Flüchtlingspolitik und Neuformierung der Rechten

Verabredung zum Sterbenlassen

EU-Flüchtlingspolitik und die Situation in Deutschland

von Christian Jakob
März 2015

Donnerstag, 10. Dezember 2014. Bei einer Pressekonferenz in Genf verkündet der UN-Menschenrechtsbeauftragte Seid Ra’ad al-Hussein einen traurigen Rekord: Seit Anfang 2014 haben sich mehr als 207.000 Menschen auf den Weg nach Europa gemacht – fast drei Mal so viele wie im bisherigen Rekordjahr 2011. Bei der Überfahrt ertranken oder verdursteten 3.419 von ihnen. Das Mittelmeer sei zur „tödlichsten Flüchtlingsroute der Welt“„ geworden, sagte Al-Hussein. Das „Desinteresse“„ in zahlreichen Ländern angesichts des „Leids und der Ausbeutung dieser verzweifelten Menschen“„ sei „zutiefst schockierend“„.

Parallel stiegen auch die Zahlen in Deutschland. 2014 wurden beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge insgesamt 173.000 Asyl-Erstanträge gestellt, knapp 64.000 mehr als im Vorjahr – eine Steigerung um etwa 60 Prozent. Die größte Gruppe waren SyrierInnen mit etwa 39.000 Anträgen, gefolgt von Flüchtlingen aus Serbien (ca. 17.000), Eritrea (ca. 13.000), Afghanistan und Irak (je ca. 10.000).

Für den größten Teil des Anstiegs sind die anhaltenden Syrien-Krise und die immer unzumutbarer werdende Lage in den Flüchtlingslagern der Region verantwortlich. Der Feldzug des IS ließ auch die Zahl der Flüchtlinge aus dem Irak ansteigen. Mit etwa 40.000 Anträgen stammte ein sehr großer Anteil der Flüchtlinge auch aus den so genannten Westbalkanstaaten Serbien, Bosnien und Herzegowina, Albanien, Kosovo und Mazedonien. Dabei handelt es sich meist um Roma, die in der Region unter systematischem sozialen Ausschluss und unter Angriffen leiden.

Es ist insgesamt die vierthöchste Zahl, die je in Deutschland verzeichnet wurde. Das Thema bestimmt seit Monaten die politische Debatte. Das Kanzleramt und mehrere Bundesländer veranstalteten Flüchtlingsgipfel, die Kommunen erklärten den Notstand, einige schlossen gar alle Aufnahmeeinrichtungen. Die große Koalition setze eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen im Asylbereich durch. Nicht alle waren zum Nachteil der Flüchtlinge. Die öffentliche Stimmung oszilliert zwischen einer bemerkenswerten privaten Hilfsbereitschaft, die nicht mit dem fremdenfeindlichen Grundton der Asyldebatte in den 1990er Jahren zu vergleichen ist. Auf der anderen Seite ist eine wachsende Zahl von Angriffen auf Flüchtlinge und Flüchtlingsheime zu verzeichnen, ebenso wie die an vielen Stellen entstehenden fremdenfeindlichen Bündnisse von Bürgern und Nazis. Schließlich dürften auch die hohen Asylzahlen das vorübergehende Erstarken der Pegida-Bewegung beeinflusst haben.

Der Krieg in Syrien hat die Notwendigkeit einer konsistenten, menschenrechtskonformen Asylpolitik immer deutlicher werden lassen. Doch eine solche ist nicht in Sicht. Die EU lässt sich als „Raum des Schutzes und der Solidarität“ feiern, der den Opfern von Kriegen und Verfolgung Zuflucht bietet. Gleichzeitig tut sie alles, um zu verhindern, dass Menschen, die diesen Schutz nötig haben, ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen können. Die legale Einreise wird den meisten von ihnen verweigert. Der Eintritt nach Europa ist nur auf gefährlichen Wegen und unter großen Entbehrungen möglich. Ziel der Grenzpolitik ist es vielmehr, die Bewegungen von Menschen zu beschränken und zu kontrollieren – und zwar auch außerhalb ihres eigenen Territoriums. Schon weit vor den eigenen Grenzen ist die EU-Grenzschutzagentur Frontex aktiv. Das Ergebnis sind nicht nur Tausende Tote an den Außengrenzen der EU, sondern auch eine zunehmende Beschneidung der Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen und MigrantInnen in den Transit- und Herkunftsregionen.

Der Weg über das Meer

Die Flüchtlinge kommen im Wesentlichen über vier Routen. Die Spitzenstellung unter ihnen nimmt das zentrale Mittelmeer ein. Vor allem aus dem im Chaos versinkenden Libyen starteten zwischen Januar und Oktober 2014 etwa 150.000 Flüchtlinge. Über die Türkei und die Ägäis in Richtung Griechenland kamen im selben Zeitraum 43.000 Menschen. Eine vergleichsweise geringe Zahl von insgesamt 23.000 Menschen überschritt derweil die Grenzen des Schengen-Raums zwischen Marokko und Spanien sowie auf dem Balkan.

Das zentrale Mittelmeer ist eine der am besten überwachten Seeregionen der Welt. Küstenwachen, Satelliten, Radar und bald auch Drohnen registrieren Bewegungen von Schiffen. Der Grund dafür, dass dort Tausende Menschen ertrinken, ist kein Mangel an Information. Viele Vorfälle aus der Vergangenheit zeigen vielmehr: Dass Küstenwachen über Boote in Seenot informiert sind, heißt längst nicht, dass sie auch helfen. Einer der am besten dokumentierten Fälle trug sich am 8. Oktober 2013 zu. An diesem Tag sank ein Schiff mit syrischen Flüchtlingen südlich von Lampedusa. Die italienische Marine hatte acht Stunden lang nichts unternommen, um die Flüchtlinge zu retten, weil formal das weiter entfernt liegende Malta für das Gebiet zuständig ist. Die Malteser erreichten den Unglücksort erst, als das Schiff gesunken und über 200 Menschen ertrunken waren

Die Katastrophen vor Lampedusa im Herbst 2013 markierten eine Zäsur in der Migrationspolitik im Mittelmeerraum. Italien wandte sich mit der Bitte um Hilfe an Brüssel. Doch die EU wies Rom zurück: „Kann man mehr tun? Ja, aber das ist eine Sache der Mitgliedsstaaten“, sagte der Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström. Und Italien tat mehr. Es sorgte für ein vorläufiges Ende des Sterbens auf dem Meer. Nie kamen mehr Flüchtlinge als im Jahr 2014. Und nie zuvor wurden mehr gerettet als durch die „Mare Nostrum“-Marinemission. Das italienische Militär kreuzte seit November 2013 mit allem, was es aufbieten konnte, bis kurz vor der Küste Libyens. Hilfe bekam Italien allerdings nicht. Die EU trug nur etwa ein Zehntel der Kosten des Projekts von etwa acht Millionen Euro im Monat. Und Italien blieb nicht nur auf diesen Ausgaben sitzen. EU-Europa änderte auch nichts daran, dass das Land sich ganz allein um die über 100.000 Flüchtlinge kümmern muss, die Italiens Soldaten aus dem Wasser zogen. Seit dem Frühjahr 2014 hatte es immer wieder Unterstützung aus Brüssel gefordert. Ohne Erfolg.

Von „Mare nostrum“ zu Frontex

Im Mai erhöhte Italien den Druck und zog sich etwas von Libyens Küste zurück. Sofort schnellten die Zahlen der Unglücke hoch: 1.600 der 1.800 ertrunkenen Flüchtlinge in diesem Jahr starben in dieser Zeit. Die tödliche Demonstration ließ die EU unbeeindruckt. Denn anders als bei dem Unglück 2013 wurde jetzt langsam hintereinanderweg gestorben, und nicht auf einen Schlag. Im Sommer schließlich hatte Italien genug. Die EU entschied stattdessen, ab dem Winter „Mare Nostrum“ durch die EU-Grenzagentur Frontex zu ersetzen. Es war eine Verabredung zum Sterbenlassen.

Die Binnenfreizügigkeit der EU hatte zur Folge, dass viele Staaten, etwa Deutschland, sich außer an Flughäfen kaum mehr um Grenzkontrollen kümmern müssen. Andere, wie Griechenland, müssen diese Aufgabe nun für ihre EU-Partner mit erledigen. Das Gründungsprinzip von Frontex lautete deshalb: EU-weit Material und Personal einsammeln und dorthin schicken, wo Bedarf ist. Die von Frontex zu Einsätzen geschickten Grenzpolizisten sind dabei stets Gäste des Landes, auf dessen Hoheitsgebiet der Einsatz stattfindet. Anders als vielfach behauptet, ist Frontex selbst nämlich keine europäische Grenzpolizei – auch wenn es in Warschau und Brüssel durchaus entsprechende Gedankenspiele gibt.

Bis heute aber bewegt Frontex nur einen Bruchteil der etwa 400.000 EU-Grenzschützer. Der Anteil wächst zwar, doch die Mitgliedstaaten sind nach EU-Recht nicht verpflichtet, Personal oder Material zu stellen. Alle Beiträge zu Frontex-Missionen erfolgen freiwillig – was immer wieder auch dazu führte, dass Staaten schon zugesagtes Material wieder zurückzogen. „Wir brauchen eigenes Material, wir dürfen nicht zu abhängig von den Mitgliedstaaten sein,“ sagte der ehemalige Frontex-Direktor Laitinen schon zum 5. Gründungstag der Agentur 2010.

Doch das ist bisher nicht vorhanden. Und so kann Frontex „Mare Nostrum“ nicht ersetzen. „Die EU muss für das Jahr 2015 eine robuste Seerettungsmission organisieren. ‘Triton’ kann das nicht sein“, sagte der UN-Kommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres im Dezember 2014. „Ob es etwas Neues ist oder ob „Mare Nostrum“ wiederaufgenommen und von der EU finanziert wird, ist uns egal. Entscheidend ist, dass die Seerettung garantiert wird. Sonst werden wir weiterhin Zeugen vieler Tragödien vor Lampedusa sein.“

Fluchthilfe ist kein Menschenhandel

Mit Ausnahme der Regionen um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla ist die Grenzübertritt für Flüchtlinge nach Europa praktisch ausschließlich mit Hilfe von Schleppern möglich. 2014 hat die Bundesregierung eine Strategie gegen irreguläre Migration aus Nordafrika vorgelegt. Schleusung wird in dem Papier neben Terrorismus und Rauschgifthandel unter „kriminelle Aktivitäten“ geführt. Schlepper werden der „organisierten Kriminalität“ zugerechnet und in einem Atemzug mit TerroristInnen genannt, wenn es um die Verschärfung von Gesetzen geht. Der Forderung nach Menschenrechten an Europas Grenzen wird die Gleichsetzung von Migration und Menschenhandel entgegen gehalten.

Die Strafen für Schlepperei wurden in den letzten Jahren empfindlich erhöht. In den Nachbarländern Europas, im Nahen Osten oder Nordafrika, hat die EU auf diplomatischem Weg für entsprechende Strafrechtsreformen oder Justizpraxen gesorgt; im Innern haben die Mitgliedstaaten Ähnliches getan. In Griechenland etwa müssen Fluchthelfer mit langen Gefängnisstrafen rechnen: 15 Jahre für die erste Person, zwei weitere Jahre für jede weitere Person. Höchststrafe: 25 Jahre. Von je zehn Jahren Haft müssen in der Regel vier abgesessen werden. Minderjährige werden etwas milder bestraft.

In Italien hatten die Postfaschisten 2002 das sogenannte Bossi-Fini-Gesetz durchgesetzt. Seither drohen nicht nur Flüchtlingen Bußgelder von bis zu 5.000 Euro für die illegale Einreise. Jene, die sie nach Italien bringen, können zu hohen Strafen verurteilt werden. Allein seit Mitte Juni 2014 finden sich in italienischen Zeitungen Berichte über die Festnahme von insgesamt 260 Fluchthelfern.

All das sprach sich herum – und hatte Folgen. Die Schlepper reagieren auf die intensivierte staatliche Verfolgung, indem sie immer seltener Kapitäne mitfahren lassen. Flüchtlinge bekommen heute oft nur noch ein Boot, das sie selbst steuern müssen. Seenot ist so vorprogrammiert. Das dürfte einen erheblichen Teil der tödlichen Unglücke der letzten Jahre mit verursacht haben. Zuletzt zeigte sich das Phänomen mit den beiden als „Geisterschiffe“ bekannten Frachtern „Blue Sky M“ und „Ezaleen“. Die in der Türkei gestarteten Schiffe waren Anfang Januar 2015 mit insgesamt 1.300 syrischen Flüchtlingen an Bord vor der italienischen Küste gestoppt worden. Die Besatzung hatte den Autopilot eingestellt und die Schiffe entweder verlassen oder sich unter die Flüchtlinge gemischt. Die andere, nicht minder tödliche Konsequenz besteht in unterlassener Hilfeleistung durch andere Schiffe aus Angst vor Strafverfolgung.

Eine „grausame Lotterie“

Was Flüchtlinge erwartet, nachdem ihnen die Einreise in die EU geglückt ist, ist kaum kalkulierbar. Der Umgang mit MigrantInnen ist in den einzelnen EU-Staaten sehr unterschiedlich. Dabei hat die EU seit 1998 an ihrem neuen, gemeinsamen Asylsystem CEAS (Common European Asylum System) gearbeitet. Es war eines der größten Harmonisierungsprojekte der Union. Die für Asylfragen zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström verglich das alte System mit einer „grausamen Lotterie für Asylsuchende“. Während die Staaten an den Außengrenzen wie Griechenland, Malta, Polen, Ungarn oder Italien MigrantInnen oft erst in Internierungslagern einsperren, um sie dann teils sich selbst zu überlassen, gewähren Staaten Zentral- und Nordeuropas relative Freiheit und Versorgung – sofern die Flüchtlinge nicht abgeschoben werden. Und während Frankreich etwa im ersten Quartal 2013 nicht einmal jeden fünften Asylantrag anerkannt hat, waren es in den Niederlanden mehr als Hälfte.

Die Prüfung von Asylanträgen und die Behandlung Schutzsuchender sollten durch das CEAS EU-weit angeglichen werden – von der Größe der Zellen in Abschiebegefängnissen bis zu Standards für die Einstufung der Lage in den Herkunftsländern. Seit Juni 2013 ist das CEAS nun in Kraft, die Realität aber ist: Die Menschen, die in der EU Schutz suchen, riskieren nicht nur ihr Leben auf dem Mittelmeer, sondern werden in Europa vielfach wie Kriminelle behandelt.

Die sogenannte Aufnahmerichtlinie erlaubt es, Asylsuchende monatelang einzusperren. Damit ist nicht etwa die in Deutschland bekannte Abschiebehaft gemeint, die verhängt wird, um eine direkt bevorstehende Abschiebung durchzusetzen. Die Internierung richtet sich gegen Neuankömmlinge – noch vor der Antragstellung, aber auch während des laufenden Verfahrens. Und sie ist sogar bei Minderjährigen erlaubt. Die Grundlagen dafür sind so schwammig formuliert, dass die Behörden nach Belieben praktisch jeden Flüchtling jederzeit einsperren können. Möglich ist dies zur Feststellung der Identität, zur Beweissicherung – gemeint ist das Verfahren um das Aufenthaltsrecht –, zur Prüfung des Einreiserechts, wegen verspäteter Asylantragsstellung, aus Gründen der „nationalen Sicherheit und Ordnung“ und zur Verhinderung des Untertauchens.

Vor allem in den Staaten an den Außengrenzen der EU ist es seit Jahren gang und gäbe, Flüchtlinge unter meist katastrophalen Bedingungen einzusperren. Diese Praxis wurde durch das CEAS legalisiert. Nun müssen die gefängnisartigen Internierungslager für Flüchtlinge allerdings bestimmte Standards erfüllen. Ihren Bau oder ihre Umrüstung finanziert die EU. Zudem wird jeder Flüchtling, der in die EU einreist, in der Biometrie-Datenbank Eurodac registriert. So wird verhindert, dass in mehreren Ländern ein Asylantrag gestellt wird. Aber auch die Polizei hat seit 2013 Zugang zu der ständig wachsenden Fingerabdruck-Datenbank – Flüchtlinge stehen so unter Generalverdacht.

„Refugees in orbit“

Die Registrierung in der Biometrie-Datenbank ist die administrative Grundlage der europäischen Asylpolitik. In Deutschland legt der sogenannte Königsteiner Schlüssel fest, wie ankommende Flüchtlinge unter allen 16 Bundesländern aufgeteilt werden. Grundlage ist dabei ein Mix aus Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl. So muss sich Nordrhein-Westfalen um jeden fünften Flüchtling kümmern, Bremen um jeden hundertsten.

In der EU ist das anders: Seit 2003 gilt hier die Dublin-II-Verordnung – mittlerweile in ihrer leicht reformierten Fassung (Dublin III). Ihr ursprüngliches Ziel war es sicherzustellen, dass es in Europa keine Flüchtlinge gibt, die zwischen den Staaten hin- und hergeschoben werden, ohne dass jemand für sie die Verantwortung übernimmt – sogenannte „refugees in orbit“. Die Richtlinie legt deshalb fest, dass immer der Staat für einen Flüchtling zuständig ist, über den dieser in die EU eingereist ist. Im ersten Ankunftsland werden Fingerabdrücke abgenommen, nur dort darf er oder sie einen Asylantrag stellen. Geht sie oder er trotzdem woanders hin, etwa nach Skandinavien oder Deutschland, kann der Flüchtling zurückgeschoben werden.

Diese Regelung kommt vor allem den großen Ländern im Zentrum Europas zugute – und wurde deshalb auch von ihnen durchgesetzt. Maßgeblich beteiligt daran waren die damalige rot-grüne Bundesregierung und ihr Innenminister Otto Schily (SPD). So wird die Verantwortung für die in Europa ankommenden Flüchtlinge auf die Länder an den Außengrenzen abgewälzt. Deshalb fordern Griechenland, Italien und Malta seit Langem eine Reform des Dublin-Systems.

Länder wie Deutschland halten dagegen, dass die Außengrenzen-Staaten keineswegs überproportional belastet seien. Ein Blick auf die Asylantragszahlen schien dies lange zu bestätigen. Im Durchschnitt der Jahre 2012 und 2013 führt Malta zwar die Spitzengruppe an, die anderen Außengrenzen-Staaten Griechenland und Italien liegen hingegen nur im Mittelfeld. Länder im Herzen des Schengen-Raums wie Belgien, Deutschland oder Frankreich finden sich jedoch in der Mitte oder oberhalb davon.

Die Antragszahlen sagen aber nichts darüber aus, ob es aufgrund des Antrags auch tatsächlich zu einem Asylverfahren kommt. Wenn es sich bei den Asylsuchenden nämlich um sogenannte Dublin-Fälle handelt, wird ihnen das Recht, einen Asylantrag in Deutschland zu stellen, einfach verwehrt. Sie werden direkt in den EU-Staat zurückgeschoben, über den sie in die EU eingereist sind. Deutschland gewährt diesen Flüchtlingen keinen Schutz, rechnet sich die Fälle aber trotzdem in der Antragsstatistik zu.

Hinzu kommt, dass die Situation in Süd- und Osteuropa die Flüchtlinge zwingt, in einem anderen Land Hilfe zu suchen. Grundlage der Dublin-Regelung ist die Annahme, dass alle Mitgliedstaaten ein funktionierendes Asylsystem haben. Davon kann aber vor allem in Südeuropa keine Rede sein. Zudem ist die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, vor allem in den europäischen Haupteinreiseländern Italien und Griechenland, extrem eingeschränkt – von der Möglichkeit, tatsächlich Schutz zu erhalten, ganz zu schweigen.

Der Versuch, „refugees in orbit“ zu vermeiden, hat das Gegenteil bewirkt: Die Haupteinreiseländer sind überfordert. Deswegen nehmen sie entweder Asylanträge einfach nicht an und/oder behandeln die Flüchtlinge so schlecht, dass diese zusehen, dass sie wegkommen. Die Statistik der Antragszahlen sagt deshalb nur wenig über die tatsächliche Lage an den Außengrenzen aus. Sie wird aber trotzdem mit Vorliebe dazu benutzt, das unfaire EU-Asylsystem zu verteidigen.

Asylkompromiß

Mitte Januar kommentierte Bundesinnenminister Thomas de Maizière die neuen Asylzahlen. „Eine verantwortungsvolle Zuwanderungspolitik kann aber die Tatsache nicht ignorieren, dass auch zahlreiche Menschen Asyl beantragen, die in ihren Heimatländern nicht verfolgt werden, nicht als schutzbedürftig anerkannt werden können und daher unser Land wieder verlassen müssen.“

Schärfer, aber in der Sache gleich waren die – freilich noch höheren – Antragszahlen in den neunziger Jahren von führenden Innenpolitikern verhandelt worden. Nach den Pogromen von Lichtenhagen und Hoyerswerda 1992/1993 führte die rassistische Grundstimmung in Deutschland dazu, dass CDU, CSU, FDP und SPD den sogenannten Asylkompromiss zimmerten – ein Gesetzeswerk, das nur zwei Zwecke hatte: Flüchtlinge fernzuhalten und jenen, die trotzdem kommen, das Leben so unangenehm wie möglich zu machen. Neben der Einführung der so genannten Drittstaatenregelung wurde vor allem das Sozialrecht herangezogen, um in der aufgeheizten Stimmung den wachsenden Rassismus zu bedienen. Ausbaden mussten das Hunderttausende Flüchtlinge. Ihre Versorgung regelt seither das Asylbewerberleistungsgesetz.

Man stelle sich vor, es ginge um Hartz-IV-EmpfängerInnen: Sie bekämen kein Geld aufs Konto, sondern zweimal in der Woche ein Essenspaket, bestellt vom Amt, gepackt vom Cateringservice. Taschengeld wird gestrichen, Zigaretten und Bier auch. Unvorstellbar? Im Fall von Asylsuchenden war genau das die Praxis. Fast zwei Jahrzehnte ließ der Staat Zehntausende nichtdeutsche Kinder von 4,30 Euro am Tag leben; Erwachsene mussten mit maximal 225 Euro monatlich auskommen. Wie gleichgültig Politik und Medien der ganzen Sache gegenüberstanden, sieht man nicht zuletzt daran, dass bis vor Kurzem die D-Mark-Beträge im Text des Asylbewerberleistungsgesetzes standen. Auch eine Inflationsanpassung hat es nicht gegeben.

Im Juli 2012 beschloss das Bundesverfassungsgericht, dass dieser Zustand beendet werden müsse. Die Bundesregierung reagierte darauf genauso wie auf das Urteil zu den Hartz-IV-Sätzen: mit Unwillen und dem Verschleppen der Umsetzung. 28 Monate galt eine Übergangslösung.

Kommunen: „Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“

Gleichzeitig spitzte sich die Debatte um die Lastenteilung in Sachen Flüchtlingsschutz zu. Die Zahl der Asylsuchenden stieg, die Willkür und Ungerechtigkeit des lange geltenden Finanzierungsmodells für ihre Versorgung wurde immer offenbarer. Wie beschrieben werden Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel erst auf die Länder und dann gleichmäßig auf die Kommunen verteilt. Diese sind für die Unterbringung und Versorgung zuständig, bekommen aber einen Teil der Kosten vom Land erstattet. Dieser Anteil variiert erheblich: In Bayern sind es vier Fünftel, in NRW ein Fünf.

In den ersten drei Quartalen 2014 hatten die Kommunen in Deutschland ein Defizit von 2,6 Milliarden Euro angehäuft – im Vorjahreszeitraum waren es nur 1,5 Milliarden Euro gewesen. Die Ausgaben für Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz waren auf 1,1 Milliarden Euro gestiegen, 0,4 Milliarden Euro mehr als im Vorjahr.

„Wir stehen mit dem Rücken zur Wand“, sagte Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele im Juni 2014. In Hamburg fehlten 4.000 zusätzliche Plätze in Flüchtlingsunterkünften. Für 1.600 dieser Plätze wisse die Stadt noch nicht einmal, wo sie gebaut werden könnten. Falls die Flüchtlingszahlen weiter steigen, „würden wir finanziell und räumlich vor unglaublichen Problemen stehen“, sagte Scheele. Im Schnitt müsse die Stadt 20.000 Euro investieren, um einen Platz in einer Unterkunft zu schaffen.

Städtetagspräsident Ulrich Maly rückte die Dinge kurz darauf gerade, als er sagte, die Kommunen sollten angesichts der globalen Konflikte über die Flüchtlingszahlen „nicht jammern“. Die Beschwerden der Städte waren dennoch berechtigt. Denn der Bund, von allen öffentlichen Kassen am flüssigsten, hielt sich aus der Finanzierung völlig heraus.

Die Kommunen trifft gleichwohl eine Teilschuld an ihrer Misere: Viel zu lange wurde nichts gegen den Mangel an billigen Wohnungen unternommen – ein Problem, das Flüchtlinge nur als eine Gruppe unter vielen betrifft. Das rächte sich jetzt. Die Folgen waren und sind schlechte bis katastrophale Lebensbedingungen für Asylsuchende. Und eine öffentliche Debatte, in der fast nur noch von Überlastung und Notstand die Rede ist. In Berlin und Bayern standen Flüchtlinge vor verschlossenen Aufnahmeeinrichtungen oder mussten auf der Straße wohnen, in Nordrhein-Westfalen wurden sie von Wärtern privater Sicherheitsdienste misshandelt. Und fast überall haben die Kommunen große Schwierigkeiten, zumutbaren Wohnraum zu finden – zu groß ist der Anteil der Kosten, den sie tragen müssen.

Im Oktober 2014 veranstaltete das Kanzleramt deshalb einen so genannten „Flüchtlingsgipfel“. Doch dort wurden weder alle Beteiligten an einen Tisch geholt – Kommunen und Flüchtlingsorganisationen durften nicht kommen –, noch gab es einen Beschluss. Der Bund machte den Ländern, die die Kommunen vertraten, auch kein Angebot, um sie bei der Versorgung der Flüchtlinge zu entlasten.

Die Länder waren bescheiden an die Sache herangegangen. Ihr Vorschlag lautete: Bis zum dritten Monat des Asylverfahrens zahlen sie – beziehungsweise die Kommunen –, danach der Bund. Faktisch wäre der Vorschlag auf eine Fifty-fifty-Lösung hinausgelaufen: Im Moment dauern Asylverfahren im Durchschnitt sieben Monate. Der Bund stellte stattdessen 350 neue Asyl-Entscheider ein. Das sind nicht wenige, wird den Kommunen aber erst mal nicht viel helfen: 140.000 offene Anträge werden nur langsam abschmelzen – zu viele neue Anträge werden in diesen Monaten gestellt, zu lange wird es dauern, die neuen Entscheider zu schulen. Die Kopplung der finanziellen Zuständigkeit an die Geschwindigkeit des Asylverfahrens dürfte die Fairness gegenüber Flüchtlingen allerdings nicht gerade fördern – frei nach der Losung: Sparen durch schnellere Abschiebung.

Einige Länder wollten deshalb weitergehen und das Asylbewerberleistungsgesetz komplett streichen. Denn kippt das Gesetz, müsste der Bund die regulären Sozialleistungen komplett zahlen. Kommunen und Länder könnten sich dann die Kosten für die Unterbringung teilen. Aber dabei machten vor allem die CDU-Länder und der Bund nicht mit. Sie halten an dem Gesetz fest, dass die soziale Schlechterstellung der Flüchtlinge seit 1993 festschreibt – und die Kosten den Kommunen und Ländern aufbürdet. Begründet wird dies in der Regel nicht mit fehlendem Geld, sondern mit höheren Zielen: Wenn die Asylbewerber zu viel kosten, so heißt es gern, schmälere das die Akzeptanz des Asylschutzes insgesamt. Und biete unerwünschte „Anreize“, hierher zu kommen.

Schließlich einigten sich Bund und Länder im November 2014 auf eine Zwischenlösung. Der Bund sagte Ländern und Kommunen in den kommenden zwei Jahren insgesamt eine Milliarde Euro für Unterbringung, Verpflegung und Versorgung von Flüchtlingen zu. Die Hälfte davon müssten die Länder aber langfristig zurückzahlen. Dafür blieb das Asylbewerberleistungsgesetz im Kern erhalten. Nun bekommen Flüchtlinge bis zu 359 Euro im Monat – mehr als früher, aber weiterhin weniger als Deutsche. Die Sonderregelungen des Asylbewerberleistungsgesetzes sollen künftig nur noch 15 Monate statt bislang vier Jahre für die Betroffenen gelten. Anschließend gibt es Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben ab Beginn ihres Aufenthalts Anspruch auf Bildungs- und Teilhabeleistungen.

Einen Passus des Asylbewerberleistungsgesetzes aber ließ die Bundesregierung unangetastet. Flüchtlinge mit laufendem Asylverfahren haben in den allermeisten Ländern nur ein Anrecht auf Versorgung in gesundheitlichen Notfällen.

Und noch immer können Asylsuchende und Geduldete nicht selbst entscheiden, was sie sich wo von ihrem Geld kaufen: Das zutiefst paternalistische Sachleistungsprinzip wird in vielen Regionen weiter praktiziert: Statt Bargeld gibt es für Flüchtlinge teils Sozialleistungen in Form von Gutscheinen, die nur in bestimmten Geschäften eingelöst werden können. Wechselgeld bekommt man damit keines, und Alkohol auch nicht. Immerhin hat nun auch Bayern als letztes Bundesland auf jahrelange heftige Proteste und Streiks mit der Ankündigung reagiert, demnächst von der Versorgung mit Essenspaketen abzusehen.

Insgesamt fiel das Echo auf die neuen Regelungen nicht gut aus. Asyl- und Wohlfahrtsverbände kritisierten die Regelung. Pro Asyl sprach von einem „Milliarden-Deal auf Kosten der Gesundheit von Flüchtlingen“. SPD und Grüne hätten sich die Zustimmung mit Finanzzusagen des Bundes erkauft. Damit bestehe weiterhin nur bei „akuter“ oder „schmerzhafter“ Erkrankung ein Leistungsanspruch. Der Caritasverband nannte das Gesetz „inakzeptabel“. „Überfüllte Massenunterkünfte und die massiv eingeschränkte Gesundheitsversorgung verletzen grundlegend die Rechte der Menschen, die nach einer Flucht vor Krieg, Terror oder Verfolgung Schutz in Deutschland suchen“, sagte Beate Rudolf, die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. In vielen Teilen Deutschlands seien Flüchtlinge gezwungen, jahrelang in Gemeinschaftsunterkünften zu leben. Damit Deutschland seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen bei der Unterbringung gerecht werden kann, müssen dringend Barrieren abgebaut werden, die geflüchteten Menschen den Zugang zum Wohnungsmarkt versperren.“ Auch die Gesundheitsversorgung sei nicht menschenrechtskonform.

Der Flüchtlingsrat Berlin sprach von einer „lebensgefährlichen Minimalmedizin“. Vor allem aber schreibe das neue Gesetz die soziale Ungleichbehandlung der Flüchtlinge fort – und verstoße damit gegen den Karlsruhe Richterspruch von 2012: Die Richter hätten klargestellt, dass „die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren“ sei, erklärte Georg Classen vom Berliner Flüchtlingsrat. Das zu gewährleistende menschenwürdige Existenzminimum stehe Deutschen und Ausländern gleichermaßen zu. Das Existenzminimum dürfe dabei nicht zum Zweck der Abschreckung gekürzt werden. Doch genau das sei die Folge des Gesetzes. Ohne Begründung werden Mehrbedarfe etwa wegen Schwangerschaft verweigert. Flüchtlinge, denen vorgeworfen wird, zum Zweck des Leistungsbezugs eingereist zu sein oder nicht ausreichend an ihrer eigenen Abschiebung mitzuwirken, sollen dauerhaft gekürzte Leistungen erhalten. Dabei überlässt das Gesetz die Höhe der Kürzung der Willkür der örtlichen Sozialämter. „Das Grund- und Menschenrecht auf Gesundheit und ein menschenwürdiges Existenzminimum wird bewusst verletzt“, sagte Classen. Es gebe „nur einen richtigen Weg, nämlich die Abschaffung des Gesetzes.“

Downloads