Mit Wolfgang Abendroth gehe ich davon aus: „Voluntaristische Praxis ohne theoretisches Konzept ist blind und erreicht nichts“.[1] Vom Niveau des politischen und strategisch-konzeptionellen Denkens einer linken Partei, vom Verständnis der arbeitenden Klasse über ihre Lage und ihre Interessen, aber auch vom Niveau des Denkens und Handelns von Sozialistinnen und Sozialisten, die sich im antikapitalistischen Kampf engagieren, hängt ganz erheblich ab, ob der Kampf für eine humanitäre Umgestaltung der Gesellschaft erfolgreich ist oder weitgehend ins Leere geht und in politischen Sackgassen endet. Nicht auf die Praxis gerichtetes Theoretisieren, so merkte Abendroth allerdings an der gleichen Stelle an, „ist eine ebensolche Gefahr“.
Von einem sehr erfolgreichen Sozialisten und Schüler von Karl Marx stammt der Satz „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben.“[2] Geschrieben wurde das 1902. Dietmar Pellmann, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der LINKEN im Sächsischen Landtag, thematisierte auf einer Konferenz am 30. November 2013 in Leipzig das nicht selten sehr niedrige Niveau des theoretischen und politischen Denkens mit den Worten: „Es gibt nicht wenige Jüngere in der Partei, die nach politischer Karriere drängen, bei denen die CDU oft vor Lachen nicht in den Schlaf kommt.“ Mit Konfuzius könnte man manchmal geneigt sein zu sagen: „Denken, ohne etwas gelernt zu haben – das ist verderblich.“ (Gespräche II. 15.)
Strukturelle Probleme politischer Intelligenz
Eine Reihe von Erkenntnissen gerade zu Staat, Politik und Recht, die auf Marx und Engels zurückgehen, sind unabdingbare Voraussetzungen von individueller politischer Intelligenz und tragfähiger kollektiver programmatischer Handlungsorientierung. Mehr denn je gilt heute: „Immer muß die Praxis auf die gute Theorie aufgebaut sein“.[3] Immanuel Kant hat sich etwa 350 Jahre später in seiner Abhandlung zum Thema „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts in der Praxis“ ähnlich geäußert.
Gegen die ideologische Macht der kapitalistischen Meinungsmache muss theoretisches Wissen heute im besonderen Maße Leitfaden linker Politik sein: für Sozialistinnen und Sozialisten wie auch für linke Parteien, die diesen Namen als antikapitalistische Parteien tatsächlich verdienen. Dabei geht es nicht darum, Glaubenskämpfe zu führen, genügend Zitate von Marx und Engels zu kennen, mit denen man seine Kontrahenten wie mit Felsbrocken aus einem Steinbruch bewerfen kann. Es geht um die Kenntnis der marxistischen Theorie als theoretische Bewegung, als Theorie der Gesellschaft, der Geschichte, der Emanzipation, der Politik, als nach vorne offenes Theoriesystem zum Begreifen und Verändern der Welt (einschließlich nicht zuletzt der Kenntnis der strittigen Probleme). Geschichtlich wirksam wird Theorie allerdings nur dann werden, wenn sie sich mit einflussreichen gesellschaftlichen Bewegungen zu verbinden vermag.
Von besonderer Bedeutung sind:
Die Fähigkeit zur Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und des historischen Platzes der derzeitigen Epoche des Kapitalismus.
Die Kenntnis der politischen und theoretischen Erfahrungen und Probleme, die sich aus dem mittlerweile mehr als 200 Jahre währenden Kampf um soziale Reformen und um eine neue Gesellschaft der Freien und Gleichen ergeben.
Die Fähigkeit, das tägliche politische Illusionstheater hinter dem permanenten politischen Karneval sowie die interessengeleitete Propaganda der Besitzenden und Mächtigen zu durchschauen und taugliche Wege zur Entwicklung von Gegenmacht zu erkennen.
Marxismus ist auf Wahrheit gerichtet: auf das Erkennen grundlegender innerer Zusammenhänge der Geschichte und der Gesellschaft, auf das Verstehen der Dialektik von Basis und Überbau sowie der inneren Dialektik des Überbaus selbst. Marxismus ist als theoretische Bewegung inmitten der Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts, konkret im Vormärz vor der Revolution von 1848 in Deutschland entstanden. Karl Marx hatte sich zunächst denjenigen Aufklärern in der Tradition Georg W. F. Hegels um Ludwig Feuerbach angeschlossen, die vor allem die Religion vor den Richterstuhl der Vernunft stellten. Mit 25 Jahren begriff er (nach der Einsicht, dass Religion ja bloß „der Geist geistloser Umstände“ ist), dass die Kritik der Religion wenig bringt und endlich die Kritik der gesellschaftlichen Zustände beginnen müsse. Es komme darauf an, so sein kategorischer Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“[4] Marxismus in diesem Sinne ist Handlungstheorie, die nach der 11. Feuerbachthese bekanntlich die Welt „nicht nur“ analysieren, sondern verändern will.[5]
Karl Marx und Friedrich Engels selbst haben ihre Theorien an der sich verändernden Welt mehrfach überprüft und korrigiert. Ihre Schülerinnen und Schüler standen und stehen vor der Aufgabe, ihre Antworten an Hand der geschichtlichen Praxis und des Zustandes der heutigen Welt zu präzisieren. Marxismus, auch die marxistische Staatstheorie, unterliegt dabei immer der Gefahr unklarer Begriffe, irriger, unreifer, apologetischer und utopischer Antworten.[6] Bestimmte Umstände befördern dies: ungenügende Kenntnisse, der Druck des Klassengegners, Parteidogmatismus und Fügsamkeit gegenüber dem politischen Gegner.
Mangelnde politische Intelligenz bei Linken hat so nicht primär subjektive, sondern vor allem strukturelle Gründe. Sie tritt selbst bei ausgesprochen klugen und theoretisch gebildeten Menschen auf, die im herrschenden Politikbetrieb Karriere machen wollen. Diejenige Schicht von Politikern einer linken Partei, die beginnt, sich in diesen Politikbetrieb einzuordnen, entwickelt eigene soziale Interessen, die von den Interessen ihrer Anhänger verschieden sind. Damit verbunden ist unweigerlich ein Substanzverlust ihrer Kritik- und Theoriefähigkeit gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Zuständen, wie dies derzeit besonders am Niveau der Debatte um Regierungsbeteiligungen auf Landes- und Bundesebene und der damit verbundenen Ignoranz gegenüber den gegebenen machtpolitischen Gegebenheiten nicht zu übersehen ist. Wolfgang Abendroth meinte: „Politische Intelligenz, das zeigt sich immer wieder, haben die integrationistischen Reformisten, die sich kapitalistischen Denkschemata voll unterwerfen, niemals besessen.“[7]
Neues Fundament zum Verständnis von Politik, Staat und Recht
Es war nicht das Anliegen von Karl Marx, allgemeine Gesetze der Politik, des Staates und des Rechts aufzudecken und zu formulieren. Was er wollte und tat, war der politischen Theorie „ein neues Fundament“ zu geben. Sein bleibendes Verdienst ist es, die ökonomischen Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise aufgedeckt und deren Janusköpfigkeit in Bezug auf Zivilisation und Barbarei enthüllt zu haben. Karl Marx gab tragfähige Antworten auf die Fragen nach dem Subjekt der Politik. Die Revolution verstand er als höchsten Akt der Politik.[8] Der ökonomische Kampf werde durch die Naturgesetze des Kapitalismus hervorgerufen. Er müsse durch die politische Aktion verstärkt werden, die auf konkrete Erfolge für die Lohnarbeiter abzielt und zugleich die Entscheidungsschlacht vorbereitet. „Das war das Konzept von Marx, dass niemals die konkreten Interessen der Arbeiter missachtete, aber stets bestrebt war, die Arbeiter zu politisieren und mit dem Ziel der Revolution zu verbinden.“[9]
Seine Schülerinnen und Schüler standen allerdings alsbald vor einer veränderten Situation, die auch heute gegeben ist: Die kapitalistische Produktionsweise erwies sich als sehr entwicklungsfähig. Linke Politik konnte und kann nicht auf die Vorbereitung einer Revolution reduziert werden. Sie muss sich heute darauf einstellen, über längere Zeiträume politische Abwehrkämpfe gegen die anhaltende neoliberale Kapitaloffensive zu führen, für soziale und politische Verbesserungen zu kämpfen, zugleich für gesellschaftspolitische Alternativen zu mobilisieren und dabei das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft nicht aus dem Auge zu verlieren.
Indem Karl Marx der politischen Theorie durch seine Kritik der politischen Ökonomie ein neues Fundament gab, entwickelte er zugleich Grundsätze zum Verständnis der Politik, des Staates und des Rechts. Ich will mich auf fünf derartige Grundsätze beschränken, wohl wissend, dass damit das Marxschen Politik- und Staatsverständnis keineswegs erschöpft ist (dazu gehört nicht zuletzt auch das Verständnis von Staat und Recht als historische Kategorien, die ihren Anfang und ihr Ende haben).
Erstens geht es gerade auch hinsichtlich von Staat und Recht um das generelle Problem von Wesen und Erscheinung politischer Institutionen.
Marx und Engels gingen mit Hegel davon aus, dass jeweils die Oberfläche der Erscheinungen durchstoßen werden muss, um zu deren Wesen zu gelangen. „Alle Wissenschaft wäre überflüssig“, so Karl Marx, „wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen.“[10] Auch hinsichtlich Staat, Politik und Recht ist wissenschaftliche „Wahrheit … immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt.“[11] Der Staat z. B. erscheint u. a. als tatsächlicher Repräsentant der Gesellschaft, ist aber nur deren „offizieller Repräsentant“, ein institutionelles Gewaltverhältnis im Interesse der ökonomisch Herrschenden. Verfassung ist nicht nur das mehr oder weniger umfangreiche grundlegende Normengefüge des Rechts, sondern darüber hinaus ein Dokument mit jeweils historisch in den Klassenauseinandersetzungen entstandenen juristischen Grenzmarken für den weiteren Klassenkampf.
Zweitens sind „Rechtsverhältnisse und Staatsformen“ nach Karl Marx weder aus sich heraus noch aus der allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes zu verstehen. Sie wurzeln in den materiellen Lebensverhältnissen.[12]
Die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft samt ihrer politischen Institutionen ist in der politischen Ökonomie zu suchen. Daraus folgt die Marxsche Theorie von Basis und Überbau, einprägsam im dritten Band des Kapital formuliert: Es gibt jeweils ein „inneres Geheimnis“, eine „verborgne Grundlage“ der ganzen politischen Konstruktion. Diese Grundlage ist das gesellschaftliche Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten. Aus diesen Verhältnissen, die jeweils konkrete „Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse“ begründen, wächst die „politische Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses“ hervor, die durch verschiedene empirische Umstände „unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann“.[13]
Drittens besteht die Lösung der Staatsfrage nicht in einer bloßen Verbesserung des Staates mittels neuer demokratischer Formen (wobei dies, wie die geschichtlichen Erfahrungen im Kapitalismus lehrten, in der Regel sehr unterstützenswert ist).
„Ohnmacht“ sei, so Karl Marx, das „Naturgesetz der Administration“. Es entspringe „aus der unsozialen Natur dieses bürgerlichen Lebens, dieses Privateigentums, dieses Handels, dieser Industrie, dieser wechselseitigen Plünderung der verschiedenen bürgerlichen Kreise“.[14] Erkämpfung der Demokratie müsse gegen und außerhalb des kapitalistischen Staates erreicht werden. Die Staats- und Demokratiefrage müsse als Eigentumsfrage und Machtfrage (Eroberung der Macht der Arbeiterklasse) begriffen und gestellt werden. Die politische Ohnmacht könne und müsse, so Marx und Engels dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, durch die Schaffung von Gegenmacht begrenzt und schließlich überwunden werden
Viertens gibt es keine Autonomie von Politik, Staat und Recht gegenüber der herrschenden Klasse, deren politisches Instrument der Staat ist. Eine relative Selbständigkeit des Staates ist gegeben.
Aus dieser Sicht ist die Dominanz der Ökonomie über die Staatspolitik keine Ausnahme im Verhältnis von Ökonomie und Politik im Kapitalismus. Sie ist der Normalfall. Linke Politik darf so auch niemals etwa als eine bloße Willensfrage verstanden werden. Friedrich Engels verwies bereits darauf, dass es durchaus eine „Rückwirkung der Staatsmacht auf die ökonomische Entwicklung“ gebe[15] Karl Marx verwies auf die politische Macht als „ökonomische Potenz“[16]. Soweit „Rückwirkungen“ des Staates von der Arbeiterklasse erzwungen wurden, haben sie Staatspolitik und Recht deutlich beeinflusst. Es gibt außerdem nach Marx und Engels immer wieder Erscheinungen einer „Selbständigkeit“ und „Verselbständigung“ der staatlichen Exekutive gegenüber den um den Besitz der Staatsmacht kämpfenden Klassen und Klassenfraktionen. Karl Marx sah besonders im Bonapartismus eine derartige „Ausnahmesituation“ des Staates.
Fünftens ist nach Karl Marx der Staat nicht die eigentliche Triebkraft der Geschichte, sondern der Kampf der Klassen für ihre Interessen.
Karl Marx hat den Schlüssel zum Verständnis der geschichtlichen Entwicklung, so Franz Mehring, „in der der von Hegel ‚missachteten Gesellschaft’“ gefunden.[17] Hegel sah im Staat geradezu die „politische Weltgeschichte“ bzw. den „Gang Gottes durch die Geschichte“. „Indem die Politik (durch Marx – E. L.) als der eigentliche Beweger der Weltgeschichte entthront wird, rückt die ‚Naturgesetzlichkeit’ des Kapitalismus an ihre Stelle.“[18] Vor „Etatismus“ oder Staatsvergötterung (ob nun im Kapitalismus oder bezogen auf den Sozialismus) sollten Marxisten sich ebenso hüten wir vor einer Frontstellung gegen den Staat, mittels dessen die jeweils ökonomisch herrschende Klasse nun einmal die politische Macht ausübt und die Gesellschaft leitet. Im 1. Entwurf des Bürgerkrieges in Frankreich hatte Marx noch von der Kommune als „eine[r] Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft“ gesprochen. In der endgültigen Fassung entfiel diese Einschätzung. Er sprach vom „Schmarotzerauswuchs“ und unterschied „die bloß unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht“ von „berechtigten Funktionen“. Die Letzteren müssten „verantwortlichen Dienern der Gesellschaft zurückgegeben werden“.[19]
Staatsbegriff im Widerstreit
Theorie, die auf politische Praxis gerichtet ist, braucht dafür taugliche Begriffe. Diese müssen uns erlauben, die Dinge zu begreifen, ihre Widersprüchlichkeit aufzudecken und geeignet sein, als Richtschnur für politische Praxis und Strategie zu dienen. Sie sind Denkmittel, mit denen wir das Erkannte behandeln. Dabei ist Theorie immer reichhaltiger als Begriffe und die Praxis stets reichhaltiger als die Theorie.
Gerade auch hinsichtlich der Staatsfrage, der Macht- und Herrschaftsverhältnisse gibt es unter Marxistinnen und Marxisten im Zusammenhang mit der Begrifflichkeit mehr offene als geklärte Probleme. Ich sehe das nicht als besonders tragisch an. Zu unterscheiden ist dabei allerdings zwischen der Verwendung unterschiedlicher Begriffe bei geringen Meinungsverschiedenheiten und tatsächlichen grundlegenden inhaltlichen Differenzen.
Wohl das wichtigste Problem ist die z. T. massive Kritik der Grundposition von Marx und Engels zum Staat als „Instrument“, „Maschine“ oder „Werkzeug“ der herrschenden Kapitalistenklasse seitens einiger Theoretiker, die sich durchaus in der Tradition von beiden sehen. Das sei zu eng, wird von Nicos Poulantzas gesagt. Der Staat dürfe nicht als „ein abgeschlossenes Wesen begriffen werden.“ Er sei, wie auch das Kapital, ein Verhältnis, nämlich „die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“.[20] Ich sehe da eine Differenz, aber auch Missverständnisse.
Solche komplexen Erscheinungen wie Staat und Gesellschaft, sagte schon Hegel, sind „herb“ zu fassen. Sie müssen in ihrer Vielschichtigkeit gesehen werden, unter ganz bestimmten Gesichtspunkten auf den Begriff gebracht werden. Begriffe wie „Instrument“ und „Klassenverdichtung“ tun dies in Bezug auf das Verhältnis des Staates zu den Gesellschaftsklassen – jedoch in verschiedenen Zusammenhängen. Es geht um das Beziehungsgefüge, in der die eine oder andere Bedeutung wichtig ist. Der Staat ist Instrument der herrschenden Klasse und nach Marx und Engels zugleich „die Form, in welcher die Individuen einer herrschenden Klasse ihre gemeinsamen Interessen geltend machen und die ganze bürgerliche Gesellschaft einer Epoche sich zusammenfaßt“.[21]
Der Staat der BRD ist Vieles. Er ist ein vielschichtiger Apparat der öffentlichen politischen Gewalt (mit derzeit 4,6 Mill. Staatsangestellten). Er ist ein Verwaltungsapparat, um Klassenfunktionen, aber auch „berechtigte Funktionen“ wahrzunehmen. Der Staat ist ein ganz wichtiger politischer Akteur. Er spielt eine zentrale Rolle in der Wirtschaft. Trotz der Privatisierungen ist er auch heute immer noch der größte Kapitalist der Bundesrepublik mit 109 Beteiligungen an kapitalistischen Unternehmen. Und er ist der größte Bankier. Er ist kein „Schatten der Ökonomie“, sondern eine enorme ökonomische Potenz, eine Art riesige Schleuse, über die staatliche Gelder in die in die Tresore der Banken und Konzerne fließen. Er gewährt Kredite und Subventionen. Er gestaltet das Wirtschaftsrecht entsprechend dem Wollen der Unternehmerverbände bzw. unter dem Einfluss konkurrierender Kapitalfraktionen. Der Staat der Bundesrepublik ist Regierung und Gesetzgeber. Er schafft allgemeine Regeln, also Recht für die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, zur Durchsetzung der Interessen der herrschenden Klasse, abhängig durchaus von den Klassenmachtverhältnissen. Er betreibt Politik, Staatspolitik im Innern und nach Außen, als offizieller Repräsentant der Gesellschaft.
Der Kapitalismus selbst ist im Kern ein Gewaltverhältnis, das den Staat als politische Institution, als Apparat usw. in dieser Vielgestaltigkeit braucht. Insofern ist der Staat eben ein „Instrument“, eine „Maschine“, ein „Werkzeug“, das die verschiedensten Funktionen hat (wie insbesondere Umsetzung der ökonomischen Macht in politische Macht, Konjunkturpolitik, Regulierung der Klassenbeziehungen, Verschleierung und Absicherung der Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse).
Eine Aufweichung des Verständnisses des Staates als Instrument der Kapitalherrschaft würde der Realität seiner tatsächlichen Klassenrolle widersprechen. Sie richtet sich gegen den Rückbezug staatlicher Tätigkeit auf die kapitalistische Basis und gegen das Verständnis von Staatspolitik und Recht als Ausdruck der herrschenden ökonomischen Interessen.
Eine andere Sache ist es aber, der Tatsache gerecht zu werden, dass natürlich die Klassenkämpfe auf den Staat und noch mehr auf dessen Recht (unterschiedlich auf die einzelnen Rechtszweige) und die Staatspolitik einwirken. „Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen“ ist ein anschaulicher Begriff. Er gestattet es, den gegebenen konkreten Einfluss von Klassenwiderstand von unten auf Staatspolitik und Recht zu thematisieren und zu verstehen.
Man muss dann allerdings auch sagen, was nach bald zwei Jahrhunderten historischer Erfahrungen der Arbeiterbewegung darunter nicht verstanden werden kann.
Zum einen: Der Staat verändert unter dem Druck von Klassenkämpfen nicht einfach seinen Charakter als Instrument kapitalistischer Klassenherrschaft und wird zum neutralen Vielklassenstaat oder zum Instrument der sozialen Befreiung.
Es verändern sich bei entsprechendem Klassenwiderstand von unten allerdings sein Recht und seine Politik. Der Staat setzt gegebenenfalls auf soziale und politische Verbesserungen, aber eben nicht, um seine Rolle als Instrument der Klassenherrschaft aufzugeben, sondern um sie weiterhin wirksam ausüben zu können. Er hat die Funktion übernommen, gesellschaftlichen Druck abzufedern und Widerstand in Zustimmung umzuwandeln. Linke Politiker verändern in aller Regel beim Marsch durch die staatlichen Institutionen nicht den Staat, sondern sich selbst. Ohne politische und sozialökonomische Umbrüche, die den Staat grundlegend verändern, stoßen alle Kämpfe im Staat und um eine neue Gesellschaft alsbald an Grenzen. Die Rolle des kapitalistischen Staates wie auch die Dynamik der Kapitalakkumulation verhindern ein Hineinwachsen in den Sozialismus bzw. eine Transformation hin zu einer anderen Gesellschaft ohne machtpolitische Umbrüche.
Zum anderen: Linke Politik hat vor allem Wirkung auf Staatspolitik und Recht, wenn sie klar auf Opposition setzt.
Der kapitalistische Staat lässt sich nicht überlisten. Die Opponierer haben stets mehr erreicht als die Fügsamen. Zurückhaltung der subalternen Klassen und ihrer Parteien zahlt sich nie aus. Massive Protestaktionen wirken auf Recht und Staatspolitik ein. Sie zeigen dann eine außergewöhnliche Wirkung, wenn das Kapital seine Herrschaft angesichts von gegebenem oder drohendem Massenprotest als gefährdet ansieht, wie dies in der Novemberrevolution 1918 in Deutschland oder im Mai 1968 in Frankreich der Fall war, als die Unternehmer den Lohnarbeitern Lohnerhörungen um 30 Prozent gewährten, um sie politisch ruhig zu stellen. Derartige außerordentliche Zugeständnisse gehen immer einher mit der Mobilisierung von politischen Reserven und mit dem Bestreben, die politischen und sozialen Zugeständnisse möglichst bald wieder rückgängig zu machen.
Womit wir bei Antonio Gramsci und dessen Staatsbegriff sind, der eine genaue, differenzierte und komplexe Bestimmung des jeweiligen Zustandes kapitalistischer Herrschaft ermöglicht.
Zum Staatsbegriff bei Gramsci
Nach Antonio Gramsci ist der moderne kapitalistische Staat immer zugleich auf Gewalt gestützte Herrschaft und Hegemonieapparat, Diktatur und Konsens, „mit Zwang gepanzerte Hegemonie“. Das heißt: der Staat ist Instrument der Gewaltanwendung, aber seine Funktionstüchtigkeit im Sinne der herrschenden Klasse hängt von seiner Fähigkeit ab, die ideologische und politische Hegemonie in der „bürgerlichen Gesellschaft“ zu sichern. In diesem Sinne spricht Gramsci auch vom „integralen Staat“.[22]
Gramsci unterteilt in diesem Zusammenhang den politischen Überbau der kapitalistischen Gesellschaft in zwei Stockwerke: in den politischen Staat und in die bürgerliche Gesellschaft als einem eigenständigen politischen Mechanismus. „Im Osten war der Staat alles, die bürgerliche Gesellschaft steckte in ihren Anfängen, und ihre Konturen waren fließend. Im Westen herrschte zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft ein ausgewogenes Verhältnis, und, erzitterte der Staat, so entdeckte man sofort die kräftige Struktur der bürgerlichen Gesellschaft.“[23] Aus dieser Sicht entwickelte Gramsci an der gleichen Stelle den Begriff des Staates im „Westen“ als „vorgeschobener Schützengraben, hinter dem eine robuste Kette von Befestigungswerken und Kasematten“ lag, und die programmatische Strategie einer notwendigen „Wende vom Bewegungskrieg, der 1917 im Osten erfolgreich war, zum Stellungskrieg, als dem im Westen einzig möglichen“ Weg.[24]
In der DDR wurde Gramsci publiziert; es gab keine Polemik gegen seine Begriffe. Aber sein Begriffsinstrumentarium wurde doch sehr wenig beachtet. Im „östlichen Marxismus“ existierten andere Begriffe, um Stabilität bzw. Instabilität kapitalistischer Herrschaft im 20. Jahrhundert zu erfassen. Der allgemeine Begriff für den gesamten politischen Überbau war der des „politischen Lebens“. Zum einen gab es dann den Begriff des politischen Systems (des Herrschaftssystems) mit seinen vier Elementen: Staat, Unternehmerverbände, systemtragende Parteien und Massenmedien. Zum anderen wurde vom politischen System des Klassenwiderstandes gesprochen, zu dem die kommunistischen Parteien, antikapitalistische und kapitalismuskritische Organisationen und Medien sowie (mit Einschränkung) die Gewerkschaften gezählt wurden.
So oder so: Eine realistische Bewertung des heutigen kapitalistischen Staates in der Bundesrepublik ergibt, dass die Umbrüche seit Mitte der siebziger Jahre (der Veränderungen in den kapitalistischen Strukturen der Produktivkraftentwicklung und der in Gang gekommenen neoliberalen Kapitaloffensive sowie des Zusammenbruchs des europäischen Realsozialismus), wie es Frank Deppe formulierte, „eine stabile hegemoniale Herrschaftskonstellation herbeigeführt“ haben..[25] Anders gesagt: Das Kapital sitzt politisch heute angesichts der „hegemonialen Strukturen und Kräfteverhältnisse“ recht fest im Sattel.
Dabei sollten wir zwischen Herrschaft und Macht unterscheiden. Unter Macht oder Machtverhältnissen verstehen Marxisten in der Regel das Verhältnis zwischen Individuen, Gruppen oder Gesellschaftsklassen. Macht ist eine zweiseitige Sache, wobei der eine Teil zumeist dem anderen zu einem bestimmten Verhalten veranlassen kann. „Sie dachten, sie seien an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung“ heißt es in einem Kurt Tucholsky zugeschriebenen Zitat über die SPD. Regierung ist der Kern der Staatsmacht der ökonomisch Herrschenden. Aber Regierungen sind eben nicht souverän gegenüber der ökonomischen Macht. Wer sich dieser Illusion hingibt, dem zeigten die Konzerne und Banken sehr schnell, wo der Hammer hängt (Kapitalflucht, Medienkampagnen, Organisierung von Protest und Staatsstreichen). Herrschaft oder Klassenherrschaft ist im Unterschied zur Macht ein stabiles Verhältnis, ein Verhältnis der ständigen Über- und Unterordnung des Kapitals gegenüber den abhängig Arbeitenden.
Grundgesetz als Klassenkompromiss
Recht ist der zum „Gesetz erhobene Wille“ der herrschenden Klasse, „ein Wille dessen Inhalt gegeben ist in den materiellen Lebensbedingungen“ dieser Klasse, steht im Kommunistischen Manifest.[26] „Die politische wie die bürgerliche Gesetzgebung proklamieren, protokollieren nur das Wollen der ökonomischen Verhältnisse“, heißt es in der Deutschen Ideologie[27]. Im Recht, besonders im Verfassungsrecht und Arbeitsrecht, finden die Klassenmachtverhältnisse, wie die geschichtlichen Erfahrungen deutlich machten, einen viel direkteren Ausdruck als im Staat. Zu beachten ist im Übrigen, dass die jeweiligen Machthaber in den politischen Auseinandersetzungen alles daran setzen, stets auch die Rechthaber zu sein.
Zur Verfassung als dem grundlegenden Dokument der jeweiligen nationalen Rechtsordnung gibt es von Marx und Engels lediglich einzelne Bemerkungen, aber keine Verfassungstheorie. Friedrich Engels hat z. B. mehr nebenbei die Verfassungen des 19. Jahrhunderts treffend als „Resultate“ von Klassenkämpfen „nach gewonnener Schlacht durch die siegreiche Klasse“ bezeichnet.[28] Den Kampf um eine Reichsverfassung im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 hatte Engels (40 Jahre zuvor) nicht als seine Sache bzw. als die Sache des Proletariats angesehen: „denen es ernst war mit der Bewegung“, so seine Einschätzung, „war es nicht ernst mit der Reichsverfassung, und denen es ernst war mit der Reichsverfassung, war es nicht ernst mit der Bewegung.“ Die „Reichsverfassungskampagne“ war aus seiner Sicht eine Angelegenheit der „Kleinbürgerschaft“ und nicht des Proletariats, da die damalige Revolution in Deutschland sowieso nicht anders „abgeschlossen werden [kann] als mit der vollständigen Herrschaft des Proletariats.“ [29]
Deutlich negativ für den politischen Kampf der Linken war die Wirkungsgeschichte der Verfassungskonzeption von Ferdinand Lassalle, wie sie dieser an 16. April 1862 in dem Vortrag Über Verfassungswesen entwickelt hatte. Für Lassalle war die Verfassung im Grunde genommen gegenüber der „wirklichen Verfassung, den realen tatsächlichen Machtverhältnissen“ ein „Blatt Papier“. „Was auf dem Blatt Papier geschrieben wird, ist ganz gleichgültig, wenn es der realen Lage der Dinge, den tatsächlichen Machtverhältnissen widerspricht.“[30] Die einprägsame, aber theoretisch und politisch falsche Formel vom „Blatt Papier“ hatte sehr negative Auswirkungen auf die Klassenkämpfe in der Weimarer Republik.
In der Weimarer Republik war es Arthur Rosenberg (Reichstagsabgeordneter und Mitglied der KPD von 1920 bis 1927), der in seinen Schriften zur Weimarer Reichsverfassung die Grundlagen für eine tragfähige marxistische Verfassungstheorie entwickelte. Rosenberg ging davon aus, dass die Weimarer Reichsverfassung nicht lediglich das Dokument der in der Novemberrevolution siegreichen Klasse war, sondern bereits bei seinem Inkrafttreten (August 1919) links von den tatsächlichen Machtverhältnissen stand und unter dem Einfluss der deutschen revolutionären Entwicklung zu einem „Werkzeug“ geworden war, „dessen sich das deutsche Volk durchaus im fortschrittlichen Sinne zum Ausbau der Demokratie und des Sozialismus hätte bedienen können.“[31]
Wolfgang Abendroth sah dies ähnlich auch in Bezug auf das Bonner Grundgesetzes vom Mai 1949. In den fünfziger Jahren entwickelte er eine für die politische Praxis wie für die politische Strategie tragfähige marxistische Verfassungstheorie. Insbesondere Peter Römer und Joachim Perels setzten später seine Arbeit fort. Kern dieser Verfassungskonzeption war das Verständnis des Grundgesetzes als Klassenkompromiss, der seinen Ausdruck in einem „permanenten Widerspruch zwischen Verfassungswirklichkeit und Verfassungsrecht“ findet und von der Arbeiterbewegung in „zähem Ringen die Verfassungsnormen gegen die ihnen widersprechenden Realitäten zu schützen und durchzusetzen.“ [32]. Der Kampf um eine demokratische und sozialistische Perspektive der BRD war für ihn Kampf um das Grundgesetz.
In der DDR war diese Verfassungskonzeption zwar nicht „herrschende Lehre“, aber doch weitgehend Grundlage der Lehrveranstaltungen zum Verfassungsrecht bürgerlicher Staaten an den juristischen Fakultäten. Nicht vergessen werden sollte, dass es der spätere DDR-Verfassungsrechtler Karl-Heinz Schöneburg war, der als Student Wolfgang Abendroth im Dezember 1948 sicher nach Westberlin brachte, als dieser unter anderem wegen seiner ehemaligen Mitgliedschaft in der KPO von den Behörden der sowjetischen Besatzungsmacht mit Repressalien bedroht war.
Im Sinne von Wolfgang Abendroth und seinen Schülern sehe ich folgende Eckpunkte seiner Verfassungskonzeption für die heutige und zukünftige politische Praxis und Strategie der Linken als besonders wichtig an:
Erstens geht es um eine Position zum Grundgesetz jenseits von Mythisierung und Distanz als verfassungsrechtliche Grundlage linker Politik.
Das Bonner Grundgesetz ist das Resultat der Klassenauseinandersetzungen nach 1945. Es entstand zu einer Zeit (1948), da die Bewegung im Westen Deutschlands in Richtung demokratischer und sozialistischer Umwälzungen bereits rückläufig, aber die Restauration der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse noch keineswegs abgeschlossen war. Das Grundgesetz war ein Klassenkompromiss. Bereits bei seinem Inkrafttreten stand es links von den tatsächlichen Verhältnissen.
Die in ihm fixierten Waffenstillstandslinien und Grenzmarken im Kampf der Klassen[33] seine Grundrechte und Prinzipien (wie der politische Grundrechtskatalog, die Koalitionsfreiheit, die Sozialstaatlichkeit und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, die Möglichkeit der Vergesellschaftung der Banken und wichtigsten Produktionsmittel mittels der einfachen Gesetzgebung, das Friedensprinzip und das strafrechtlich bewehrte Verbot selbst der Vorbereitung des Angriffskrieges) sind wesentliche verfassungsrechtliche Grundlagen des politischen Kampfes der Linken. Auch der Kampf um ein radikales Reformprogramm ist Kampf um das Grundgesetz. Dabei darf nicht übersehen werden, dass wichtige Bestimmungen des Grundgesetzes im Sinne der Kapitalherrschaft geregelt sind. Nach Art. 1 Abs. 2 gibt es keine Bindung der Staatsgewalt an die Menschenrechte. Das Sozialstaatsprinzip wird nicht durch soziale Grundrechte untersetzt. Eine Volksgesetzgebung auf Bundesebene ist nicht vorgesehen. Linke Verfassungspolitik muss deshalb auch immer auf die Demokratisierung des Grundgesetzes gerichtet sein.
Zweitens: Linke Verfassungspolitik hat zu beachten, dass es keinen Selbstverwirklichungsmechanismus von progressiven Verfassungsnormen gibt.
Gute Verfassungsnormen an sich bewirken noch gar nichts. Die politische Kraft von solchen Normen steht und fällt mit der Bereitschaft relevanter gesellschaftlicher Kräfte, für sie zu kämpfen.
Kampf um demokratische und soziale Verbesserungen im Sinne der Normen des Grundgesetzes ist nur als Massenkampf erfolgreich. Die Linken müssen überdies den Kampf um die Verfassung immer auch als juristischen Kampf in den Parlamenten und vor den Gerichten führen. Dabei darf es nie ihre Sache sein, sich der offiziellen Verfassungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu unterwerfen.
Drittens: Kampf um das Grundgesetz bedeutet, sich gegen seine Aushöhlung und aktuell gegen seine Verwandlung in eine „Straßenverkehrsordnung“ der neoliberalen Kapitaloffensive zur Wehr zu setzen.
Linke Politiker dürfen keine faulen Kompromisse bei Verfassungsverschlechterungen zu Gunsten der Kapitalinteressen machen (wie z. B. 2013 in Sachsen im Zusammenhang mit der landesverfassungsrechtlichen Verankerung der Schuldenbremse).
Es gibt eine lange Tradition einer engen Verbindung des politischen Kampfes mit dem verfassungsrechtlichen Kampf in der Bundesrepublik: gegen die Wehrverfassung und die Notstandsverfassung, für Mitbestimmung in den Betrieben, gegen die Bestrebungen zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr, gegen die Berufsverbote, gegen die Verweigerung einer für den Fall der Vereinigung nach Artikels 146 GG vorgesehenen Verfassunggebung und gegen die Legalisierung von Angriffskriegen in den neunziger Jahren.
Derzeit gibt es eine schleichende Aushöhlung des Grundgesetzes gegen seine tragenden demokratischen Prinzipien vor allem in drei Richtungen. Die verfassungsmäßige Neutralität der Wirtschaftsordnung nach dem Grundgesetz soll durch EU-Vertrag (Art. 120 „offene Marktwirtschaft und freier Wettbewerb“) beseitigt werden. Mittels einer Verankerung von Schuldenbremsen im Grundgesetz und in den Länderverfassungen soll im Falle von wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Aufnahme von Staatsschulden eng begrenzt werden und sollen damit soziale Kürzungen zum Verfassungsgebot werden. Die Aushöhlung der Grundrechte in Richtung Überwachungsstaat schreitet weiter voran. Nicht zu übersehen ist eine weitere Einschränkung der sozialen Rechte, des Streikrechts und des Demonstrationsrechts,
Viertens: Die Linken sollten sich klar darüber sein, dass es nur Sinn macht, die Ausarbeitung einer neuen Verfassung nach Art. 146 GG auf die Tagesordnung zu setzen, wenn es eine einflussreiche Volksbewegung für einen grundlegenden politischen Richtungswechsel gibt.
Eine Kampagne für eine neue Verfassung, wie sie immer wieder von einigen Politikern der Linken gefordert wird, hat dies zu beachten. Sinn hat sie nur im Zuge einer sich abzeichnenden gesellschaftlichen Umwälzung.
In den Jahren 1992 und danach hat die Gruppe Linke Liste im Bundestag einen eigenen Verfassungsentwurf als Bundestagsdrucksache (12/6570) vorgelegt. Ihre dafür zuständigen Politiker (Gerhard Riege und dann Uwe-Jens Heuer) waren sich aber sehr wohl bewusst, dass dies der damaligen politischen Situation geschuldet war, dass das politische Kräfteverhältnis für eine progressive Weiterentwicklung des Grundgesetzes völlig ungeeignet war und sogar angesichts der Dominanz der konservativen Kräfte die Gefahr bestand, dass es zu einer Verschlechterung des Grundgesetzes kommt. Die PDS wollte in der damals gegebenen politischen Auseinandersetzung mit ihrem Verfassungsentwurf auf den Verfassungsbruch der Regierenden hinweisen und zugleich für zukünftige Verfassungsauseinandersetzungen Vorstellungen für eine radikaldemokratische Weiterentwicklung des Verfassungsrechts zur Diskussion stellen, die Anfang der neunziger Jahre an Vorstellungen sowohl des Runden Tisches in der DDR als auch des Kuratoriums für einen demokratisch verfassten Bund Deutscher Länder anknüpfen konnten.
[1] Wolfgang Abendroth, Politisches Unbehagen organisieren, in: Konkret, H. 12/1962, S. 11.
[2] W. I. Lenin, Was tun?, in: W. I. Lenin, Werke Band 5, Berlin 1955, S. 379.
[3] Leonardo da Vinci, [Über die Wissenschaft], in: Philosophen-Lesebuch, Bd. 1, Berlin 1988, S. 341.
[4] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilophie. Einleitung, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW) Bd.1, S. 385.
[5] Karl Marx [Thesen über Feuerbach], in: MEW 3, S. 535.
[6] Vgl. Uwe-Jens Heuer, Vom theoretischen Gewinn der Niederlage, Vorwort, in: Marxismus und Demokratie, Baden-Baden 1990, S. II f.
[7] Wolfgang Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und herausgegeben von Barbara Dietrich und Joachim Perels, Frankfurt am Main 1976, S. 255.
[8] Vgl. Uwe Jens Heuer, Marxismus und Politik, Hamburg 2004, S. 204 ff.
[9] Ebenda, S. 75.
[10] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Dritter Band, in: MEW 25, S. 825.
[11] Karl Marx, Lohn, Preis und Profit, in: MEW 16, S. 129.
[12] Vgl. Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW 13, S. 8.
[13] Karl Marx, Das Kapital, Dritter Band, a.a.O., S. 799f.
[14] Karl Marx, Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen, in: MEW 1, S. 401.
[15] Friedrich Engels an Conrad Schmidt, 27. Oktober 1890, in: MEW 37, S. 490.
[16] Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, in: MEW 23, S. 799.
[17] Franz Mehring, Karl Marx, Berlin 1960, S. 70.
[18] Uwe-Jens Heuer, Marxismus und Politik, a.a.O., S. 33.
[19] Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, S. 541 und 340.
[20] Nicos Poulantzas, Staatstheorie, Hamburg 2002, S. 159.
[21] Karl Marx/Friedrich Engels, Die Deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 62.
[22] Vgl. Karin Priester, Zur Staatstheorie von Antonio Gramsci, in: Das Argument, Juli/August 1977, S. 515 ff.
[23] Antonio Gramsci, Zur Politik, Geschichte und Kultur, Berlin 1986, S. 273.
[24] Ebd., S. 273 und 272.
[25] Frank Deppe, Widerstand, soziale Bewegungen und Gewerkschaften im Kapitalismus der Gegenwart, in: Z 61, März 2005, S. 10.
[26] Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW 4, S. 477.
[27] Karl Marx, Das Elend der Philosophie, in: MEW 4, S. 109.
[28] Friedrich Engels an Joseph Bloch, 21./22. September 1890, in: MEW 37, S. 463.
[29] Friedrich Engels, Die deutsche Reichsverfassungskampagne, in: MEW 7, S. 196.
[30] Ferdinand Lassalle, Reden und Schriften. Herausgegeben von Hans Jürgen Friederici, Leipzig 1987, S. 134 und 145.
[31] Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 1955, S. 350.
[32] Wolfgang Abendroth, Die soziale Struktur der Bundesrepublik und ihre politischen Entwicklungstendenzen, in: ders., Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie, Neuwied und Berlin 1972, S. 56 f.
[33] Vgl. Joachim Perels, Demokratie und soziale Emanzipation, Hamburg 1988, S. 12 f.