Literatur (in) der Krise

Privatheit und Krise

Der 11. September 2001 in der Literatur der BRD

von Kai Köhler
März 2015

Stellt man die Frage, wie deutschsprachige Autoren auf die Anschläge vom 11. September 2001 reagiert haben, so sieht man sich vermutlich schnell mit der Gegenfrage konfrontiert: Warum nur die Deutschen? Ist Literatur nicht international, stehen nicht besonders Übersetzungen US-amerikanischer Werke im Zentrum des deutschen Literaturbetriebs?

Dem Verdacht, einer nationalfixierten Philologie zu erliegen, könnte zunächst auf einer pragmatischen Ebene mit dem Hinweis auf die Beschränkungen des Aufsatzformats entgegnet werden. Doch gibt es auch inhaltliche Gründe. Die deutsche Perspektive ist die eines Innen-Außen: Die meisten Autoren fühlen sich den USA, wenn nicht politisch, so doch durch kulturelle Erfahrungen verbunden; mindestens verurteilen sie die Anschläge. Gleichzeitig aber gehören sie nicht dem nationalen Kollektiv an, das auf die Anschläge zunächst mit großer äußerer Geschlossenheit reagierte und sehr schnell zu militärischen Handlungen überging, die von einer Mehrheit der deutschen Schriftsteller keineswegs gebilligt wurden.

Eine deutsche Besonderheit ist auch die Figur des engagierten Schriftstellers. Im Literatursystem der Bundesrepublik in den 1960er Jahren beherrschend und noch bis in die 1980er hinein einflussreich, grenzten sich die meisten Jüngeren vom Auftreten eines Günter Grass, Martin Walser oder Hans Magnus Enzensberger ab.

Freilich hatten Literaturdebatten der 1990er Jahre die Risiken einer politischen Positionierung vorgeführt. Nicht nur ehemalige DDR-Schriftsteller, sondern auch Vertreter einer dezidiert rechten Position wie Botho Strauß und Martin Walser sahen sich Kritik ausgesetzt. Mindestens in dem letzten der Fälle erhöhte allerdings der Streit den Marktwert der Autoren.

Für die jüngere Generation, die sich in ihrer Mehrheit im Unpolitischen eingerichtet hatte, stellte sich also die Frage, ob und wie eine öffentliche Äußerung oder eine literarische Gestaltung nützlich sein konnte. Das schloss, als weitere Ebene, das Problem einer angemessenen Sprache ein. Der deutsche Faschismus hat Pathosformeln in einen durchaus erfreulichen Misskredit gebracht. Seitdem stellt sich für deutschsprachige Autoren in besonderem Maße die Frage, ob und wie emotionale Identifikation formuliert werden kann.

Die literarischen Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September lassen sich also unter dem Aspekt betrachten, wie Schriftsteller, von denen sich die meisten mehr oder minder in gesellschaftskonformer Innerlichkeit eingerichtet hatten, auf einen offensichtlichen Einbruch von Gewalt reagieren. Der politische Inhalt ist dabei nicht nur mit dem explizit Gesagten verbunden, sondern auch mit den gewählten Sprachformen und Genres.

Das Problemfeld wird in drei Schritten vermessen. Im Abschnitt I wird der 11. September als Stoff vorgestellt, der für eine literarische Verarbeitung spezifische Chancen und Probleme besitzt. Zweitens werden Reaktionen von Autoren vorgestellt, und zwar zunächst nicht inhaltlich geordnet, sondern aufsteigend in der literarischen Wertigkeit von gutgemeinten Anthologien (II, mit einem Seitenblick auf einige anspruchsvollere Gedichte) über Tagebücher und Interviews (III) bis hin zu Verarbeitungen auf der Ebene von Fiktionalität (IV). Der Schlussabschnitt V bringt dann verallgemeinernd, wie bürgerliche Schriftsteller das Verhältnis von Normalität und Krise erfassen, und das heißt in diesem Fall auch: von sprachlicher Formulierung und Geschichtlichkeit. Essays und Interviews als literarisch weniger vermittelte Formen der Äußerung wurden aus Platzgründen nicht berücksichtigt.

Besonderheiten des Stoffs

Was zeichnet den Stoff unter literarischem Gesichtspunkt aus? Die Anschläge vom 11. September lösten eine Krise aus; sie selbst sind nicht als Krise zu erfassen, sondern als punktuelles Ereignis. Das bedeutet für Schriftsteller vor allem Schwierigkeiten.

Die erste Schwierigkeit besteht darin, die beteiligten Personen zu gestalten. Es gibt (sieht man einmal ab von den Ereignissen innerhalb der Flugzeuge) keinerlei direkte Konfrontation zwischen Tätern und Opfern. Legt man den Schwerpunkt auf die Opfer, so setzt man sich dem Verdacht aus, sie sensationsheischend auszunutzen. Umgekehrt ist es schwierig, die religiös deformierte Gedankenwelt der Täter nachzuzeichnen. Jegliche Beschäftigung mit der Vorbereitung des Attentats könnte nur entweder einen reibungslosen Ablauf mit bekanntem Ausgang nachzeichnen (ein literarisch kaum verlockendes Vorhaben) oder aber einen Wettlauf mit den Geheimdiensten, was sehr spekulativ wäre und rasch in den Kontext von Verschwörungstheorien führen würde, wie sie tatsächlich bald aufkamen.

Umgekehrt hatten die Anschläge zwar massive politische Folgen. Unabhängig von Angriffsplänen, die vorher bestanden haben mögen, wären Rechtfertigung und Verlauf der US-Kriege in Afghanistan und gegen den Irak nicht so denkbar gewesen, wie sie sich tatsächlich ereignet haben. Nun wäre zwar ein Roman in Form eines großen politischen Panoramas denkbar, in dem, aus welchen Gründen auch immer, bestimmte Akteure an allen Brennpunkten des Geschehens auftauchen. Doch wird die Form des Historienromans, der im 19. Jahrhundert als literarische Gattung Hochschätzung genoss, nun von Autoren, die an ihren Marktwert im Feuilleton denken, als trivial gemieden.

Es bleibt also eine Literatur übrig, die auf Beobachtung zielt. Dabei dominieren Genres, die ohnehin solche der ausformulierten Betrachtung sind: Essay und Tagebuch. Die Gedichte zum Ereignis sind Gefühlen und Gedanken gewidmet, nicht aber balladenartig Handlungsverläufen. Und sogar in Erzählung und Roman sind die Hauptfiguren – jedenfalls im Hinblick auf den 11. September – betroffen Beobachtende.

Diese Beobachtung – wie überhaupt jede Schilderung der Anschläge – steht in diesem Fall einer besonderen Schwierigkeit gegenüber. Im Normalfall bildet sich aus der Summe von Beschreibungen im Laufe der Zeit ein Bild heraus, das in gewissen Grenzen variabel ist. Diese Grenzen sind von aktuellen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen bestimmt, aber auch dadurch, wem es gelungen ist, bestimmte Bilder mit dem Ereignis zu verbinden. Im Falle des 11. September geschah dies bereits am 11. September. Vor allem der Einschlag des zweiten Flugzeugs in das World Trade Center, aber auch bestimmte Bilder der New Yorker Opfer waren sofort festgelegt. Das gilt auch für Sprachfloskeln wie die: von nun an werde nichts mehr so sein wie zuvor – was sich, wörtlich genommen, über jedes Ereignis sagen lässt, sich hingegen als Epocheneinschnitt nicht bewahrheitet hat. Die Anschläge haben lediglich Tendenzen gefördert, die es ohnehin schon gab; Konstellationen bei der imperialistischen Konkurrenz zwischen Großmächten haben sie nur kurzfristig verschoben.

Eine solche Festlegung kann für Autoren zwar grundsätzlich eine Chance bedeuten: Material, das im allgemeinen Bewusstsein vorhanden ist, lässt sich weiterverarbeiten. Doch ist dies schwierig, wenn die Wertung des Ereignisses derart festliegt wie in diesem Fall. Hier also schränkte das schnelle Entstehen einer festgefügten Bilderwelt die Möglichkeiten der Autoren eher ein.

Anthologien und Gedichte

Relativ schnell nach den Anschlägen erschienen zwei Anthologien mit kurzen Texten, von denen die meisten sich im weiten Sinne einer engagierten Literatur zurechnen lassen, wie sie im öffentlich wahrnehmbaren Bereich des Literaturbetriebs seit langer Zeit allenfalls einen Randplatz einnimmt. Auch die beiden Sammlungen wurden in Kleinverlagen publiziert und haben wenig Beachtung gefunden.

Das ästhetisch anspruchslosere dieser Bücher ist 2002 im Abendstern-Verlag erschienen und trägt den Titel „Gedanken im Sturm“.[1] Es ging den Herausgebern erkennbar nicht um literarische Qualität – auch die Klasse 3a einer Remscheider Grundschule darf „Gefühle zum 11. September & Vier Monate danach“ formulieren wie „Ich finde gemein, dass Bin Laden und seine Männer so was geplant haben.“ (76) Das ist aber immer noch ansprechender formuliert als die kitschverdächtige Einleitung, wo es heißt: „Der Wind verstummte und gab das Klagen der Opfer preis. Die Sonne sandte keine Strahlen, deren Wärme die Tränen hätte trocknen können. Der Regen versiegte und wusch das Blut nicht fort“ usw. (9)

In nur ganz wenigen Beiträgen des Bandes ist Erkenntnis durch literarische Mittel gewonnen; etwa wenn Corina Bomann in „Fragmente eines Tages“ erfasst, wie sich zunächst belächelte Gerüchte verdichten und als Fakten erweisen oder Betty Schmidt in „Sprichwortsalat“ gängige Redewendungen mit Parolen nach dem 11.9. derart kombiniert, dass sich der Unsinn der letzteren erweist. Der Gipfel der Gesellschaftskritik ist erreicht, wenn in Achim Frikers „Tannen und Käuze“ statt des Terroristen Omar Al Mhuba die harmlose Oma Almhuber ins Visier eines Sondereinsatzkommandos gerät.

Insgesamt aber dominieren politische Naivität und eine dumme Verinnerlichung. Kerstin Dirks stellt in „Von Schatten und Licht“ pseudomythologisch die Weltgeschichte als Kampf zwischen dem Hass und der Liebe dar, wobei sich natürlich letztere als stärker erweist. Das zeigt sich als kompatibel mit dem Appell, für ein wenig Frieden beim eigenen Ich anzufangen. Der Gedanke, der das Bändchen durchzieht, ist exemplarisch bei Barbara Jung in „Liebe Freunde…“ formuliert: „Wir können viel dazu beitragen, ein bisschen mehr Gerechtigkeit und Frieden in der Welt zu schaffen, indem wir in unserer eigenen kleinen Welt damit beginnen.“ (21)

Das alles lohnte keine nähere Beschäftigung, verwiese es nicht auf eine Funktion von Literatur in krisenhaften Lagen, die unterhalb der Wahrnehmung durch die gleichsam offiziellen Instanzen Literaturkritik und -wissenschaft liegt, aber gleichwohl existiert: die der Selbstvergewisserung. Sie geht in diesem Fall meist mit einer Verinnerlichung einher, auf die wir später wieder treffen werden.

Auch in der von Fritz Reutemann herausgegebenen Lyrikanthologie „Fluchtzeiten“, ebenfalls 2002 erschienen,[2] führt zwar manchmal der Versuch der Leichenbeschreibung zu allzu viel Pathos: „menschen trümmer / glühende berge auf blutender haut“, beginnt Felicitas Kretschmanns Gedicht „11. September 2001“ (49), und Robert Stauffer schließt in „Korrosion, Twin Towers“ ein expressionistische Leichenbeschreibungslust an, wenn er vorhersieht: „Mikroben und Vieren [!] entstehen in der Gallerte aus Blut“. (80) Auch findet sich die naive Mahnung zum Frieden, wenn Wolf Peter Schnetz im Gedicht „Feindbild“ meint: „Mein größter Feind / ist das Feindbild, / gemacht / aus dem Stoff / beliebiger Worte.“ (118)

Doch dominiert insgesamt in diesem Band die politische Zuspitzung. Das gilt für die Vorgeschichte, zu der gehört, wie die USA jahrzehntelang jeden Versuch, eine vernünftige Gesellschaftsordnung aufzubauen, bekämpft haben, so dass nun in weiten Teilen der Welt die unvernünftigen Akteure dominieren. Rüdiger Heinz weist schon durch den Titel von „11. September – Terror in Chile“ (22) darauf hin, dass das Datum des Anschlags auch der Jahrestag des von den USA mitorganisierten Putschs in Chile gegen den sozialistischen Präsidenten Allende 1973 ist. Kurz, so Hanspeter Wieland in „Die Sieger haben schon verloren“: „Der Terror sucht stets den Ort / von dem er ausgegangen ist“. (19)

Viele Beiträge gehen auf die sehr schnell wahrnehmbaren Folgen des Anschlags ein, davon die Mehrzahl auf den Krieg in Afghanistan, einige aber auch auf den Ausbau staatlicher Überwachung; so „ottomania“ des Herausgebers Reutemann, dessen negative Hauptfigur der damalige Bundesinnenminister Otto Schily ist. Andere Autoren versuchen, vorgegebene Sprach- und Denkmuster zu zersetzen, wie Wolfgang G. Fienhold in „Nach dem 11. September“, dem kürzesten Gedicht der Sammlung, das hier vollständig zitiert werden kann: „kamen der 12. Der 13. Der 14…“ (72)

Der Band hat den Untertitel „Das Ende der Totlachgesellschaft?“, und das markiert die Hoffnung darauf, dass sich nun eine auf Unterhaltung und Spaß fixierte Gesellschaft wichtigen Themen zuwenden werde. Das erste von drei Gedichten etablierter Autoren, die hier vorgestellt werden, liest sich wie eine Antwort darauf. Robert Gernhardt konstatiert in seinem „Sonett vom Ende der Spaßgesellschaft in diesem unserem Lande“ eingangs: „Ein Land macht ernst. Seit jene Türme fielen, / fiel auch der Groschen: Nun ist Schluß mit lustig!“ Das aber ist aus seiner Sicht eine Angleichung an den Gegner Bin Laden, denn es geschieht „Getreu dem Vorbild dessen, der seit Wochen / mit grimmer Miene heilgen Krieg verkündigt, / als Rächer und Prophet von eignen Gnaden.“[3]

Was nach Meinung Gernhardts droht, das ist für Durs Grünbein ausgeblieben. Seine „September-Elegien“ setzen ein mit einer Rückkehr zur Normalität: „Dann flaut die Erregung ab. Vom Anblick der Supernova / Erholen die meisten sich bei Arbeit, Glücksspiel und Sex. / Von allen Mementos bleibt als letztes das leise ‚It’s over‘.“[4] (50) Die „Gewißheit des Todes, und daß alles ein Ende hat“ (50) wird verdrängt, nur ab und an denkt man an die fortbestehende Bedrohung, während die Herbstkälte zur dominierenden Empfindung wird, und damit verbunden Melancholie: „Weniges dauert an. Zur Schnulze wird das Verlustgefühl, / Von dem man noch eben sicher war, das geht niemals vorbei.“ (52)

Dies alles bringt Grünbein weder anklagend noch zustimmend vor, sondern milde feststellend. Ganz anders als der Tagebuchschreiber Grünbein, von dem unten die Rede sein wird, inszeniert der Lyriker einen Sieg des Privaten, das indessen auch nur eine Bewegung auf den Tod hin ist.

Während Grünbein die Kunstfertigkeit, mit der er das elegische Versmaß durch Alltagssprache durchbricht, eher verbirgt, stellt Thomas Kling in „Manhattan Mundraum Zwei“ die Komplexität seiner Bilderwelt in den Vordergrund.[5] Das Gedicht besteht aus 21 Abschnitten, in denen die Motive des Loops, also der schleifenartigen Wiederholung von – in diesem Fall – Bildern, des Sehens und der Blindheit, von Licht und Klang in ein Verweissystem treten, das hier nicht angemessen interpretiert werden kann. Der Hinweis auf diesen Versuch, durch avantgardistische literarische Mittel Wahrnehmungsweisen einer Katastrophe zu rekonstruieren, muss genügen.

Tagebücher und Interviews

Tagebucheintragungen scheinen das Genre, das einem als schockhaft empfundenen Ereignis am ehesten angemessen ist – jedenfalls sind sie unter den Texten zum 11. September besonders stark repräsentiert.

Am ehesten einem Programm der Entpathetisierung verbunden sind die Aufzeichnungen von Walter Kempowski, die 2006 in einer sprachlichen Form erschienen, die Authentizität verspricht.[6] Unvollständige Sätze, unstatthafte Vergleiche machen den Eindruck von im Original wiedergegebenen Notaten – während sonst die für den Druck bearbeitete oder gar nur für die Veröffentlichung geschriebene Fassung die Regel sein dürfte. „Wie Flöhe fliegen Leute raus“ lautet ein Vergleich, der wenig Rücksicht auf Pietät nimmt. Der Verdacht wird wenige Zeilen später durch den Satz bestätigt: „Leute haben Choräle gesungen. Na.“ (12) Bereits am Folgetag notiert Kempowski, gegen die tatsächlich bald darauf widerlegte Vorhersage, künftig werde beim Katastrophenfilm ein Bildverbot bestehen: „Ein Szenarium für schlechte Autoren. Und oh! was wird es für Filme geben. Spielberg nagt schon am Bleistift.“ (15)

Während Kempowski als Sammler geschichtlicher Dokumente aus Krisenzeiten qua Profession Distanz wahren kann, benennt Max Goldt in seinen Notizen aus dieser Zeit durchaus Emotionen und seine Unruhe: „Nach Edmund Stoiber stellte ich den Fernseher aus. Leicht weggetreten wanderte ich, dem Panther von Rilke recht ähnlich, eine nicht gemessene Zeit lang durch die Wohnung, öffnete sinnlos Schubladen und schob sie wieder zu, betätigte sinnlos Lichtschalter und trat sinnlos auf den Treter vom Trittmülleimer.“ (21)[7] Allerdings ist bereits hier durch den offensichtlich unangemessenen Rilke-Vergleich ein Ironiemoment eingefügt. Goldt – was immer er in diesen Minuten real empfunden hat – weiß, dass er durch seine Feuilleton-Plaudereien als literarische Figur etabliert ist, und hat denn auch gleich eingangs seiner Tagebuch-Veröffentlichung das Nicht-Authentische – nämlich die „formalen Mogeleien“ (12), die ein gedrucktes Tagebuch erlaubt – hervorgehoben.

Max Goldt als literarische Figur ist der wohlwollend mahnende Onkel eines progressiv-liberalen Bürgertums, der vor Schlampereien gedanklicher und sprachlicher Art im Alltag warnt und ideologische Überspitzungen einer milde gehaltenen Lächerlichkeit aussetzt. Und so setzt sich die Ironisierung durch. Zum 13. September schreibt Goldt: „Um 10 Uhr ist staatlich verordnete Schweigeminute. Ich schweige auch wirklich, in erster Linie aber, weil keiner da ist, mit dem ich mich unterhalten könnte. Die Kollegen, auf die ich in der Hotelhalle warte, sind nämlich unpünktlich.“ (26)

So vernichtet Goldt einerseits das Pathos, das kurz darauf Kriege legitimieren wird. Dabei gibt es auch eine ernsthafte Schicht, nämlich Goldts Kritik an mangelhafter Form, die sich zum Beispiel in Sprachklischees zeigt: wenn Unfälle immer als „tragisch“ und die Suche nach Überlebenden immer als „fieberhaft“ gelten. (30f.) Dies zeigt einerseits Respekt vor den Opfern, ist aber andererseits im Gestus des freundlichen Durchschauens vorgetragen, der jegliches Engagement trifft und eine privatisierende Haltung befördert. Das ist unpolitischer als Kempowskis Ärger, der bereits am 11. September, gegen die vorherrschende Bildpolitik, das getroffene Pentagon, mit Unterstreichung, als „das Symbol“ erkannte. (12)

Eine dritte Variante repräsentiert Rafik Schami, dem als gebürtigen Syrer eine besondere Kompetenz für Probleme des Nahen Ostens zugebilligt wurde, der gleichzeitig bereits 2001 im deutschen Literatursystem gut etabliert war. Er unterbrach wegen der Anschläge die Arbeit an seinem Roman „Die Hand voller Sterne“, um bis in den Mai 2002 ein Tagebuch zu führen.[8]

Die Notizen setzen erst mit dem 11. Oktober ein, also einen Monat nach dem Ereignis. Gleich im ersten Satz bekennt Schami: „Ich brauchte einen Monat, um an den Schreibtisch zurückzukehren.“ (16) Doch wird der Leser nicht mit Gejammer geplagt, und nur auf den ersten Seiten finden sich Wendungen wie „schreckliche Gewißheit“, „Grenzen der Vernunft“ oder „Hilflosigkeit“. (16) Insgesamt aber sind die Aufzeichnungen ein Versuch, durch den Einsatz von Vernunft die Hilflosigkeit zu überwinden. Zu diesem Zweck analysiert Schami die Konflikte im Nahen Osten, wobei derjenige zwischen Israel und den Palästinensern eine zentrale Rolle einnimmt, aber Fehlentwicklungen auf der arabischen Seite ebenso benannt werden wie Nachwirkungen des europäischen Imperialismus. Zur historischen Dimension treten die aktuellen Entwicklungen: Stellungnahmen anderer Intellektueller, vor allem aber die neue Phase des Afghanistan-Krieges und die Kriegsbereitschaft der USA.

Die (bewusst literarisierte) Tagebuchform erlaubt auch da, wo wie bei Schami persönliche Erlebnisse kaum eine Rolle spielen, eine nicht lineare und nicht systematische Auseinandersetzung mit Politik. Das hat den Vorteil, auch widersprüchliche Gedanken hinschreiben zu können: So verurteilt Schami „jede Form von Antiamerikanismus“ als „feige Ausländerfeindlichkeit“, insofern der Hass gegen Fremde auf den Hass gegen einen mächtigen Staat umgelenkt werde. (31) Später aber behauptet er „dass alle Kriege, die die USA in der Welt führten“, durch die Wühlarbeit von CIA-Agenten vorbereitet worden seien, die erst die Zustände geschaffen hätten, die dann das Eingreifen legitimierten. (79) Das trifft für den Zweiten Weltkrieg wohl nicht zu; und in Lateinamerika mordeten US-Truppen zuweilen auch, ohne dass man erst mühsam Vorwände geschaffen hätte.

Das Beispiel belegt, dass sich nach anfänglichem Erschrecken über die Anschläge von New York in Teilen der literarischen Öffentlichkeit schnell eine Einschätzung verbreitete, die das Handeln der USA für mindestens ebenso gefährlich hielt wie den islamistischen Terror. Auf einer höheren Abstraktionsebene gilt das auch für die Tagebuchaufzeichnungen des vor allem als Lyriker hervorgetretenen Durs Grünbein. Der erste Teil erschien am 19.9.2001 unter dem Titel „Aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt“, in der FAZ. Die zwischen dem 11. und dem 16. September entstandenen Notate zeigen vielfach emotionale Berührung und tastende Erklärungsversuche. In der Fortsetzung, die im Dezemberheft der Zeitschrift „Literaturen“ zu lesen war,[9] ist dagegen kein erlebendes Ich mehr benannt, sondern werden kühn größte Zusammenhänge behauptet: „Der Nihilismus, wie Nietzsche ihn, überzeugt vom Ableben Gottes, hereinbrechen sah, kommt aus dem Osten. Er scheint slawischen Ursprungs, sein Horizont jedoch liegt in den rückwärtigen Räumen der orientalischen Despotie.“ (21)

Man muss nicht ernsthaft über solche Verallgemeinerungen, die in Inhalt und Ton wie von Ernst Jünger geklaut wirken, diskutieren. Wichtig ist aber eine auch ästhetisch grundierte Freude an militärischer Machtdemonstration: „Endlich sind die Flugzeugträger in Marsch gesetzt. Mit ihren flachen, majestätischen Oberdecks machen sie jedem Horizont Konkurrenz.“ (22) Dies leitet über zu einer Parallelisierung zwischen den USA und dem Römischen Reich, die den „historischen Augenblick“ treffe. (23) Grünbein verweist auf Kaiser Tiberius, der von seiner Residenz auf Capri aus die römische Flotte innerhalb weniger Stunden in Bewegung habe setzen können, und damit auf das Römische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch schon vorher hatte er, der Selbstberuhigung einer „machtgeschützten Innerlichkeit“ entgegen, katastrophenfreudig notiert: „Der Terror als Invasion, die Vernichtung aller Wirtsorganismen ist die radikalste aller denkbaren Wendungen. Sie gibt dem Ganzen den Charakter eines biologischen Endkampfs, gleich in wessen Namen und um welcher Idee willen dieser auch immer geführt wird.“ (21)

Wer näher am Geschehen ist, mag die Freude an der Konsequenz nur bedingt teilen. Kathrin Röggla befand sich am 11. September 2001 in New York und hat mit „really ground zero“ noch im Dezember 2001 das wohl meistbeachtete Buch zum Thema publiziert.[10] Der erste von 22 Abschnitten trägt den Titel „life“ und beginnt: „jetzt also hab ich ein leben. ein wirkliches.“ (6) Auch Röggla findet also zunächst, dass Innerlichkeit durch ein äußeres Geschehen, das erst Entwicklung ermöglicht, ersetzt wurde. Die lässige Formulierung des Einschnitts entzieht aber einem Pathos wie bei Grünbein den Boden.

Die folgenden Beobachtungen (alle auf den 11. September datiert) schildern denn auch nüchtern die Ereignisse, den Versuch, sich darin zu orientieren und vor allem das Problem, wie es sich denn angemessen zu verhalten gilt – darf man von der Katastrophe Photos machen? Wer qua Beruf an Reflexion gewöhnt ist, kann eben nur schwer unmittelbar erleben: „später laufe ich meinem wirklichen leben schon etwas hinterher durch greenwich village richtung hudson river“. (8)

Literatur ist hier auch ein Mittel der Distanznahme und damit einer Krisenbewältigung, die handlungsfähig erhält. Dem dient auch eine mediale Reflexion der Wahrnehmung, wenn es etwa bei der Explosion des zweiten Turms heißt: „ton und bildschiene fallen entschieden auseinander in ihrer psychischen wirkung, und wieder ist es die cineastische metapher […]“ (7f.) Die Bilder, sogar die selbst gesehenen, wirken bei Röggla wie Reproduktionen des medial vorgefertigten Originals; und später heißt es denn auch: „nein, absolut kein fotoausgang aus der geschichte.“ (21)

Allerdings beinhaltet das Buch neben Rögglas Texten auch zahlreiche Photos, die wohl, trotz aller medientheoretischen Skepsis, vermitteln sollen, wie es denn im New York dieser Tage gewesen sei. Manche Einträge entlarven mediale Inszenierungen, was ohne Bezug auf ein vormediales Reales sinnlos wäre: die ausführliche Wiedergabe von Pathosformeln, mit denen US-Kongressabgeordnete künftigen Kriegen zustimmen (30ff.) oder die Inszenierung des Präsidentengesichts in der obligatorischen betroffenen Schweigeminute (38). Auch schildert Röggla unzweifelhaft Reales, so die Übergriffe auf Araber und ihre Geschäfte unmittelbar nach den Anschlägen (27f.) und an vielen Stellen die Aktivitäten der sich rasch formierenden US-amerikanischen Friedensbewegung. Rögglas Parteinahme gegen die Politik der US-Regierung ist unzweideutig.

Das Fazit ist dennoch im Ungewissen gehalten. In einem Selbstinterview versucht sie, Rechenschaft abzulegen, was sie „in diesen Haufen an Authentizität“ hineingetrieben habe: „da muss man sich ja erst einmal zurechtfinden, da muss man doch erst einmal überblick gewinnen!“ (108) „aber überblick gibt’s doch nicht“ wendet ein Teil des Ich ein, worauf der andere antwortet: „ach was.“

Das Problem ist zentral, denn nur wer in einer Krise den Überblick hat, kann für seine Antworten gesellschaftliche Relevanz beanspruchen. Das „ach was“ ist gerade keine eindeutige Antwort. Es kann, abfällig ausgesprochen, etwas wie „Quatsch!“ bedeuten, aber auch, ironisch: „Was du da sagst, das wissen wir doch längst alle.“ Vermutlich war 2001 eine solche Nicht-Festlegung noch die Voraussetzung dafür, im offiziellen Literaturbetrieb geduldet zu werden, und wären heute etliche Kriege und eine Finanzkrise später die Bedingungen besser. Unter den Voraussetzungen einer Ideologie der Ideologielosigkeit kann jedenfalls die Verunsicherung eine wirksame Strategie sein.

Fiktionalität

Das deutschsprachige Theater hat sich bisher nur wenig mit den Anschlägen befasst. Einige der Stücke, die es immerhin gibt, können hier nur kurz genannt werden: Werner Fritschs „Hydra Krieg“ (2002), in dem der 11. September nur ein Beispiel für eine bis ins Mythologische zurückreichende gewaltgeprägte Menschheitsgeschichte ist, und „abu dhabi oder der erste apokalyptische tag“ von Ralf-G. Krolkiewicz, der 2007 ausgehend von dem New Yorker Ereignis auch der Beginn der daraus folgenden Kette von Kriegen in seinem Stück behandeln konnte. Carsten Brandau konzentriert sich dagegen in „Wir sind nicht das Ende“ (2005) auf die Beziehung zwischen einem der Flugzeugentführer und seiner Freundin, die erst kurz vor dem Anschlag verklausuliert von dem Vorhaben erfährt. In der Konzentration auf die Täterseite stellt das Stück eine Ausnahme dar, wobei die Beziehungspsychologie die politischen Motive dominiert.[11]

Einen anderen Ansatz bietet David Lindemanns „Koala Lumpur“ (2003): In den Tagen nach dem 11. September hausen eine Sekretärin und ein Praktikant fast allein auf einem verregneten New Yorker Campingplatz.[12] Wahrscheinlich wegen des Anschlags haben sie ein Meeting im WTC versäumt, beharren aber auf dem Plan, auf die Aussichtsplattform zu fahren, sobald das Wetter aufklart. Nach etlichen Tagen werden die beiden von zwei Japanern besucht, denen die ob des Zwangsaufenthalts im engen Zelt schon etwas hysterische Sekretärin scherzhaft verrät, nächstens Disneyland angreifen zu wollen. Damit ist auch die Radiodurchsage am Anfang des Stücks erklärt, die von der erfolgreichen Liquidierung zweier deutscher Terroristen bei der Bombardierung des Zeltplatzes berichtete.

Das Stück bietet etliche pointierte Wortwechsel und einige bemühte Spiegelungen des Theatertexts als Medium; eine Handlung hat es nicht. Die Gespräche besetzen einen Raum an der Grenze zwischen Figurenpsychologie und einem Theater des Absurden, wie es etwa Eugène Ionesco pflegte; „The End“, nämlich die Bombardierung, ist im Dialog explizit mit dem gleichnamigen Lied der „Doors“ und dessen Zitat in Francis Ford Coppolas Vietnamfilm „Apocalypse Now“ verbunden, ohne dass daraus irgendwelche politischen Konsequenzen gezogen würden. Die sich abgeklärt gebende Spielerei ist letztlich Abendunterhaltung für ein selbstgenügsames Theaterpublikum.

Das Bühnenwerk ist zeitlich beschränkt und verlangt Knappheit. Erzählungen und gar Romane können dagegen Nebenepisoden beinhalten. In wie vielen Prosabüchern der 11.9. immerhin erwähnt ist, lässt sich nur schwer feststellen. Weit über die bloße Anspielung hinaus geht indessen Katharina Hacker in ihrem 2006 erschienenen Roman „Die Habenichtse“.[13] Hier stehen die Anschläge am Beginn der Handlung. Jakob, einer der Protagonisten, verlegt ein für den 11. September im World Trade Center geplantes Treffen um wenige Tage vor, um in Berlin an einer privaten Feier teilnehmen zu können. So entgeht er anders als sein New Yorker Kollege dem Anschlag und kann an dessen Stelle Anfang 2002 die Vertretung der gemeinsamen Anwaltskanzlei in London übernehmen, wo Hacker dann die Handlungsstränge ihres Buchs zusammenführt.

Was die Beteiligten durch das Fernsehen mitbekommen, entspricht ungefähr der stereotypisierten Erinnerung; die politischen Äußerungen der wohlsituierten, eher linksliberalen jungen Leute, die den Roman bevölkern, haben wenig Originalität, was nicht gegen das Buch, sondern für Hackers Fähigkeit zur Beobachtung spricht. Die Folgen des Attentats werden in den kommenden Monaten allen Beteiligten klar, hervorgehoben besonders in der Beschreibung der Stimmung in London im Frühjahr 2003, als die Beteiligung Großbritanniens am Angriff auf den Irak die Furcht vor Anschlägen befördert.

Doch ist dieses Gefühl der Unsicherheit nur ein Aspekt der Bedrohungen, die sich während des Londoner Aufenthalts von Jakob verdichten. Einer seiner Bekannten denkt über die Folgen der Attentate: „[…] irgend jemand würde den Preis dafür bezahlen, daß sich hier, egal ob in Deutschland oder den USA, die Leute fühlten, als hätte man sie der ihnen zustehenden Wirklichkeit beraubt. Es wird Wirklichkeit in die Welt gebombt werden, dachte er, bis die Leute hier wieder beruhigt sind, beruhigt in der alten Ungerechtigkeit, die ihnen vertraut und angenehm ist.“ (36)

Damit ist der für den Roman zentrale Versuch, Wirklichkeit zurückzugewinnen, genannt. Dieser Versuch ist in der Haupthandlung jedoch nicht politisch motiviert, sondern durch die Haltlosigkeit der Protagonisten bedingt. Deshalb sucht insbesondere Jakobs Frau Isabelle Momente alltäglicher Gefahr. Die Krise der „Habenichtse“ ist im Kern privat, und der politische Konflikt ist als Katalysator ins Buch eingebaut.

Ähnliches gilt für Ulrich Peltzers Erzählung „Bryant Park“.[14] Als Entstehungszeit des 2002 erschienenen Buches ist „Dezember 2000 / November 2001“ angegeben; tatsächlich bedeuten die Anschläge einen Einschnitt, der im Buch deutlich markiert ist. In etwa drei Vierteln des Textes geht es um einen Schriftsteller, der wegen der Liebe zu einer Schauspielerin sich ein New-York-Stipendium verschafft hat und nun in der Bibliothek Namenslisten durchschaut, Cafés und das Freilichtkino im titelgebenden Park besucht, während seine Beziehung zerfällt. Mehr geschieht nicht; Peltzer erzählt weniger eine Handlung als dass er in fast endlos mäandernden Sätzen prägnante Details derart anhäuft, dass sie in der Summe wieder unanschaulich werden und das Sprachkunststück übrigbleibt.

Allerdings herrscht hier von Beginn an ein Gefühl der Gefahr. Im Fernsehen wird über tödliche Unfälle berichtet, die Polizei sperrt die Straßen in den Süden von Manhattan, ohne dass man wüsste weshalb. Rückblenden schildern den Abschied des kaum fassbaren Ich von seinem sterbenden Vater und den scheiternden Versuch, durch einen Drogendeal an Geld zu kommen. Statik und Bedrohung werden mit herausgestellter Kunstfertigkeit betont.

In diese Atmosphäre brechen die Anschläge aufs World Trade Center ein, die zum Beginn der Buchkonzeption nicht absehbar waren. Der Wechsel ist denkbar krass: Die Sprache ist nun stark vereinfacht, und konventionalisierte Bilder wie „gigantische Staubwolken, einstürzende Wolkenkratzer, Boeing-Flugzeuge, die in Hochhäuser rasen, in Panik wegrennende Menschen“ (123) werden aufgerufen. Das Erzähl-Ich trägt plötzlich, wie der Autor, den Namen Ulrich und versucht verzweifelt, per Telefon und Mail Freunde in New York zu erreichen. Ulrich zitiert einfach geschriebene Not-Mails und politisch naiven Zuspruch, so bei einem Telefongespräch: „Nein, sage ich (und habe Sehnsucht, sie in den Arm zu nehmen), die bomben ein paar Städte am Hindukusch zusammen, und dann ist es wieder gut (vielleicht kann die Liebe auch einfach sein, vielleicht ist das nicht immer so kompliziert).“ (127f.)

Dass diese einfache Lösung für die Städtebewohner am Hindukusch auch ein paar Probleme mit sich bringen kann, sollte man nicht dem realen Autor Ulrich Peltzer vorwerfen, denn er demaskiert mit dieser Passage ein Lebensgefühl in der sich als abgeklärt begreifenden, kritischen Intellektuellen-Schicht. Tatsächlich sind weniger die zehn Seiten über den politischen Terrorismus das Skandalon dieses Buches, sondern dass nach diesem Einbruch des Realen die Erzählstränge ordentlich an ihr Ende geführt werden, als wäre nichts geschehen. Die Schicht, um die es hier geht, hat sich in einer ästhetisch begriffenen Lebenskrise eingerichtet und lässt sich durch eine reale politische Krise nicht erschüttern.

Das gilt in gewissem Maße auch für einen Text von Barbara Bongartz und Alban Nikolai Herbst, der genremäßig schwer einzuordnen ist. „Inzest oder die Entstehung der Welt“ besteht aus Briefen und Mails, die sich Bongartz und Herbst schreiben, doch derart stilisiert und kunstvoll gedoppelt durch zwei fiktive Geschwisterpaare, die sich ebenfalls schreiben, dass sie selbst auch zu Kunstfiguren werden. Gespiegelt wird die Korrespondenz zudem durch Andreas Wehr – der real Herausgeber der Literaturzeitschrift „Schreibheft“ ist, in der „Inzest“ erschien, und der als Arrangeur des „Romans in Briefen“ an der Korrespondenz teilhat.[15]

Es kommt zu äußerst stilisiert dargebotenen Wortgefechten über Kunst und über Sex, die – ähnlich wie in „Bryant Park“ – von den Anschlägen gestört werden. Nur in diesem Zusammenhang erwähnt „Herbst“ seine Familie (54) und weichen „Bongartz“ und „Herbst“ auf ein drittes, schnelleres Schriftmedium aus, auf SMS, die in Großbuchstaben zitiert werden: „16.31 ARABISCHE FLUGZEUGE HABEN DAS WORLD TRADE CENTER ZERSTÖRT. EIN DRITTES FLOG IN / 16.32 WOLLEN SIE MICH VERARSCHEN? / 16.33 DAS PENTAGON, SPRACHLOS! / 16.35 FINDEN SIE DAS KOMISCH? / 16.37 NEIN! SCHALTEN SIE EIN RADIO EIN!“ (50f.)

An dieser Stelle fehlt die stilisierte Distanz, mit denen die beiden sonst ihre Kämpfe austragen. Beide Autoren sind persönlich von den Ereignissen berührt, beide haben (als reale Personen) New-York-Romane geschrieben. Es geht nun darum, die Fassung zurückzugewinnen.

Was es an politischer Einordnung gibt, ist nicht dumm; etwa wenn Herbst an „die Toten von Chile, von Panama, von Vietnam, von Korea“ (61) und damit an die Gewaltsamkeit der Welt erinnert, die zu bewahren der US-Imperialismus stets alles ihm Mögliche unternimmt. Zentral ist aber auch hier der Rückzug. Im den SMS vom 12.9. kommt es zur folgenden Konfrontation: „09.07 SELBSTVERSTÄNDLICH SCHREIBEN WIR WEITER! SELBSTVERSTÄNDLICH HÖREN WIR WEITER MUSIK. UND / 09.08 SELBSTVERSTÄNDLICH LIEBEN UND VÖGELN WIR WEITER UND PHANTASIEREN UND KÄMPFEN UND / 09.09 LACHEN. SELBSTVERSTÄNDLICH. ANH / 09.12 SELBSTV.!? NICHTS IST MEHR SELBSTV. NICHTS. REGENTSCHFT D. HYBRIS!!!“ (53)

Das Gewohnte – und damit die von Herbst vertretene Position – setzt sich durch. Die erotischen und künstlerischen Wortgefechte nehmen wieder ihren Platz ein, mit wenigen Rückbezügen auf die Realpolitik.

Kritik ohne Engagement

Das bezeichnet im Kontext keineswegs eine völlig politikfeindliche Position, sondern den Widerstand dagegen, sich auf Kosten der individuellen Lebenskunst für einen Konflikt mobilisieren zu lassen. Das berührt ein Konfliktfeld, das die folgenden Schlussthesen umreißen:

Erstens: Die Autoren reagieren auf einer unmittelbar politischen Ebene mit einer Verurteilung der Anschläge. Allerdings geht dies, soweit überhaupt beurteilt wird, durchgehend mit einer skeptischen bis feindseligen Haltung gegenüber der US-amerikanischen Außenpolitik einher. Häufig werden die zahlreichen Verbrechen der US-Regierung benannt, die wesentlich zum Zustand der Welt beigetragen haben; noch häufiger wird die auf die Anschläge folgende Kriegspolitik abgelehnt. Aus Skepsis und Ablehnung folgt allerdings keine positive Parteinahme, wohl auch, weil ein progressiver Bezug auf die Herrschaft der Taliban unmöglich ist und in der Kriegsregion positive Akteure fehlen.

Zweitens: An die Stelle des Engagements treten vielfach Formfragen, die sich in der Ablehnung ritualisierter Trauermuster zeigen; dafür steht der Hohn über Schweigeminuten in fast allen der Tagebücher. Dieses Moment der Haltung richtet sich gegen die Intimisierung von Politik, wie sie in Westdeutschland die Nach-68er betrieben haben; gegen das staatsoffizielle Pathos der Kriegsvorbereitung gerichtet, ist es nicht reaktionär, sondern markiert eine private Opposition.

Drittens: Das Verhältnis von Privatheit und Krise wird zum wichtigsten Moment der literarischen Verarbeitung der Anschläge. Das Ereignis kann einerseits (wie bei Röggla) als Rückkehr des Wirklichen in ein zuvor durch postmoderne Ironie und mediale Vermittlung als distanziert empfundenes Leben erscheinen; andererseits gibt es schon bei Röggla Distanzierungen von diesem Pathos, und in den Prosawerken wie in Grünbeins „September-Elegien“ setzt sich am Ende das Private als das Wirkliche durch. Sogar wenn – wie in Lindemanns Theaterstück – das Reale qua Bombe der privaten Existenz ein jähes Ende setzt, ist der Anlass triviales privates Geschwätz.

Viertens: Die 2001 zu den Jüngeren zählenden Schriftsteller erweisen sich in diesem Konfliktfeld als politisch bewusst und gleichzeitig nicht politisch mobilisierbar. Damit grenzen sie sich von einem älteren Autor wie Hans Magnus Enzensberger ab, der sogleich auf die Suche nach dem aktuellen Feind ging.[16] Sie kennen zu jedem Argument das Gegenargument, und auch pointierte Sätze sind fast stets durch die literarische Form relativiert. Wo dies – wie in der „Fluchtzeiten“-Anthologie – nicht durchgängig der Fall ist, fehlt durchgängig der politische Akteur. Dass die Autoren, auch wo sie klug sind, angesichts der Krise in Haltung, Form oder Innerlichkeit fliehen, ist kein Problem, das literarisch überwunden werden könnte. Vielmehr ist progressive Politik die Voraussetzung für progressive Literatur.

[1] Steve Comes, Nicole Rensmann, Matthias von Schramm, Angela Wagner, Gedanken im Sturm, Parchim 2002. Zitate hieraus und im Folgenden mit Seitenangaben im Haupttext.

[2] Fritz Reutemann (Hg.), Fluchtzeiten. Das Ende der Totlachgesellschaft? Vechta-Langförden 2002.

[3] Robert Gernhardt, Sonett vom Ende der Spaßgesellschaft in diesem unseren Lande, in: Gernhardt, Gesammelte Gedichte. 1954-2004, Frankfurt a. M., S. 741.

[4] Durs Grünbein, September-Elegien, in: Grünbein, Erklärte Nacht. Gedichte, Frankfurt a. M. 2002, S. 50-52.

[5] Thomas Kling, Manhattan Mundraum Zwei, in: Kling, Sondagen. Gedichte, Köln 2002, S. 9-17.

[6] Walter Kempowski, Auszüge aus dem Tagebuch 2001, in: text kritik 169. Walter Kempowski, München 2005, S. 3-31.

[7] Max Goldt, Wenn man einen weißen Anzug anhat, Reinbek bei Hamburg 2002.

[8] Rafik Schami,: Mit fremden Augen. Tagebuch über den 11. September, den Palästinakonflikt und die arabische Welt, Heidelberg 2002.

[9] Durs Grünbein, Der Terror auf seinem Flug durch die Städte, in: literaturen, Heft 12 (2001), S. 20-23.

[10] Kathrin Röggla, really ground zero. 11. september und folgende, Frankfurt am Main 2001.

[11] Werner Fritsch, Hydra Krieg, in Fritsch, Schweijk? Hydra Krieg. Stücke und Materialien, Frankfurt a.M. 2004, S. 107-182; Ralf-G. Krolkiewicz, abu dhabi oder der erste apokalyptische tag, München 2007; Carsten Brandau, Wir sind nicht das Ende, München 2005. Eine Darstellung der drei Stücke findet sich bei Tom Kindt, Bleibt alles anders, wird alles gleich. Der 11. September im deutschsprachigen Drama, in: Ingo Irsigler, Christoph Jürgensen (Hg.), Nine Eleven. Ästhetische Verarbeitungen des 11. September 2001, Heidelberg 2008, S. 117-126. Der Band bietet einen guten Überblick über die deutsche und die US-amerikanische Rezeption der Anschläge in den Künsten.

[12] Carsten Lindemann, Koala Lumpur. Fragile Textur in: Theater Theater. Anthologie. Aktuelle Stücke 13, Frankfurt a. M. 2003, S. 235-285.

[13] Katharina Hacker, Die Habenichtse. Roman, Frankfurt a. M. 2006.

[14] Ulrich Peltzer, Bryant Park. Erzählung, Zürich 2002.

[15] Barbara Bongartz, Alban Nikolai Herbst, Inzest oder Die Entstehung der Welt. Der Anfang eines Romans in Briefen, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 58 (2002), S. 1-164.

[16] Hans Magnus Enzensberger, Die Wiederkehr des Menschenopfers. Der Angriff kam nicht von außen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.9.2001, S. 49.

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