Spätestens seit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Bank Lehman-Brothers prägen Krisendiskurse die öffentliche Diskussion. Begriffe wie „multiple Krise“ (Brand 2009) oder auch „Vielfachkrise“ (Demirovic u.a. 2011) lenken den Blick darauf, dass gegenwärtige Krisendiagnosen höchst unterschiedliche Umbrüche und Bedrohungsszenarien zum Gegenstand haben. Internationale Spannungen und wachsende Kriegsgefahr nicht nur an der Peripherie, ein Klimawandel, dessen Folgen kaum absehbar sind, Legitimationskrisen der politischen Systeme bürgerlicher Demokratien angesichts sinkender Wahlbeteiligung und einer andauernden „Krise der Repräsentation“ (Rossanda/Ingrao) und die Prekarisierung der Arbeitswelt sind sicherlich keine Phänomene, die erst mit der Weltwirtschaftskrise seit 2007/2008 zu beobachten sind. Gleichwohl haben die ökonomischen Verwerfungen die Wahrnehmung für Krisenprozesse auch in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens geschärft. Die Krise des Finanzmarktkapitalismus (Windolf), aus der der Kapitalismus auch diesmal vermutlich erneuert hervorgehen wird, hat fraglos dazu beigetragen, dass derzeit zahllose Debatten über die „große Transformation“ (Polanyi) des „Epochenumbruchs“ seit den siebziger Jahren (vgl. Z. 100) geführt werden. Auffallend ist, dass das Gefühl, in einer Umbruchsperiode zu leben, zunehmend nicht nur die sozialwissenschaftliche und politische Publizistik, sondern auch die politische Rhetorik und – selbst dort, wo die wirtschaftliche Krise wie in der Bundesrepublik (bislang) glimpflich verlief und zahlreiche Profiteure hervorbrachte – das Alltagsbewusstsein prägt. Es ist daher naheliegend zu fragen, welchen Widerhall der Befund einer „multiplen Krise“ in der Literatur findet. Lässt sich so etwas ausfindig machen wie eine Krisenliteratur? Und wenn ja: Welche Themen bearbeitet sie? Lassen sich normative Implikationen beobachten, die auf ein neues künstlerisches Engagement in der Literatur oder eine „Repolitisierung der Kunst“ (Salomon 2013) schließen lassen?
Die Politisierung der Ästhetik
Zunächst gilt festzuhalten, dass Kunst stets und unabhängig davon, ob ihre Produzenten dies wissen oder wollen, in die gesellschaftlichen Prozesse, die ihre Zeit prägen verstrickt ist. Wie jede andere Kunst verdankt auch die Literatur den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie entsteht, nicht nur ihr Material, sondern auch die Perspektive, aus der sie ihre Praxis der Weltaneignung (oder gegebenenfalls Weltverleugnung) betreibt. Die Trivialität dieser Feststellung liegt unschwer erkennbar darin, dass sie zunächst keine andere Aussage enthält als die Tautologie, dass künstlerische Produktion dadurch, dass sie selbst eine gesellschaftliche Tätigkeit ist, teilhat an der Gesellschaft, in der sie tätig ist oder (zeitlich gefasst), dass sie nicht umhin kann zeitgenössisch zu der Zeit zu sein, in der sie ausgeübt wird. Eine ästhetische Fragestellung wird daraus erst, wenn man sich der Mühe unterzieht, konkreter zu bestimmen, in welcher Weise Kunst als gesellschaftliche Tätigkeit begriffen werden kann, in welcher Art von Gesellschaft sie wie tätig ist und welche normativen Implikationen sich daraus ergeben.
Solche Fragen sind der erste Schritt zur Politischen Ästhetik, einer Begriffsverbindung, die ihrerseits der Erläuterung bedarf. Schon die Bestimmung des Begriffs Ästhetik allein ist bekanntlich keineswegs einfach oder ohne Kontroverse. Der Alltagsgebrauch verwendet „Ästhetik“ und „ästhetisch“ oft als Synonym zu „schön“ oder „ansprechend“. So reduziert dies ist, so verweist es doch zurück auf die klassische (Neu)Bestimmung des Begriffs aisthesis im Kontext der Kunstphilosophie, über dessen Normativität das Metzler Philosophie Lexikon in folgender Weise Auskunft gibt: „Ästhetik (griech, aisthesis: Wahrnehmung, Empfindung), wörtlich die Lehre vom sinnlich Erscheinenden oder von der Wahrnehmung. Als Bezeichnung für eine philosophische Disziplin seit Baumgarten und Kant: Lehre vom Schönen und der Erfahrung des Schönen, im engeren Sinne Lehre vom Kunstschönen und dessen Erfahrung.“ (Metzler Philosophie Lexikon 1996, 44). Das (Kunst)Schöne gab dabei nicht bloß der Ästhetik ihren Gegenstand, sondern auch der Kunstproduktion eine normative Orientierung. Selbstverständlich konnte dies kaum bedeuten, dass Kunst darauf verzichtete, auch Nicht-schönes zu zeigen. Das Hässliche allerdings schien, wie der Hegelschüler Karl Rosenkranz prägnant formulierte, nicht um seiner selbst willen darstellbar: „Das Häßliche muß also durch die Kunst von allem ihm heterogenen Überfluß und störsamen Zufall gereinigt und selbst wieder den allgemeinen Gesetzen des Schönen unterworfen werden. Eben deshalb würde eine isolierte Darstellung des Häßlichen dem Begriff der Kunst widersprechen, weil es durch sie als Selbstzweck erschiene. Die Kunst muß seine sekundäre Natur hervorblicken lassen und daran erinnern, daß es ursprünglich nicht durch sich selbst, daß es nur an und aus dem Schönen als seine Negation existiert.“ (Rosenkranz 2007, 48f.)
Diese Gruppierung der ästhetischen Disziplin um den Begriff der Schönheit wurde freilich spätestens im zwanzigsten Jahrhundert von der bürgerlichen Wirklichkeit her selbst aufgesprengt. Eingebunden in die Trias vom „Wahren, Schönen, Guten“ hatte es ein bürgerliches Selbstbewusstsein verkörpert, das in ihr die Dreieinigkeit eines allmählichen Fortschreitens des Bürgertums im Bewusstsein der Freiheit erblicken wollte. Bereits im Kontext der europäischen Romantiken infragegestellt, versagten diese Begriffe vor den Krisen, Verwerfungen und Katastrophen. Nicht zuletzt eine Pervertierung des Erhabenen zur Ode an die Ohnmacht des Einzelnen in Schützengräben und Materialschlachten (Ernst Jünger) korrumpierte und erschütterte die traditionellen ästhetischen Kategorien. Zunehmend verlagerte sich die ästhetische Diskussion um „Maßgaben der Kunst“ (Hacks 1996) ins Politische, ohne restlos in ihm aufgehen zu können. Ihren vielleicht prägnantesten Ausdruck findet diese Bewegung in Walter Benjamins Rekonstruktion der Pirouetten, die das Magische und Auratische auf dem Weg seiner Säkularisierung zum Verdinglichten dreht: „‚Fiat ars – pereat mundus‘ sagt der Faschismus und erwartet die künstlerische Befriedung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. Das ist offenbar die Vollendung der l’art pour l’art. Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuß ersten Ranges erleben läßt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.“ (Benjamin 1991, 508)
Krise, Kritik und Realismus in der Kunst
Die Alternative von Ästhetisierung der Politik und Politisierung der Kunst wirft nicht zuletzt die Frage nach der Art und Weise des Umgangs mit sozialen Krisenprozessen auf. Erscheint Gesellschaft in der Kunst als von Schicksalsmächten gesteuert, dem menschlichen Eingriff letztlich verschlossen und gerade darum erhaben? Oder leisten künstlerische Produktion und ästhetische Theoriebildung einen Beitrag zur Aufklärung jener Antagonismen, Strukturen und Interessen, die ihre Geschichte antreiben, um Handlungsoptionen auszuleuchten und Veränderungen zu bewirken? Wenn auch nicht ausschließlich auf Kunst bezogen, erweist sich das Programm der von Benjamin gemeinsam mit Brecht und anderen nach der Krise von 1929 geplanten Zeitschrift „Krisis und Kritik“ hier als aufschlussreich, zu dem er Anfang der dreißiger Jahre notiert: „Das Arbeitsfeld der Zeitschrift ist die heutige Krise auf allen Gebieten der Ideologie und das Ziel der Zeitschrift ist es, die Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik.“ (Benjamin zit. n. Wizisla 2004, 130) Der Anspruch, die Krise festzustellen oder herbeizuführen weist intellektueller Arbeit, die künstlerische Produktion eingeschlossen, eine revolutionäre Rolle zu. Krisen kommen und gehen nicht einfach, die Art und Weise ihre Ausrufung selbst ist politische Praxis (Salomon/Weiß 2013, 12). Dies gilt umsomehr dort, wo es nicht nur im engen Sinn um Fragen ökonomischer Konjunktur geht, sondern um Gesellschaftsmodelle im Ganzen. So kommt im gegenwärtigen Krisendiskurs dem Terminus der Alternativlosigkeit bei der Krisenbewältigung die Schlüsselrolle zu, bestimmte Interessen (etwa die „der Märkte“, d.h. der Gläubiger) der Kritik weitgehend zu entziehen und politisches Handeln auf Austeritätspolitik zu begrenzen. Das Feststellen oder der Herbeiführung von Krisen „auf allen Gebieten der Ideologie“ als Zielsetzung für Kritik bedeutet letztlich die Erweiterung der Handlungsräume für politischen Eingriff. Konkret bedeutet dies nicht zuletzt, Zusammenhänge zu thematisieren, die dem unmittelbaren Eindruck zunächst verborgen bleiben: etwa zwischen Krieg und Geschäftsinteressen, dem Reichtum der einen und der Armut der anderen, den großen Worten und den Gemeinheiten, die sich hinter ihnen verstecken. Die grundlegende Idee hinter Benjamins Bemerkung besteht darin, dass Krisen hervorragend geeignet sind, solche Verbindungen durch Kritik offensichtlich zu machen. Dies ist durchaus materialistisch gedacht, denn Krise und Kritik sind nicht nur vom Wortstamm her (krisis, krínein; griech, für unter- bzw. ent-scheiden) aufeinander bezogen (vgl. etwa Koselleck 1973). Sie markieren im modernen Sprachgebrauch die objektive und subjektive Seite von (Um)Brüchen, Untergängen und Erneuerung. Wo Kritik geübt wird ohne Bezug auf jene sozialen Verhältnisse, die das Potential des Krisenhaften in sich bergen, schwebt sie – wie Heinrich Heine solches einst nannte – im „Luftreich des Traums“. Wo hingegen das Krisenhafte als Schicksalsmacht beschworen wird, ist der Weg zur Ästhetisierung und Mythisierung der Gesellschaften nicht weit. Der Anspruch auf Politisierung der Kunst balanciert also auf einem schmalen Grat zwischen Eskapismus und Apokalypse, den man – mit einem belasteten und historisch zuweilen arg strapazierten Begriff – Realismus nennen kann[1]. Ganz in diesem Sinn ist die Passage von Herbert Claas zu verstehen, in der er als normative Grundlage der wissenschaftlichen Disziplin Ästhetik herausstellt, politisch werde sie, „wenn sie sich der Verhältnisse zwischen Menschen bestimmter Epochen als des Gegenstandes künstlerischer Aneignung bewußt ist, diese Produktion als Spezialfall gesellschaftlicher Arbeit begreift und im realistischen Erkennen und Darstellen antagonistischer Verhältnisse den mittelbaren Beitrag der Kunst zur Entwicklung vernünftigen sozialen Handelns erblickt“ (Claas 1977, 10). Es ist dieses „erkenntnisleitende Interesse“ (Habermas), das sie auch verfolgt, wenn sie sich solchen Kunstwerken zuwendet, die weder kritisch noch affirmativ zu sein beanspruchen und sie dennoch auf ihre politische Funktion in der krisenhaften Totalität antagonistischer Gesellschaft hin befragt.[2]
Krisenliteratur heute
Es genügt, einen freiwilligen oder unfreiwilligen längeren Aufenthalt auf einem bundesdeutschen Bahnhof zu nutzen, mit wachen Augen durch die unvermeidliche Buch- und Zeitschriftenhandlung zu schlendern, um festzustellen, dass es an Angeboten zur eskapistischen Flucht aus dem Hier und Jetzt sicher nicht mangelt. Klappentexte bestätigen, was das Coverdesign all der „historischen Romane“ mit seinen Schnörkeln und Ornamenten verspricht. Soll es das alte Rom oder das Jahr 1813 sein, das alte Ägypten oder doch besser das Land- und Stadtleben des europäischen Mittelalters? Ein Medicus oder eine Wanderhure, eine gelangweilte Dame der Oberklasse (als hätte es Jane Austen und Gustave Flaubert nie gegeben) oder eine Lukrezia Borgia im Windschatten neuerer Fernsehserien werden sich schon finden, um uns genau dahin zu entführen, wo wir frei von jedem Erkenntnisinteresse zumindest simulativ der Geschichtslosigkeit der „Postmoderne“ entfleuchen und im ganz anderen (das doch das immer Gleiche ist) aufgehen können. Fantasywelten und Weltraumabenteuer locken, Abgründe lauern und Verschwörungen drohen im Horror- oder Kriminalformat – wie es der Geschmack gerade verlangt. Zwischen all dem finden sich freilich auch durchaus ernstzunehmende Romane, präzise Beobachtungen, wirkliche Utopien und Distopien. Gleichwohl ist die Fluchtbewegung, die durchaus ein Unbehagen mit dem Bestehenden auszudrücken vermag, kaum zu übersehen. Sie verweist auf ein Bedürfnis nach mehr als dem was ist. So gilt für einen Gutteil dessen, was der Literaturmarkt (nicht erst) seit der allenthalben spürbaren Krisenerfahrung bereithält noch immer, was Lion Feuchtwanger 1935 am Beispiel des historischen Romans, dessen Erkenntnisanspruch er nicht nur gegen das Vorurteil gegenüber dem Genre, sondern auch gegenüber dem Gros seiner Realisierungen verteidigt, prägnant herausgestellt hat: „Viele von den historischen Romanen, die heute erscheinen, geben auch wirklich nichts weiter her als mehr oder minder geschickt zusammengestellte, überfärbte Bilder, dazu bestimmt, den Leser auf unterhaltende Art von der Not der Gegenwart abzulenken, das Lob der reicheren, bunteren, besseren alten Zeit zu singen.“ (Feuchtwanger 1984, 494) Der Flucht vor der Welt korrespondiert jener seltsam unersättliche Hunger nach Innerlichkeit, dem privaten Glück oder der privaten Katastrophe, mit dem sich die deutsche Gegenwartsliteratur in großen Teilen ihres Mainstreams seit den neunziger Jahren über Wasser hält[3].
Auch an apokalyptischen Ästhetisierungen mangelt es freilich nicht. Nicht nur auf dem Sachbuchmarkt lässt sich ein erhöhtes Aufkommen an so genannter „Crash-Literatur“ (Piper 2014) beobachten: Schon seit den späten neunziger Jahren inszenieren Literatur und Film düstere Zukunftsaussichten, die gerade in ihrer Vorliebe, Hochhäuser zum Einsturz zu bringen und amerikanische Städte in Schutt und Asche zu legen, die Ikonographie des 11. Septembers 2001 teilweise vorwegnahmen („Fight Club“, „Independance Day“), dessen literarische Verarbeitung freilich weitaus komplexere Formen angenommen hat[4]. In spezifischer Weise ist in diesem Genre auch ein Autor wie Michel Houellebecq anzusiedeln, bei dessen jüngstem Roman „Unterwerfung“ (Houellebecq 2014) das deutsche wie das französische Feuilleton derzeit darüber streitet, ob und inwieweit er mit seiner Islamisierungsvision Frankreichs den Aufstieg Marine Le Pens flankiert oder dieser doch als beißende Satire gelesen werden kann.[5] Schon „Ausweitung der Kampfzone“ (Houellebecq 2001) gefiel sich darin, seine Parallelisierung von wirtschaftlichen Kampfplätzen und dem Konkurrenzkampf im Bereich der Sexualität irgendwo im Unschärfebereich zwischen Kritik und Affirmation anzusiedeln und seinen aller wirklichen Handlungs- und Gestaltungsmacht beraubten Protagonisten einen eskapistischen Traum von Unmittelbarkeit träumen zu lassen, bei dem offen bleibt, ob er reaktionär, progressiv oder gar nicht einlösbar ist.
Spiegelt sich freilich schon in diesen insbesondere auf dem kommerziellen Buchmarkt dominierenden Trends ein wachsendes Unbehagen mit dem Bestehenden, so lässt sich zugleich auch ein wachsendes Bemühen auch jüngerer Autoren feststellen, Facetten der „multiplen Krise“ mit literarischen Mitteln zu gestalten. In diesem Kontext ist nicht nur das auch heute vielfältige politische Engagement deutschsprachiger Gegenwartsautoren zu nennen, auf das Thomas Wagner in einem äußerst lesenswerten Interviewband bereits vor einigen Jahren aufmerksam gemacht hat (Wagner 2010), sondern auch eine wachsende Tendenz, politische und subjektbezogene Krisenphänomene wieder als sozialen Verhältnissen geschuldet darzustellen. Einerseits wird zunehmend die lange dominierende Innerlichkeitsversessenheit dadurch aufgesprengt, dass der eigene prekäre soziale Standpunkt des Künstlers[6] in literarischen Werken ausgeleuchtet wird, zum anderen wendet sich Literatur (damit in spezifischer Weise in der Tradition einstiger Aufbrüche der Gruppe 61 bzw. des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt stehend[7]) auch wieder vermehrt dem Arbeitsplatz als zentralem Ort der Lebenswelt zu[8]. Zu den gesellschaftlichen Umbrüchen gehören zugleich auch immense Produktivkraftfortschritte, deren emanzipatorisches Potential nicht zuletzt von Autoren wie Dietmar Dath herausgestellt wird, während ihnen zugleich – etwa durch eine immer engmaschigere Möglichkeit zur Überwachung[9]– erhebliche Destruktivkräfte entsprechen. Wo einige Autoren und Autorinnen, wie Marlene Streeruwitz in ihrem jüngsten (als Nelia Fehn geschriebenen) Roman, sich den jüngsten ökonomischen Krisenprozessen und ihren Auswirkungen in Europa direkt zuwenden (Streeruwitz 2014), erzählen andere – wie Jan Brand – die Sozialisationsgeschichte der in den siebziger Jahren Geborenen als eine Abfolge prekärer Ausbruchsversuche im Horizont allgemeiner Reaktion und entpolitisierter Abwesenheit von alternativen Gesellschaftsvorstellungen, als Gefangenschaft in der Seifenblase eines dörflichen post-histoire nach dem vermeintlichen „Ende der großen Erzählungen“ (Brand 2011). Insbesondere ein Roman sticht im Kontext dessen, was auch im engen Sinn als Krisenliteratur bezeichnet werden kann, besonders hervor. Rainald Goetz erzählt in seinem satirisch-grotesken „Abriss der Gesellschaft“ den Fall des Managers Johan Holtrop, dessen Lebensweg sich rasch als dem des kürzlich verurteilten Thomas Middelhoff nachempfunden erschließt. (Goetz 2012) Gewissermaßen aus der Königsperspektive schildert Goetz die Absurditäten in einer (finanzmarkt)kapitalistischen Welt, deren Pointe darin besteht, dass es keine Könige gibt, sondern nur Charaktermasken, die sich als Könige fühlen. Intrigen, die es in diesem Roman in Massen gibt, Eitelkeiten und Gaukeleien tanzen munter durcheinander. Sie montieren das Bild einer sinn- und geistfreien Bourgeoisie, die sich als weder zum Selbstbewusstsein noch zur Tragödie mehr fähig erweist, wie sie Thomas Mann einst in den Buddenbrooks als Niedergang des klassischen Bürgertums inszenierte. Die Krise, die hier in den Innenansichten des Protagonisten und beinahe aller Nebenfiguren festgestellt (oder herbeigeführt) wird, ist dabei stets als getreues Spiegelbild jener Gesellschaft kenntlich, deren neoliberale Agenda den „Abriss“ des Sozialen überhaupt betreiben wollte. Sicher zeigt Goetz explizit ebenso wenig einen Ausweg auf wie Houellebecq. Die tiefe Ironie des Romans, die den Leser ermuntert, lachend den Kopf zu schütteln, ist jedoch so unzweideutig dekuvrierend, dass hier kein Zweifel darüber aufkommen kann, dass seine politische Haltung eine progressive ist.
(Re)Politisierung der Kunst?
Als Walter Benjamin in der Krisenperiode, die Eric Hobsbawm einmal das „Katastrophenzeitalter“ genannt hat, die Alternative von Ästhetisierung der Politik und Politisierung der Kunst formulierte und forderte, die Krise in allen Bereichen der Ideologie festzustellen oder herbeizuführen, waren die gesellschaftlichen Bedingungen andere als heute. Seinerzeit adressierte der Terminus Kommunismus, den Benjamin aufrief, einen klar bestimmbaren Klassenakteur ebenso wie eine konkrete politische Perspektive. Gerade in der Prekarität solcher Perspektiven liegt das zentrale Moment der gegenwärtigen Unübersichtlichkeit. Die Krise herbeizuführen und in ihrem Sinne zu entscheiden gelingt jenen Kräften, die an der Erhaltung und Erneuerung des Bestehenden interessiert sind, derzeit fraglos besser als denen, die es in emanzipatorischer Absicht verändern wollen. Es wäre daher absurd, Autoren wie Goetz vorzuwerfen, dass ihre Kapitalismuskritik keine Akteure zeichnet, die über das Bestehende hinausweisen. Literatur kann nicht erfinden oder klären, was in der Realität bestenfalls schemenhaft und punktuell existiert. Doch ihr beißender Spott, ihre genaue Beobachtung jener Mechanismen, die verhindern, dass die Krise zum Entscheidungsmoment zwischen bestehender Herrschaft und ihrer Überwindung wird, ihr unermüdliches Aufspüren von Konfliktkonstellationen, in denen das Befreiende dennoch zumindest schlaglichtartig aufblitzt, können gleichermaßen einen Beitrag leisten, die gesellschaftliche Wirklichkeit besser zu verstehen, wie sie Mut machen können, als Erben des Sisyfos im Sinne Erasmus Schöfers (2001ff.) ob der Übermacht des Kapitals nicht zu verzweifeln.
Literatur
Benjamin, Walter (1991): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Dritte Fassung. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. I.2. Frankfurt/M., S. 471-508
Brand, Jan (2011): Gegen die Welt. Roman, Köln.
Brand, Ulrich (2009): Die Multiple Krise – Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik, Berlin (http://www.boell.de/de/content/die-multiple-krise)
Claas, Herbert (1977): Die politische Ästhetik Bertolt Brechts vom Baal zum Caesar, Frankfurt/Main
Demirović, Alex u.a. (2011): VielfachKrise im finanzdominierten Kapitalismus, Hamburg.
Feuchtwanger, Lion (1984): Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans; in: ders.: Ein Buch nur für meine Freunde, Frankfurt/Main, S. 494-501
Fülberth, Georg (2014/15): Explorationen – Politische Publizistik aus drei Jahrzehnten, Köln.
Goetz, Rainald (2012): Johann Holtrop – Abriss der Gesellschaft. Roman, Berlin.
Habermas, Jürgen (2001): Zeit der Übergänge, Frankfurt/Main.
Habermas, Jürgen (1985): Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt/Main.
Hacks, Peter (1996): Die Maßgaben der Kunst, Hamburg.
Houellebecq, Michel (2001): Ausweitung der Kampfzone. Roman, Reinbek
Houellebecq, Michel (2014): Unterwerfung. Roman, Köln
Koselleck, Reinhart (1973): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/Main.
Metscher, Thomas (2014): „So sei verflucht der Krieg“. Politische Dichtung – Überlegungen zu einem strittigen Begriff; in: Marxistische Blätter 3/14, S. 122-131
Metzler Philosophie Lexikon (1996), Stuttgart.
Piper, Nikolaus (2014): Hurra, die Welt geht unter – Leser in die Angstfalle treiben: Warum es so viele Crash-Bücher gibt und was man aus ihnen lernen kann; in: Süddeutsche Zeitung am 14.11.2014, S. 14
Rosenkanz, Karl (2007): Ästhetik des Häßlichen, Stuttgart.
Salomon, David (2013): Repolitisierung der Kunst, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 96, Dezember, S. 71-77
Salomon, David/Weiß, Edgar (2014): Krisen und Krisendiskurse. Editorial zu dies. (Red.): Krisendiskurse, Jahrbuch für Pädagogik, Frankfurt/Main u.a., S. 9-16
Schöfer, Erasmus (2001ff.): Die Kinder des Sisyfos. Romantetralogie, Berlin.
Streeruwitz, Marlene (2014): Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. Roman, Frankfurt/Main.
Wagner, Thomas (2010): Die Einmischer – Wie sich Schriftsteller heute engagieren, Hamburg.
Wizisla, Erdmut (2004): Benjamin und Brecht – Die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/Main.
[1] In dieser Verwendung bezeichnet der Realismusbegriff freilich kein Genre. Weder steht er im Gegensatz zu phantastischer noch zu avantgardistischer Kunst. Die absonderlichste Utopie oder Dystopie, das hermetischste poetische Gebilde und die wildeste historische Spekulation können mehr Diesseitigkeit enthalten als der getreueste, naturalistische Abklatsch scheinbar realer Verhältnisse. (Zum Realismusbegriff vgl. auch den Beitrag von Daniel Göcht in diesem Heft.)
[2] Formulierungen wie diese sind es wohl, die Thomas Metscher veranlasst haben, meine Überlegungen zu einer Repolitisierung der Kunst (Salomon 2013) der von ihm ausgemachten Tendenz zuzuschlagen, „den Begriff politischer Kunst, oder politischer Ästhetik, so auszuweiten, dass er de facto mit dem Gesellschaftlichen in der Kunst, ja mit ‚realistischer‘ Kunst zusammenfällt.“ (Metscher 2014, 122) Da ich diese Absicht nicht habe, kann ich Metscher nur zustimmen, wenn er schreibt: „Dies aber kann die Lösung nicht sein, denn so verlöre der Begriff jede Trennschärfe, damit auch jeden theoretischen wie analytischen Wert.“ (Ebd.) In Metschers kritischer Anmerkungen scheinen mir zwei Missverständnisse wirksam: Erstens überliest er in der Passage von Herbert Claas, auf die ich auch damals meine Argumentation im Wesentlichen stützte, den Terminus des Antagonismus bei der Klassifizierung des zeitgenössisch-gesellschaftlichen, ohne den in der Tat das Soziale apolitisch wäre. Zweitens liegt es mir fern, Politische Ästhetik und Politische Kunst als Synonyme zu betrachten. Politische Kunst ist eine (teils als Selbstbeschreibung von Künstlern für ihr Tun gebrauchte, teils als kriteriengeleitete Zuschreibung „von Außen“ verwendete) Bezeichnung künstlerischer Praxis. Politische Ästhetik hingegen ist vornehmlich ein Modus des Redens über Kunst, der zumeist wohl von ästhetischen Theoretikern, nicht selten aber auch von Künstlern beim Reden über ihre Kunst betrieben wird. Gerade dann, wenn man untersuchen will, ob und inwieweit die politische Ästhetik eines Künstlers fruchtbar für seine künstlerische Produktion ist, ist diese Trennung von erheblicher Bedeutung.
[3] Vgl. hierzu den Beitrag von Sven Gringmuth in diesem Heft.
[4] Vgl. hierzu den Beitrag von Kai Köhler in diesem Heft.
[5] Vgl. den Beitrag von Lothar Peter in diesem Heft
[6] Vgl. den Beitrag von Carolin Amlinger in diesem Heft
[7] Zu Geschichte und Gegenwart des Werkkreises vgl. den Beitrag von Artur Rümmler in diesem Heft
[8] Zum Beispiel Enno Stahl; vgl. den Beitrag von Ingar Solty in diesem Heft
[9] Vgl. hierzu den Beitrag von Werner Jung in diesem Heft