungsmarkt – selbst in der Krise, also im Umbruch, befindet, und analysieren Beispiele dafür, wie literarische Beiträge Krisenverarbeitung betreiben und welche ästhetischen Formen in diesem Kontext entwickelt werden.

In seinem einleitenden Beitrag fragt David Salomon nach dem Zusammenhang von Krise, Kunst und Politischer Ästhetik. Im Anschluss an Walter Benjamin entwickelt er eine Typologie, derzufolge sich eine politisch eingreifende und an gesellschaftlichen Konflikten interessierte Kunst auf dem schmalen Grat zwischen Realitätsflucht und Affirmation zu behaupten hat. Dem Strukturwandel schriftstellerischer Arbeit ist Carolin Amlinger auf der Spur. Dabei zeichnet sie gegen das idyllische Klischee des armen und einsamen Poeten zunächst die Besonderheiten literarischer Produktion unter den Bedingungen eines kapitalistischen Literaturmarkts nach und fragt anschließend nach Prekarisierungstendenzen des Schriftstellerberufs. Sven Gringmuth konfrontiert in seinem Beitrag die Tendenz zur Innerlichkeit in der Gegenwartsliteratur mit den ästhetisch-programmatischen Überlegungen Volker Brauns und des frühen Martin Walser. Dabei geht er auch auf populäre Formate ein und arbeitet heraus, was ein zeitgemäßer Realismus in der Literatur leisten könnte. Der oftmals wenig beachteten Ästhetik des späten Georg Lukács widmet sich Daniel Göcht. Er zeigt, welchen Beitrag Lukács Konzeption der Mimesis für ein unterschiedlichen Stilen und Formen gegenüber offenes Konzept realistischer Kunst auch heute leistet. Dabei räumt er so manches Lukács-Klischee aus.

Eine Reihe von Beiträgen ist Einzelwerken gewidmet. Lothar Peter stellt den neuen Roman „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq vor und zeigt, dass es nicht um „Antiislamismus“, sondern um eine schonungslose Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse Frankreichs geht. Den Widerhall, den der 11. September in der deutschsprachigen Literatur fand, rekapituliert Kai Köhler. Es entsteht ein vielschichtiges Bild des Umgangs von Gegenwartsautoren mit Krieg und Frieden zwischen Privatheit und der Diagnose gesellschaftlicher Krisen, das zugleich die Grenzen der Literatur unter den bestehenden Bedingungen offenbart. Enno Stahls Roman „Winkler, Werber“ wird im Beitrag Ingar Soltys zum Ausgangspunkt einer Reflektion über die literarische Kritik des Neoliberalismus und die Konzeption eines neuen sozialen Realismus. Stahls Protagonist, als Werbetexter in der so genannten Kreativbranche beschäftigt, durchlebt „die Tragödie des Leistungsträgers“, das Scheitern der neoliberalen Subjektivität. Im Kontext der gegenwärtigen Krisenprozesse spielen Überwachungstechnologien und mit ihnen verbundene Formen der sozialen Kontrolle eine wachsende Rolle. Den Umgang mit ihnen in der Gegenwartsliteratur behandelt Werner Jung. Ausgehend von George Orwells klassischer Aufbereitung des Stoffs zeichnet er seine Verschärfung in einer Welt nach, in der vieles, was früher Distopie war, heute Realität geworden ist. Der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt wagte einst den Aufbruch der Literatur in die betriebliche Realität. Nicht nur über die Arbeitswelt sollte geschrieben werden, sondern aus ihr heraus sollte Literatur entstehen. Den Werkkreis gibt es noch immer. Was aus ihm geworden ist und wie er sich heute der Wirklichkeit stellt, zeigt Artur Rümmler in seinem Beitrag.

Zum Themenblock dieses Heft „Literatur (in) der Krise“ veranstaltet die Redaktion einen workshop, zu dem alle Interessierten herzlich eingeladen sind. Der workshop findet statt in Frankfurt am Main am Samstag, den 23. Mai 2015 (11.00 bis 17.00 Uhr). Es soll dort über Fragen der politischen Ästhetik heute und über das Realismusproblem in der Gegenwartsliteratur der Bundesrepublik diskutiert werden. Anmeldungen erbeten unter redaktion@zme-net.de.

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Die Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa und der Bundesrepublik ist nicht nur ein Dauerthema der Menschenrechtsverletzung; die aktuelle Debatte um Migration zeigt, dass entgegen aller „Grundwerte“-Rhetorik der „Wert“ des Menschen nach dem Grad seiner ökonomischen Verwertbarkeit gemessen wird – hier entscheidet sich, wer „willkommen“ ist und wer nicht. Christian Jakob gibt einen Überblick über die Entwicklung der europäischen Flüchtlingspolitik in den letzten Jahren; Gerd Wiegel analysiert Ursachen und ideologische Momente der gegen Migranten gerichteten rechten PEGIDA-Bürgerproteste.

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Der Erfolg Syrizas in Griechenland hat große Hoffnungen und Erwartungen nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen peripheren Ländern der EU auf ein Ende oder zumindest eine Begrenzung der krisenverschärfenden Austeritätspolitik geweckt. Die Resonanz der ersten Maßnahmen der Syriza-Regierung könnte darauf hindeuten, dass die Linke in Europa wieder stärker Einfluss auf den Gang der Entwicklung gewinnen könnte. Andreas Gkolfinopoulos gibt einen kurzen instruktiven Überblick zur Entwicklung von Syriza, ihrer aktuellen Programmatik und der innergriechischen politischen Konstellation. Ein Thema, das uns in den nächsten Heften mit Sicherheit weiter beschäftigen wird.

In Darstellungen der Verschiebung der internationalen ökonomischen Kräfteverhältnisse hin zu Schwellenländern des globalen Südens wird nur selten zur Kenntnis genommen, dass dies auch mit Veränderungen in der internationalen Gewerkschaftsbewegung verbunden ist. Babak Amini macht in einem Gespräch mit Vertretern von Süd-Gewerkschaften deutlich, mit welchen spezifischen Herausforderungen sich Gewerkschaften verschiedener Kontinente auseinandersetzen müssen und wo die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede liegen.

Nico Biver gibt auf der Grundlage von hier erstmalig ausgewerteten Daten einen empirischen Überblick über die Entwicklung linker und sozialdemokratischer Parteien in Westeuropa seit 1970. In einem ersten Teil verfolgt er den Aufschwung (bis 1975) und den Niedergang ihres Einflusses bis Anfang der 1990er Jahre. Der zweite Teil der Darstellung erscheint in Z 102.

Die Berufsverbote sind Ausdruck eines heute gern verschwiegenen repressiven Zugs der neueren Geschichte Westdeutschlands, der über zwanzig Jahre das politische Klima des Landes vergiftet hat. Cornelia Booß-Ziegling stellt eine (bislang noch vereinzelte) Initiative zur Aufarbeitung dieser düsteren Periode aus Niedersachsen vor und zeigt gleichzeitig, dass diese auch heute noch nicht vollständig überwunden ist.

Einen praxisorientierten Beitrag zur marxistischen Diskussion über Staat und Recht leistet Ekkehard Lieberam. Er bezieht sich u.a. auf einen Verfassungsentwurf, den die Gruppe Linke Liste 1992, vor dem Hintergrund der verfassungswidrigen Einverleibung der DDR, im Bundestag vorgelegt hatte und verweist auf die Abhängigkeit von Verfassungsnormen von den politischen Kräfteverhältnissen.

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Aus Anlass des 100. Geburtstages von Josef („Jupp“) Schleifstein, langjähriger Leiter des IMSF und Mitbegründer dieser Zeitschrift, am 15. März d. J. drucken wir einen Auszug aus seiner 1956 in Leipzig bei Ernst Engelberg verteidigten Dissertation über Franz Mehring nach. Es geht um Mehrings Stellung zur Oktoberrevolution. Mehring war Zeit seines Lebens ein zentrales Thema für Jupp Schleifstein, der dessen Gesammelte Schriften mit herausgegeben hat und dem er noch kurz vor seinem Tod 1992 einen Beitrag in einem aus Anlass des 40jährigen Bestehens der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik erschienen Band widmete.

In der Rubrik „Archiv“ erscheint diesmal ein bisher unveröffentlichter Text zu Jean Paul von Wolfgang Harich – sein Todestag jährt sich im März zum zwanzigsten Mal –, kommentiert von Andreas Heyer, der Harichs Nachlass herausgibt.

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„Kleine Rubriken“:Mit einem Bericht von Falk Prahl setzen wir die Debatte um Arbeitszeitverkürzung fort. Gewerkschaftsthemen sind auch Gegenstand der Buchbesprechungen, ebenso historische Fragen (u.a. zu Lassalle) sowie theoretische Aspekte der Kapitalismusanalyse (SMK-Theorie, Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften, Kapitalkonzentration).

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Der Schwerpunkt des Juni-Heftes 2015 (Z 102) ist dem Thema „Geldtheorie und Währungsfragen“ gewidmet.