Buchbesprechungen

Kritische Türkei-Analysen

von Joachim Becker zu Atac/Kücük/Sener
Dezember 2010

Ilker Ataç/Bülent Küçük/Ulaş Şener (Hg.), Perspektiven auf die Türkei. Ökonomische und gesellschaftliche (Dis)Kontinuitäten im Kontext der Europäisierung. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, 2008, 363 S., 29,90 Euro.

Die Entwicklung der Türkei ist seit den 1980er Jahren durch rekurrierende Finanzkrisen, scharfe politische Konflikte und innenpolitische Verschiebungen sowie zuletzt durch den ambivalenten Verhandlungsprozess über einen EU-Beitritt geprägt. Dies sind auch einige der zentralen Themen der sozialwissenschaftlichen Diskussion in der Türkei. Der sehr sorgfältig edierte Sammelband zu „Perspektiven auf die Türkei“ hat sich zum Ziel gesetzt, „deutschsprachige LeserInnen neuere kritische Ansätze aus den sozialwissenschaftlichen Diskussionen in der Türkei und im angelsächsischen Raum zugänglich zu machen.“ Damit füllt er eine Lücke. Derartige Arbeiten sind im deutschsprachigen Raum bislang kaum veröffentlicht und rezipiert worden.

In einem ersten, stark post-strukturalistisch geprägten Block werden Vorstellungen türkischer Modernität und Projektionen auf den Westen diskutiert. Derartige Projektionen werden von Meltem Ahıska als Okzidentalismus bezeichnet, der sich nicht gegen den westlichen Orientalismus formiere, sondern zu diesem in einem dialektischen Verhältnis stehe. Tanıl Bora stellt eine Genealogie des west-kritischen Bildes der türkischen Nationalkonservativen vor, wobei er Schnittmengen zwischen politischem Islam und Teilen des Kemalismus ausmacht. Bora hebt in seinem brillant geschriebenen und übersetzten Beitrag hervor, dass die starke Orientierung der derzeit regierenden nationalkonservativen, in der Tradition des politischen Islam stehenden AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) auf einen EU-Beitritt paradox erscheinen möge. Denn aus ihrer intellektuellen Tradition heraus, die sich durch den „Widerstand gegen das Nachäffen des Westens“ definierte, wäre eine eher ablehnende Positionierung zum EU-Beitritt zu erwarten gewesen. Aus pragmatischen Gründen – nämlich zusätzliche Hebel die bisherige, autoritär eingefärbte kemalistische „Staatselite“ zu gewinnen – orientierte sich die AKP jedoch auf einen EU-Beitritt und suchte diese Orientierung über eine post-modernistische Argumentation, die bestimmte Elemente des liberalen Diskurses (Demokratie, Pluralismus) de-kontextualisiert übernehme, mit seiner intellektuellen Tradition vereinbar zu machen. Bora stellt im Gegensatz zu anderen Beiträgen dieses Blocks Bezüge zu gesellschaftlichen Akteuren und deren Interessen her. Küçük hingegen behauptet, dass „der Ort des Subjekts im Diskurs nicht pre-determiniert (sei), sondern ein leerer Raum ist, der erst durch Identifikation gefüllt werden muss.“ Damit hängt auch seine Analyse türkischer Phantasmen im EU-Beitrittsdiskurs gesellschaftlich in der Luft.

Die Diskurse sind – abgesehen von der Einleitung – in dem Band nur schwach mit Veränderungen der politischen Ökonomie verknüpft. Aufsätze zur gesellschaftlichen Basis von AKP und kemalistischen Kräften sowie deren Veränderungen fehlen. Dies ist vielleicht das größte Manko des Buches. Hingegen bietet der Sammelband mehrere interessante Aufsätze zur Veränderung der politischen Ökonomie der Türkei aus heterodoxen bzw. neo-marxistischen Perspektiven. Pınar Bedirhanoğlu und Galip Yalman analysieren die Veränderungen des türkischen Staates im Kontext von Globalisierung und Europäisierung. Bedirhanoğlu kommt hierbei zu dem Schluss: „Die wichtigsten Pfeiler der neoliberalen Reform des Staates in der Türkei sind die Stärkung der Exekutive unter dem Diskurs der politischen Stabilität, die Legitimierung der Maßnahmen der Exekutivorgane durch die Referenz auf die ‚Selbsttätigkeit’ des Marktes und die Stärkung der Sicherheitsorgane, falls die ersten beiden Maßnahmen für die Kontrolle der Gesellschaft nicht ausreichen sollten.“ Das türkische Wirtschaftsmodell der letzten ca. 15 Jahre ist durch eine Forcierung der finanzialisierten Akkumulation gekennzeichnet. Mit dieser erhielt die Geldpolitik einen wirtschaftsstrategisch zentralen Stellenwert. Deren Ausrichtung nach der bislang jüngsten Finanzkrise geht Ulaş Şener in seinem Beitrag nach. Trotz ihrer Berufung auf Stabilität hat die neoliberale Geld- und Währungspolitik der letzten 15 Jahre ein hohes Maß an makro-ökonomischer Instabilität produziert. Gleichzeitig verschärften die Krisen und die wirtschaftspolitischen Grundmuster, wie Özlem Onaran herausarbeitet, gesellschaftliche Ungleichheit. Am Beispiel der Werftindustrie in Tuzla, die durch die hohe Zahl tödlicher Arbeitsunfälle in den letzten Jahren Aufmerksamkeit auf sich zog, stellt Aslı Odman Prozesse wirtschaftlicher und räumlicher Restrukturierung, partieller Informalisierung der Arbeitsbeziehungen und unterschiedlicher gewerkschaftlicher Strategien angesichts der Fragmentierung der Arbeiterschaft sehr anschaulich und gleichzeitig theoriegeleitet dar. Eine der Gewerkschaften ist eher korporatistisch und auf die verbliebenen Stammbelegschaften orientiert, während die dem DISK-Gewerkschaftsbund zugehörige Gewerkschaft auf die prekären Arbeitskräfte und die Bildung breiterer politischer Bündnisse orientiert.

Ein dritter Block beschäftigt sich mit Kemalismus, Nationalismus und kurdischer Frage. Er ist eher diskursiv als polit-ökonomisch angelegt. Einen Schwerpunkt bildet in diesem Abschnitt die Stellung der KurdInnen in der türkischen Gesellschaft. Mesut Yeğen nähert sich dieser Frage aus dem Blickwinkel der Konzipierung der Staatsbürgerschaft. Er arbeitet heraus, dass in der ersten Verfassung der Republik Türkei eine strikt republikanische Konzipierung der Staatsbürgerschaft – in dem Sinne, dass „Jeder, der durch die Staatsbürgerschaft an die Türkei gebunden ist, türkisch ist“ – verworfen wurde. Mit dem Ziel der Schaffung eines homogenen Nationalstaates wurde eine mit Vorbehalten verbundene Formulierung gewählt. Gegenüber der größten ethnisch-sprachlichen Minderheit verfolgte der türkische Staat über Jahrzehnte eine auf Assimilation ausgerichtete Politik. Laut Yeğen sehen zumindest Teile des Establishments die Assimilationspolitik als gescheitert an und reagierten hierauf, indem sie auf die KurdInnen den Begriff der „Pseudo-BürgerInnen“ münzten. Nazan Üstündağ spürt dem Verhältnis der aus ihren Heimatdörfern geflohenen KurdInnen zur türkischen Gemeinschaft und dem (lokalen) Staat in einer Istanbuler Vorstadtgemeinde nach.

Der letzte Block des Buches thematisiert Geschlechterverhältnisse in der Türkei. Hierbei stehen einerseits Metamorphosen der feministischen/Frauenbewegung und, in einem Beitrag von Bihter Somersan, maskulinistische Ausschließungsprozesse in politischen Organisationen – von etablierten Parteien bis hin zu leninistischen Gruppen – im Vordergrund.

Der Sammelband bietet tatsächlich unterschiedliche Perspektiven auf und aus der Türkei. Diese Perspektiven sind trotz der steigenden Zahl von Publikationen zur Türkei bislang kaum rezipiert worden. Sie unterscheiden sich nach disziplinärem und theoretischem Hintergrund. Der Band dokumentiert eine Kontinuität, aber auch Wiederbelebung und Neuakzentuierung polit-ökonomischen Denkens nach der brutalen Zäsur des Militärputsches von 1980 einerseits, aber auch das Aufkommen post-strukturalistisch, diskursiver Strömungen andererseits.

Joachim Becker