Mit 36,34 Prozent der Wahlstimmen erhielt SYRIZA bei den Wahlen vom 25. Januar diesen Jahres 149 der 300 Sitze des griechischen Parlaments. Da dies nicht ganz für die absolute Mehrheit reichte, wurde nur einen Tag nach den Wahlen mit ANEL (Unabhängige Griechen), die 4,7 Prozent (13 Sitze) erhielt, eine Koalitionsregierung gebildet. Mit diesem politischen Linksruck (nur die linken Parteien SYRIZA und KKE haben Wählerstimmen hinzugewonnen) hat das griechische Volk der neoliberalen Austeritätspolitik eine klare Absage erteilt. SYRIZA steht jetzt vor einer großen historischen Herausforderung, die für ganz Europa Bedeutung hat: Als einzige linke Regierung in der EU muss sie den hohen Erwartungen der Bevölkerung in einem krisengeschüttelten Land gerecht werden.
1. Die Entwicklung von SYRIZA
SYRIZA kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Die heutige Partei entstammt einem 1989 gebildeten Wahlbündnis mit den Namen Synaspismos („Koalition“) zwischen KKE (Kommunistische Partei Griechenlands) und EAR (Griechische Linke) und der folgenden Spaltung, nachdem innerparteiliche Auseinandersetzungen 1991 zum Austritt der KKE geführt hatten. Synaspismos ist selbst aus Teilen der Eurokommunisten entstanden, die sich schon 1968 von der KKE gelöst hatten. Für die Parlamentswahlen von 2004 bildete Synaspismos gemeinsam mit acht anderen linken Splitterparteien ein Wahlbündnis mit dem Name SYRIZA (Koalition der radikalen Linken). Bei den folgenden Wahlen erreichte das linke Wahlbündnis kaum mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen.
Mit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise 2010 veränderte sich die bislang von den großen Volksparteien ND und PASOK bestimmte politische Szene aber grundlegend. SYRIZA stieg auf und wurde bei den folgenden Wahlen zweitstärkste Gruppierung. Das Linksbündnis formierte sich schließlich zur Partei, was sowohl mit inneren Entwicklungen als auch mit dem griechischen Wahlrecht zu tun haben dürfte: Den ‘Bonus’ von 50 Parlamentssitzen für die stärkste Gruppierung kann nur eine Partei, nicht ein Wahlbündnis, beanspruchen.
SYRIZA bzw. Synaspismos gehörte vor der Krise nicht zu den großen Volksparteien, die die politische und moralische Schuld für die aktuelle wirtschaftliche Lage Griechenlands tragen. Trotz der kleinen Wählerbasis von SYRIZA und Synaspismos (zwischen 3 Prozent und 5 Prozent) vor der Krise, waren die Linksgruppierungen gut in einem Teil der Gesellschaft verankert (meist bei intellektuellen und bürgerlichen Sozialisten) und galten als seriöse politische Kraft, die nicht mit den Memorandi der Troika und der Korruption der Macht verbunden war. Diese Kontinuität und die etablierte Vernetzung mit linken Bewegungen verschaffte SYRIZA Vorteile vor jenen Parteien, die sich erst nach der Krise neu gegründet hatten. Darüber hinaus konnte SYRIZA vor allem ehemalige Anhänger der sozialdemokratischen PASOK ansprechen, weil sie niemals die traditionalistische revolutionäre Rhetorik der KKE übernommen hatte. SYRIZA und Synaspismos forderten niemals die revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus, sie sprachen vielmehr von demokratischem Sozialismus.
SYRIZA konnte in den letzten fünf Krisenjahren einen großen Teil des griechischen Volks für sich gewinnen. Grund dafür sind nicht nur die aktuellen sozialökonomischen Veränderungen, sondern auch die Tatsache, dass sich die Linkspartei intensiv an den sozialen Bewegungen und Kämpfen der griechischen Gesellschaft beteiligt hat. SYRIZA war anwesend bei den großen Streiks und Demonstrationen 2010 bis 2012, sowie bei den Bürgerbewegungen dieser Jahre wie z.B. den Kinima ton Aganaktismenon („Bewegung der Empörten) und solidarity4all. SYRIZA hat die im Gefolge der Austeritätspolitiken von Nea Dimokratia und PASOK neu entstandenen Probleme der griechischen Gesellschaftstransformation intensiv verfolgt und kritisiert und ihre gegenteilige Programmatik schon in den Parlamentswahlen von 2012, aber vor allem bis 2015, als Grundlage einer Regierungsübernahme entwickelt.
2. Programmatik
Im Mittelpunkt der Wahlprogrammatik von SYRIZA stehen das Ende des Troika-Diktats, die Überwindung der Wirtschaftskrise und die Neuverhandlung der Schulden. Dazu wird eine Wirtschafts- und Sozialpolitik vorgeschlagen, die nicht mehr die griechische Bevölkerung, vor allem die Mittel- und Unterklassen, belastet. Das Regierungsprogramm von SYRIZA („Agenda von Thessaloniki“ vom 14.9.2014) beruht auf vier Grundsäulen:
1. Bekämpfung der humanitären Krise, die die Folge der Austeritätspolitiken der letzten Jahre ist. Dazu gehören: Kostenlose Elektrizität und Essensmarken für 300.000 extrem arme Haushalte; Absicherung der Wohnung; Wiedereinführung der sogenannten 13. Rente für RentnerInnen, die weniger als 700 Euro haben; freier Zugang zu medizinischen Diensten; Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln; Abschaffung der Sondersteuer für Heizöl und Petroleum.
2. Wiederaufbau bzw. Restrukturierung der griechischen Wirtschaft: Abschaffung der neuen einheitlichen Immobiliensteuer (ENFIA); Wiedereinsetzung des steuerfreien Einkommens bis zu 12.000 Euro im Jahr; Wiedereinsetzung des Mindestlohns von 751 Euro; Gründung einer Entwicklungsbank; Regelung und Anpassung von Krediten zwischen Bürgern oder Unternehmen mit den Banken.
3. Arbeitsmarktpolitik und Schaffung neuer Arbeitsplätze: Wiedereinsetzung der Arbeitsrechte sowie der Arbeitsgesetze, die im Rahmen der Austeritätspolitik abgeschafft wurden; Schaffung von 300.000 neuen Arbeitsplätzen im privaten und staatlichen Sektor; Erhöhung des Arbeitslosengelds.
4. Institutionelle und demokratische Transformation des politischen Systems: Zerschlagung der griechischen Oligarchie insb. der Korruption, des Klientelismus und der Steuerflucht; Dezentralisierung; Förderung der repräsentativen Demokratie sowie Stärkung von Elementen der direkten Demokratie; Umbau der Funktion der Massenmedien.
Zentrales Ziel der Wirtschaftspolitik SYRIZAs ist die Streichung eines großen Teils des Nominalwerts der Schulden Griechenlands. Als historisches Beispiel nennt SYRIZA den Londoner Schulderlass zugunsten Westdeutschlands 1953, der zu einem Schuldenerlass von fast 60 Prozent geführt und so das deutsche ‘Wirtschaftswunder’ begünstigt hatte. Für die Rückzahlung der restlichen Schulden wird eine Entwicklungsklausel vorgeschlagen, die an das Wirtschaftswachstum geknüpft ist. Um Ressourcen für die Entwicklung der Wirtschaft frei zu machen, schlägt die neue Regierung ein Schuldenmoratorium vor. Die EZB soll entsprechend der Ankündigung Draghis staatliche Schuldscheine aufkaufen. Im Rahmen ihres Programms sichert SYRIZA den Verbleib in der Eurozone sowie die Bekämpfung der Korruption zu.
3. Innergesellschaftliche Konfliktkonstellationen
Die politischen Gegner von SYRIZA kritisieren den Regierungsplan. Die Wahlversprechen SYRIZAs seien unrealistisch, weil die dafür erforderlichen Mittel nicht vorhanden seien.
Die abgetretene Regierung von Antonis Samaras (ND) hatte im Wahlkampf 2015 wie schon 2012 auf das Angstthema „Grexit“ gesetzt, der bei einem Sieg SYRIZAs drohe. Dies funktionierte 2015 nicht mehr – die von den alten Regierungen verfügten Sparmaßnahmen brachten nicht die versprochenen positiven Wirkungen. Trotzdem hat ND weiter versucht, die Wahlen zu polarisieren: Sie sei die einzige Partei, mit der ein Ausweg aus der Krise und der Verbleib in der Eurozone möglich sei. Dagegen gefährde SYRIZA den Verbleib in der Eurozone sowie die Stabilität der griechischen Wirtschaft.
Verloren haben vor allem die bisherigen Koalitionspartner der ND, die Sozialdemokraten von PASOK, deren politische Kraft, auch aufgrund einiger Spaltungen, gegenüber 2012 weiter zurückgegangen ist (-7,6 Prozent). Die Sozialdemokraten waren im Schatten der Regierung von Samaras geblieben, ohne deutliche Differenzierungen von seiner Politik zu zeigen. PASOK hielt während dieser Jahre an ihrer pro-europäischen, aber gleichzeitig antipopulistischen und angeblich alternativlosen neoliberalen Orientierung fest.
Heftige Kritik an SYRIZA kommt von der kommunistischen Partei Griechenlands (KKE). Die KKE unterstellt SYRIZA, den europäischen Direktiven folgen zu wollen und somit Kompromisse mit den Kapitalisten, der EU, der NATO und den Monopolen schließen zu müssen. Sie seien eine „bürgerliche Partei“ wie ND und PASOK. Laut KKE sind der einzige Ausweg aus der Krise die Annullierung der Schulden (die nicht vom Volk gemacht wurden) und der Austritt des Landes aus EU und NATO.
Die neue Partei „To Potami“ (der Fluss) wurde vom Journalisten Stavros Theodorakis im März 2014 gegründet. Ohne klare politische Orientierungen gehört diese Partei zur Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, vertritt aber laut ihrem Präsidenten sowohl linke als auch neoliberale Positionen. Viele Kulturschaffende, Wissenschaftler und Journalisten haben sich dieser Partei angeschlossen. Obwohl „To Potami“ offen für eine Koalition mit SYRIZA war, hatte Alexis Tsipras schon vorher Distanz gezeigt wegen ihrer unklaren politischen Ausrichtung in Fragen der Schulden- und Austeritätspolitik.
Der kleine Koalitionspartner von SYRIZA ist ANEL, die über 13 Parlamentsmandate verfügt. Es war deren klare Positionierung gegen Schulden- und Austeritätspolitik, wodurch sie sich als Koalitionspartner für SYRIZA anbot. Obwohl ANEL als rechtspopulistische Partei gekennzeichnet werden kann, vertritt sie in den Hauptfragen der Krisenbekämpfung und der Kritik an der Politik von Troika und der deutschen Bundesregierung ähnliche Positionen wie SYRIZA. ANEL wurde vom ehemaligen Abgeordneten der Nea Dimokratia, Panos Kammenos, Anfang 2012 gegründet. Viele der Abgeordneten von ANEL sind ehemalige Mitglieder der Nea Dimokratia, die gegen die Sparmaßmaßnahmen der Regierung gestimmt hatten. Auch ehemalige konservative Sozialdemokraten engagieren sich in ANEL.
Viele europäische und internationale Medien, anders als die griechischen Medien, gaben sich von dieser Koalition überrascht: Wie können radikale Linke mit Rechtspopulisten koalieren? In Deutschland wurden Parallelen zur AfD gezogen. Während diese Koalition in Griechenland wenig überrascht hat, sollen hier zwei Aspekte erwähnt werden.
Zunächst war ANEL die naheliegendste Option für eine Regierungskoalition, da die sogenannten Memorandiparteien, d. h. Nea Dimokratia und Pasok, sowie die Neonazis von Chrisi Avgi, für SYRIZA, die schließlich eine politische Wende versprochen hatte, nicht in Frage kamen. Die KKE war, wie oben gezeigt, als Gegnerin der EU schon frühzeitig gegen jede Regierungszusammenarbeit mit SYRIZA, obwohl SYRIZA schon vor den Wahlen um die Mitarbeit der KKE geworben hatte. Die neue Partei „To Potami“, die keine klare politische Position in Sachen Schulden- und Austeritätspolitik, also der politischen Kernfrage, formuliert hatte, war für SYRIZA nicht vertrauenswürdig. Priorität hatte für SYRIZA nicht die Frage des Übergangs zum Sozialismus, sondern die rasche Beendigung des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs für die große Mehrheit der Bevölkerung. Da die neoliberale Austeritätspolitik der Europäischen Union bis weit in die bürgerliche Mitte hinein abgelehnt wird, kam einzig ANEL als glaubwürdiger Koalitionspartner in Frage. Erst wenn es um die Einführung eines sozialistischen Systems geht, wäre eine Kooperation mit der KKE denkbar. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Zusammenarbeit ist aber gering, zu groß sind die ideologischen Unterschiede. Wenn dem nicht so wäre, so hätte die KKE jetzt schon die Chance ergriffen, in eine Koalition mit SYRIZA einzutreten.
4. Konfliktkonstellation im Rahmen der EU
Zunächst scheint es, als ob die linke griechische Regierung innerhalb der EU relativ ‘einsam’ dasteht. Zu fragen ist, ob und inwieweit die neoliberal orientierte EU die „Gegenstimme“ einer kritischen Gegenöffentlichkeit, d.h. den Willen der Mehrheit der griechischen Bevölkerung, respektieren wird bzw. aushalten kann. Da die aktuellen Kraftverhältnisse in der EU vor allem zwischen Nord- und Südeuropa ungleich sind, könnte ein möglicher Wahlsieg z.B. der linken Partei „Podemos“ in Spanien diese Verhältnisse verändern und die oben genannte Einsamkeit aufbrechen. Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass Tsipras Unterstützung im inner- und außerparlamentarischen Rahmen für den radikalen Wandel sucht. Seine Reise nach Lateinamerika 2012, sein Besuch im Vatikan, die Aktionen der Partei in den ersten Tagen nach der Regierungsbildung, wie zum Beispiel die Debatte um die EU-Sanktionen gegen Russland, der Privatisierungsstopp der Stromgesellschaft DEH und des Hafens von Piräus, beweisen diese Absicht ebenso wie die rasch umgesetzten sozialen Maßnahmen.
Aus deutscher Regierungsperspektive sehen die Pläne von SYRIZA gewiss wie ein radikaler Eingriff in ein (bisher) im Sinne der EU, „funktionierendes“ Segment der Europäischen Stabilitätspolitik aus. Für schlicht „nicht realisierbar“ werden erachtet: der Schuldenerlass, die „Entwicklungsklausel“ in Bezug auf die restlichen Schulden, die mögliche Forderung nach Entschädigung der NS-Verbrechen, die in Griechenland während der deutschen Besatzungszeit (1941-44) begangen wurden bzw. der Hinweis auf nicht zurückgezahlte Zwangsanleihen NS-Deutschlands. Obwohl SYRIZA und ihre Politik in Griechenland die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung haben, kann die neue griechische Regierung nicht auf eine kooperative Haltung der übrigen europäischen Regierungen hoffen. SYRIZA muss sich auf schwierige Gespräche mit den Geldgebern gefasst machen. Deshalb sind auf europäischer Ebene die Wahlergebnisse im Herbst, in Spanien, von großer Bedeutung. Mit Podemos könnte eine wichtige linke „Allianz“ innerhalb der EU gebildet werden, um die formulierten Ziele gemeinsam zu erkämpfen. Was die innerstaatliche Situation angeht, so sind Erfolge bei der Umsetzung der geplanten Reformen, darunter vor allem die Heranziehung der Oligarchen zur Finanzierung der Krisenlasten, entscheidend. Gelingt dies, dann kann SYRIZA sicherlich auf eine langjährige Unterstützung seitens der griechischen Gesellschaft hoffen. Sollten aber die Reformen scheitern, was auch stark von den Ergebnissen der externen Verhandlungen abhängt, so bleibt die offene Frage, wie die griechische Bevölkerung mit einer solchen Enttäuschung umgehen würde und in welcher Form sich diese Verschiebungen darstellen werden. Alternativen wären dann nur noch bei „radikaleren“ Parteien zu finden.