Lassalle – historische und aktuelle Aspekte
Ferdinand Lassalle und der ADAV. Beiträge zum historischen Diskurs der Linken, hrsg. von Manfred Neuhaus und Klaus Kinner, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e. V. (info@rosalux-sachsen.de), Leipzig 2014, 74 S., 6,00 Euro
Kann man über Ferdinand Lassalle und den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein heute noch etwas Neues sagen? Die zentrale und die sächsischen Rosa-Luxemburg-Stiftung versuchten auf einer geschichtswissenschaftlichen Konferenz im April 2013 in Leipzig, die dem 150. Jahrestag der Gründung des ADAV und der Rolle Ferdinand Lassalles gewidmet war, darauf eine Antwort zu geben. Im vorliegenden Heft sind die wichtigsten Referate veröffentlicht. In einem einleitenden Beitrag fasst der Journalist Wulf Skaun die Ergebnisse der Tagung zusammen, auf die hier nur in Kürze eingegangen werden kann. Allseits wurde betont, dass Lassalle heute keiner bestimmten Partei zuzuordnen sei, sondern der gesamten Linken etwas zu sagen habe.
Die sozialdemokratische Historikerin Helga Grebing umreißt in ihrem Beitrag „Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein 1863 – der Anfang einer sozialen Bewegung oder das Ende einer ‚sozialliberalen Koalition’?“ wesentliche Aspekte der Gründung, des Charakters und der Rolle des ADAV. Sie wirft die interessante Frage auf, „ob die Gründung des ADAV durch zwölf Delegierte aus elf Orten wirklich die Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie gewesen ist“ (14) und begründet, dass eine richtige Parteigründung erst durch die sog. Eisenacher erfolgte und die SPD-Geschichte mit dem Vereinigungs-Parteitag von Gotha 1875 begonnen habe. Deshalb müsse auch das 150jährige Jubiläum von „Gotha“ im Jahre 2025 gefeiert werden. (21)
Manfred Neuhaus resümiert in „Zur Archäologie einer Hassliebe. Karl Marx und Ferdinand Lassalle“ zunächst die schwierige Geschichte der Lassalle-Forschung in der DDR, galt dieser doch als einer der Stammväter des Opportunismus. Er würdigt die Verdienste Hans-Jürgen Friedericis bei der Überwindung dogmatischer Fesseln in dessen Lassalle-Biografie. Das hatte sich schon bei einer der ersten Veranstaltungen des neu gegründeten Rosa-Luxemburg-Vereins 1993 in Leipzig zum 130. Jahrestag der Gründung des ADAV gezeigt.1 Des Weiteren versucht Neuhaus, gestützt auf einen bisher zu wenig beachteten Kondolenzbrief von Marx an Lassalles Freundin, die Gräfin Sophie von Hatzfeldt, datiert vom 16. Oktober 1864, eine Art Ehrenrettung des schwierigen Verhältnisses der beiden. Marx fordert eine respektvolle und sachlich-kritische Würdigung Lassalles, die er selbst nicht leisten könne. Wegen Befangenheit?, möchte man fragen. Das liest sich interessant und z. T. pikant, verbleibt aber letztlich im privaten Bereich. Die politische Rolle einer Persönlichkeit ist nicht davon abhängig, ob sie von Mitstreitern geliebt oder gehasst wird. Warum der auf S. 37 als Faksimile des Originals wiedergegebene Brief von Lassalle an Marx vom 1. Juli 1861 im Kontext nicht direkt behandelt wird, verwundert, zumal er wegen der schlechten Druckqualität schwer lesbar ist.
Einige spezielle Beiträge behandeln zeitgenössische Aspekte des ADAV. Jutta Seidel beschreibt das internationale Umfeld der ADAV-Gründung und unterstreicht den Beitrag Wilhelm Brackes zur eigenständigen Entwicklung der frühen Arbeiterbewegung. Klaus Kinner stellt die neue Biografie Wilhelm Liebknechts von Wolfgang Schröder vor.2. Schröder konnte sein Hauptwerk nicht vollenden. Er ist 2010 verstorben. Die Herausgeber haben sich dennoch zur Veröffentlichung entschlossen, offenbar zu Recht. Denn nach dem Urteil der Bebel-Forscherin Ursula Hermann kann das Buch als reifste biografische Darstellung des bedeutenden Sozialisten gelten.
Lassalle und der ADAV drohen aus dem politischen Bewusstsein der Gesellschaft zu verschwinden. Das Heft leistet einen notwendigen Beitrag gegen das Vergessen.
Sind die bisher genannten Beiträge mehr oder weniger historischen Themen gewidmet, so blieb es einem Philosophen überlassen, direkt aktuelle und zukünftige Fragen anzusprechen. Michael Brie behandelt das Thema „Der Bruch mit dem Leninismus als System. Sozialismus und Demokratie – eine historische Tragödie“.
Brie fordert, über 20 Jahre nach dem SED/PDS-Sonderparteitag vom Dezember 1989, dass die Linke nicht nur mit dem Stalinismus brechen, sondern sich auch vom Leninismus verabschieden müsse. Damals sei das noch nicht möglich gewesen. Warum nicht, möchte man fragen und erhält als Antwort nur, dass Lenin noch ein positiver Bezugspunkt gewesen sei. In einem weitgreifenden Überblick von der französischen Revolution 1789 bis zur Gegenwart verfolgt Brie die Geschichte der sozialen Frage und deren Lösungsversuche. Der grundlegende Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit oder Besitzenden und Besitzlosen habe sich in immer neuen Formen reproduziert und könne nur in einem gemeinwirtschaftlichen System aufgehoben werden. Den Schwerpunkt legt B. auf die leninistische Antwort und die Folgen, die deren katastrophales Scheitern gehabt hätten, da im Leninismus die Erhaltung der Macht der Partei als Garant für die Umgestaltung der Gesellschaft gelte, die mit allen Mitteln, auch mit Terror, durchgesetzt würde. Der Staatssozialismus scheiterte, so Brie, weil er weder „Gemeineigentum an Land, Produktionsmitteln und dem Kredit“, noch „direkteste Demokratie bei der Entscheidung über die gemeinschaftlichen Angelegenheiten“ (62) verwirklichen konnte. Zu ergänzen wäre, dass der Staatssozialismus auch wegen fehlender bürgerlicher Freiheiten scheitern musste. Am Ende hätte das leninistische System auch nicht reformiert werden können. Deshalb, so Brie, müsse Demokratie nicht nur in Staat und Gesellschaft herrschen, sondern auch in der Wirtschaft. Die Eigentumsfrage könne nur plural gelöst werden. Als neue Formen für zukünftiges Gemeineigentum sieht Brie z. B. Allmende und Commons. Der Beitrag ist in seiner äußeren Form als Drama in fünf Akten angelegt. Das wirkt zwar etwas melodramatisch, ist dem Gewicht und der Brisanz des Themas aber wohl angemessen.
Manfred Hötzel
Unter Wilhelm II: Jihad vom Kaukasus bis zum Himalaja
Rudolf A. Mark, Krieg an fernen Fronten. Die Deutschen in Russisch-Turkestan und am Hindukusch 1914-1924, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2013, 285 S., 34,90 Euro
Im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern sind die Historiker begnadete Quellenforscher. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass uns Informationen zugänglich werden, die wir sonst nicht so einfach bekommen hätten. Zu ihnen zählt auch Rudolf A. Mark, der neben Slawistik und Ethnologie auch osteuropäische Geschichte studiert hat. Mark hebt denn auch in seiner Einleitung seine Quellenrecherchen hervor (11). Schaut man sich jedoch das Quellenverzeichnis genauer an, so sieht das relativ mager aus. Die Untersuchung besitzt starke Züge eines Kriegsberichtes, womit er „weiße Flecken beseitigen“ (8) möchte. Es wird durchgängig vom „Ausbruch“ des Krieges gesprochen. Da Kriege keine Naturkatastrophen sind, können sie auch nicht „ausbrechen“, sondern sie werden von Menschen gemacht. Auch sonst verwendet Rudolf Mark oft verharmlosende Begriffe. Die deutsche Afghanistan-Expedition sollte mit dem Emir von Afghanistan „Kontakte“ (7) aufnehmen. Später zeigt er, dass es doch um mehr ging als nur um „Kontaktaufnahme“. Die ausgezeichnete Untersuchung von Fritz Fischer über die maßgebende Rolle Deutschlands bei der Entfesselung des ersten Weltkriegs1 wird zur „provokanten Thesen“ (7) herabgestuft. In Fischers Buch sollen die Expansionsziele Deutschlands „Erwägung“ (13) gefunden haben. Was für eine Verharmlosung!
Wichtige, um nicht zu sagen, die zwei wichtigsten Untersuchungen zum Thema, basierend auf umfangreichen Archivmaterialien, werden nicht einmal erwähnt.2 Kritische Untersuchungen bleiben fast gänzlich unberücksichtigt. Nur eine einzige Untersuchung wird erwähnt (Anm. 31, S. 221), jedoch taucht sie in der Literaturliste nicht mehr auf. Hier wird der tendenziöse Ansatz von Rudolf Mark deutlich. (Der Anmerkungsapparat ist im Übrigen äußerst unübersichtlich.)
Im Zentrum seiner Arbeit, die zum Teil von der Thyssen-Stiftung finanziert worden ist, stehen die deutsche Politik sowie die Deutschen in Zentralasien vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis 1924/25.
Die deutsche strategische Konzeption beinhaltete „die Instrumentalisierung des Islam zum Vorteil Deutschlands“ (17). Auf dieser Grundlage sollte „eine Revolutionierung der islamischen Gebiete“ (17) und die „intensive Mitwirkung der Türken unter der Fahne des Sultan Chalifa“ erwirkt werden. Nur das Vorgehen der mit Deutschland verbündeten Türkei „gegen die russisch-islamischen Gebiete und Ägypten sowie die Initiierung von ‚lodernde[n] Aufständen‘ in Indien“ konnten erfolgreich sein. „Gleiches galt für die französischen Gebiete zwischen Tunesien und Marokko“. (18) Hier werden die Weltmachtambitionen Deutschlands deutlich sichtbar. Es gab „Vorstellungen über die Gewinnung einer Landbrücke von der Ukraine aus, um Großbritannien auch in Indien bedrohen zu können und Deutschlands Weltmachtstellung sowie dessen globale Wirtschaftsinteressen [zu] fördern“ (18). Aber nicht nur die Ukraine (heute wieder als Sprungbrett gegen Russland aktuell), sondern auch Afghanistan war das Tor nach Indien. Schon am 30. Juli 1914 forderte Wilhelm II., „dass die Konsuln in der Türkei und in Indien sowie Agenten ‚die ganze Mohammed-Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstand entflammen, denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren‘“. (18f.) Um diese Strategie in die Praxis umzusetzen, wurde eine Expedition im Winter 1914/1915 unter der Leitung des bayerischen Artillerieoffiziers Oskar von Niedermayer und des Kaiserlichen Legationssekretärs Werner Otto von Hentig nach Kabul in Marsch gesetzt (19). Sie sollte den afghanischen König Habibullah dafür gewinnen, auf Seiten Deutschlands gegen die Briten in Indien in einen Krieg zu ziehen. Afghanistan war eine „der ersten Aktionen Berlins zur Revolutionierung des Orients“ (97), hebt Rudolf Mark hervor.
Für die Revolutionierung der islamischen Gebiete wurde gleich mit Beginn des Krieges von der Sektion 3b: Politik im Generalstab unter dem Hauptmann d. R. Rudolf Nadolny eine Nachrichtenstelle für den Orient (NfO) geschaffen (22), die umfangreiche Aktivitäten und Propaganda entfaltete (23-42).
Den deutschen Strategen reichte es nicht aus, dass Afghanistan nur den Briten in Indien den Krieg erklären sollte, sondern es sollte sich auch gegen Russland stellen (46).
Im Weiteren berichtet Rudolf Mark in einem Exkurs über die Deutschen in Mittelasien, über die Zivilbevölkerung in Turkestan, über die Offiziere dort und über Kriegsgefangene (49-97). Der Erkenntnisgewinn ist jedoch gering.
„Das Afghanistan-Unternehmen“ (99) sei dilettantisch ausgeführt worden, meint der Autor, war doch geplant gewesen „die Vertreter und Einrichtungen von Briten und Russen im Reich des Pfauenthrons zu verdrängen, nach Möglichkeit zu beseitigen und ihre Positionen durch Deutsche zu besetzen“ (103). Niedermayer beabsichtigte eine Revolutionierung der afghanischen Stämme, um die Regierung zu einer Zusammenarbeit mit Deutschland zu zwingen. „Daher wurde eine Art Partisanenkrieg gegen gegnerische Einrichtungen geführt, Attentate und Sabotageaktionen unternommen. […] Ziele waren die gegnerischen Konsulate und deren Leiter, die wichtigsten Finanzinstitute wie die russische Banque d’Escompte in Isfahan und die Staatsbank, aber auch der persische Post- und Telegraphendienst“. (103) Heute würde man dies als Akte des Terrorismus einstufen.
Die deutschen Expansionisten im Orient, „die ihre politischen und militärischen Ziele entlang der Achse Konstantinopel – Bagdad – Teheran – Kabul verfolgten“, mussten bereits 1916 zur Kenntnis nehmen, dass ihre Strategie gescheitert war (109). Sie konnten weder die türkische noch die persische und afghanische Regierung für ihre Abenteuer gewinnen. So standen die Deutschen sowohl in Mesopotamien als auch in Persien und Afghanistan als Verlierer da. Darüber hinaus verfolgten ihre angeblichen Verbündeten unterschiedliche Interessen, was in der Politik nichts Neues ist.
In Anbetracht ihrer Misserfolge kehrten die Expeditionsleiter im Mai 1916 von Kabul aus nach Deutschland zurück. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg bestätigte nachträglich, dass die zurückhaltende Einstellung der orientalischen Herrscher gegenüber den vagen Versprechungen Deutschlands und dessen Versuch, ihre Länder im Rahmen der deutschen Expansion zu instrumentalisieren, wohl begründet war.
Rudolf Mark ist in seiner Darstellung sehr detailverliebt. Bei einem guten Lektorat hätte der Text um ein Viertel gekürzt werden können. Wer einen langen Atem hat und viel Geduld, dem ist das Buch trotz aller Kritik zu empfehlen.
Matin Baraki
KP Albaniens 1944
Erwin Lewin, Das II. ZK-Plenum der KP Albaniens 1944 – Versuch einer Wende in der Politik. Dokumentation, Privatdruck, Berlin 2015, 82 S. 10,00 Euro (Bezug: erwinlewin@yahoo.de)
Der Autor hat sich einer Thematik zugewandt, über die hierzulande sonst kaum etwas zu erfahren ist. Das nun zugängliche Archiv und seine Sprachkenntnisse nutzend, hat er sich mit einem zentralen Ereignis in der Geschichte der Kommunistischen Partei Albaniens befasst. Das II. Plenum des Zentralkomitees der albanischen KP fand an der Schwelle des Übergangs vom Partisanenkampf zur Nachkriegspolitik statt, worauf die Partei ungenügend vorbereitet war. In dieser Dokumentation werden die von Nako Spiru, Sejfulla Maleshova und Enver Hoxha gehaltenen Diskussionsbeiträge erstmals in deutscher Übersetzung vorgestellt. Obwohl sich diese Reden über weite Strecken wie eine gegenseitige Abrechnung unter Personen lesen, standen dahinter grundsätzliche Fragen damaliger strategischer und taktischer Ausrichtung der albanischen Kommunisten, die sich an der jugoslawischen KP zu orientieren suchten und von deren Emissären wesentlich beeinflusst waren. Hart waren nicht nur die Sprache, sondern vor allem auch die Methoden der Auseinandersetzung.
Eben dies versucht L. in seiner Einleitung zu verdeutlichen. Er bringt dem Leser die Spezifik dieser jungen, noch gärenden Partei nahe, wertet ihre Rolle in der albanischen Gesellschaft, untersucht ihr Verhältnis zu anderen – nationalistischen oder königstreuen – Kräften des Widerstandes gegen die italienischen und deutschen Okkupanten, ordnet das Handeln der Partei in das Kriegsgeschehen ein. Mit biografischen Daten wird eine Vielzahl damals agierender Personen mit ihrem späteren Schicksal vorgestellt – erschreckend, wie viele dieser Funktionäre später im Regime Hoxha, der auf diesem ZK-Plenum noch Selbstkritik übte, umgebracht oder repressiert worden sind. In den Debatten scheint bereits die nationale Frage – Großalbanien, das Kosova – auf, im Zentrum stand jedoch die Kritik am Sektierertum und die Bündnispolitik der Partei, an der sich die Geister in der Theorie, mehr noch in der Praxis schieden. Wer den Balkan mit seinen ungelösten Problemen verstehen will, sollte diese Schrift zur Kenntnis nehmen.
Günter Benser
Dissidentische DDR-Kritik
Alexander Amberger, Bahro – Harich – Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2014, 332 Seiten, 39,90 Euro
Die Namen der drei Protagonisten waren für viele schon zu DDR-Zeiten ein Begriff. Sie sind – im Unterschied zu manchen anderen inzwischen der Vergessenheit anheim gefallenen Repräsentanten der DDR-Wissenschaft und -Politik – bis heute bekannt geblieben. Denn auch für die „Aufarbeiter der DDR-Geschichte“ gelten sie als wichtig, als Kritiker und „Opfer des Regimes“. Nicht zu unrecht! Denn schließlich haben die drei für ihre Überzeugungen, die zu verbreiten sie sich bemühten, ihre Arbeitsstellen verloren, sind im Gefängnis gewesen, blieben auch nach der Haftentlassung aus dem öffentlichen Leben verbannt bzw. sahen sich veranlasst, die DDR zu verlassen. Dabei kamen sie ursprünglich aus den höheren Funktionsebenen der SED. Sie wollten auch die DDR keineswegs abschaffen, wohl aber gründlich reformieren. Amberger bezeichnet sie, die wesentliche Veränderungen am Realsozialismus einforderten, als marxistische Dissidenten. Obwohl ihre Aktivitäten teilweise zeitlich parallel erfolgten, kam es nicht zu gemeinsamen Aktionen. Sie blieben Einzelkämpfer. Unter den Bedingungen des „demokratischen Zentralismus“ nach dem die SED funktionierte, gab es für sie keine Möglichkeit, ihre Vorstellungen auf legalem Wege zu verbreiten und ihre Forderungen innerhalb des Organisationsrahmens der Partei durchzusetzen. Um den DDR-Sozialismus zu beeinflussen, suchten sie deshalb Wege über die Gegenöffentlichkeit, „notfalls“, wie Amberger schreibt, „auch mittels eines faustischen Paktes mit antikommunistischen Akteuren in der Bundesrepublik“.
Wird in der vorherrschenden Geschichtsschreibung der DDR ihren Kritiken und Aktivitäten auch Raum gewidmet, wird auch gern gezeigt, wie der „Unrechtsstaat DDR“ mit ihnen umging, so interessieren die Vorstellungen der marxistischen Dissidenten vom erstrebenswerten Sozialismus kaum. In diese Lücke stößt Ambergers Publikation. Im Vordergrund stehen die Gesellschaftsutopien der drei Dissidenten als Alternativen zum real existierenden Sozialismus, wie sie vor allem in ihren Buchpublikationen zu finden sind. Es handelt sich um Wolfgang Harichs „Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ‘Club of Rome’“ aus dem Jahre 1975, um Rudolf Bahros Publikation „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ aus dem Jahre 1977 und um Robert Havemanns 1980 erschienenes Buch „Morgen. Industriegesellschaft am Scheideweg“.
Alle drei Bände sind sicher nicht zufällig in der zweiten Hälfte der 70er Jahre erschienen, schreibt Amberger, als in Ost und West deutlich wurde, dass die Nachkriegsordnung, ob realkapitalistisch oder realsozialistisch strukturiert, an ihre Grenzen gekommen war, als erkennbar wurde, dass bei einer Politik des „Weiter so“ in Zukunft die Erfolge ausbleiben, die Probleme sich verschärfen mussten. Die Industriestaaten des Westens erlebten die erste schwerere Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch in der DDR signalisierten nachlassende Wachstumsraten in der Industrie und rückläufige Exportchancen den Beginn der postindustriellen Gesellschaft, wenn auch die herrschenden Politiker und ihre Ideologen noch davon überzeugt waren, dass der Sozialismus fähig sei, sowohl den Produktivitätsabschwung wie auch die nicht mehr zu leugnende weltweite ökologische Krise zu überwinden.
In dieser Situation war es kein Wunder, dass sich die drei marxistischen Dissidenten der zunehmend auch in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Umweltverschmutzung annahmen, ihre Bekämpfung zum gedanklichen Ausgangspunkt ihrer Utopien machten. Der durch den Club of Rome ausgelöste Disput über die Grenzen des Wachstums sowie die auf Wachstum der Wirtschaft und des Verbrauchs ausgerichtete DDR-Wirtschaftspolitik unter Honecker als Erklärungsgrund für das Entstehen der drei Publikationen der Dissidenten behandelt daher Amberger ebenso wie er grundlegende Ausführungen zu Merkmalen und zur Geschichte der politischen Utopie im ersten Kapitel seines Buches macht.
Das zweite, dritte und vierte Kapitel sind jeweils einem der marxistischen Dissidenten und ihren utopistischen Publikationen gewidmet. Die Kapitelgliederung ist einheitlich: Amberger gibt einen knappen, aber für das Verständnis der Publikationen durchaus ausreichenden Überblick über die Persönlichkeit des Autors und über „seine Zeit“. Dann folgen die Vorstellung der von den Dissidenten geübten Kritik an den Fehlentwicklungen der realsozialistischen Gesellschaft und ihre „Aufhebung“ in der publizierten Utopie. Abschließend geht es im jeweiligen Kapitel um die Reaktionen auf das jeweilige – in der DDR als Manuskript konspirativ verbreitete und dann in der Bundesrepublik veröffentlichte – Buch.
Die im Osten Deutschlands Herrschenden erwiesen sich gegenüber den eindringlichen Warnungen, die die drei Bücher beinhalteten, in ihrem päpstlich anmutenden Unfehlbarkeitsanspruch als völlig kritikresistent. Statt die Forderungen der Oppositionellen zu hinterfragen, wurden die von ihnen entwickelten Vorstellungen dem feindlichen Wirken des Westens zugeschrieben. Eine vielleicht verhängnisvolle Fehlentscheidung. Der Leser fragt sich, was geschehen wäre, wenn sich Politbüro und ZK die Anliegen der drei zu Eigen gemacht hätten. Ein Ausflug in die „Counterfactual History“ an dieser Stelle hätte gewiss nicht geschadet.
Im Schlusskapitel werden Havemann, Harich und Bahro miteinander verglichen. „Auch wenn sie meist unabhängig voneinander agierten“, schreibt Amberger „einte sie auf persönlicher Ebene viel“. Alle drei waren sie Marxisten, gerieten mit der SED-Politik in Widerspruch. Alle drei zeigten zu den von ihnen analysierten Fehlentwicklungen Alternativen auf und wollten dazu beitragen, diese Fehlentwicklungen mittels Aufzeigung von Alternativen in Gestalt der Utopie zu korrigieren bzw. zu überwinden. Alle drei übten zunächst Kritik an den dogmatischen Verkrustungen des Realsozialismus und machten erst in den 70er Jahren, angeregt durch den Bericht des Club of Rome, auch die Umweltproblematik zum Gegenstand ihrer kritischen Betrachtungen.
Die drei Autoren unterscheiden sich in ihrer Auffassung von der Rolle des Staates. Havemann schreibt Amberger ein archistisches, d. h. die Rolle zentraler Institutionen betonendes Verständnis des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft zu, während Bahro und Harich eher zum Anarchismus, d. h. zur Lenkung der sozialistischen Gesellschaft „von unten“ tendieren. Daraus abgeleitet entwickelten sie unterschiedliche Auffassungen zur Transformation. Während Bahro von einem lange währenden Prozess mit Fortschritten und Rückschlägen ausgeht und die Intellektuellen für ihn das progressive Subjekt sind, hält Harich am Proletariat als derjenigen Klasse, die den Umbruch vom realen zum wahren Sozialismus bewältigen kann, fest. Beide betonen, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, dass die Transformation „von unten“ vollzogen werden muss. Havemann befürwortet dagegen eine Transformation ausgehend und geleitet „von oben“. Seine Demokratiekonzeption wurde folgerichtig von Harich energisch kritisiert.
Ungeachtet ihrer im Detail differierenden Auffassungen über die zukünftige Gesellschaft und den Weg zu ihr ist allen drei gemeinsam, dass ihre Schriften heute kaum noch rezipiert werden. Das haben sie nicht verdient, meint Amberger. Zwar sind ihre Ratschläge für eine Transformation des Realsozialismus in eine aufgeschlossene und umweltfreundliche Gesellschaft historisch hinfällig, als Beitrag zur Geschichte des politischen Denkens bis heute aber sicher lesenswert. Als erstaunlich aktuell erweisen sich hingegen bei Bahro, Harich und Havemann jene Passagen in ihren Büchern, die dem Widerspruch zwischen kapitalistischer, wachstumsgeleiteter Industriegesellschaft und den Grenzen des Wachstums gewidmet sind. An dieser Stelle erweist sich wieder einmal: Befriedigende Antworten der sich wirtschaftspolitisch zunehmend neoliberal ausrichtenden Staaten und Gesellschaften auf das Anliegen des Club of Rome sind bis heute ausgeblieben.
Die weiterhin aktuellen Seiten des Denkens der drei marxistischen Dissidenten herausgearbeitet zu haben ist nach der sehr gründlichen Analyse ihrer Visionen im Rahmen ihrer Zeit ein zweites Verdienst von Ambergers Publikation. Insgesamt ist das lesenswerte Buch als Beitrag zum Bewahren der Leistungen der marxistischen DDR-Opposition zu werten, zeigt wie oppositionelles Denken in der DDR entstand und wie schwer es sich unter realsozialistischen Bedingungen artikulieren konnte, aber auch welche Anregungen von ihm bis heute ausgehen.
Jörg Roesler
Ein tragfähiges Konzept
Gretchen Binus/Beate Landefeld/ Andreas Wehr, Staatsmonopolistischer Kapitalismus. Basiswissen, PapyRossa Verlag, Köln 2014, 127 S., 9,90 Euro
Xavier Bettel, Nachfolger des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker als Premierminister Luxemburgs, war empört: Nachdem die Regierung Luxemburgs durch Veröffentlichungen von ‘LuxLeaks’ über Absprachen zwischen transnationalen Konzernen, internationalen Wirtschaftsberatungskanzleien und der Regierung unter Führung Junckers, die den Multis eine Steuerlast nahe Null bescherten, in die Kritik geraten war, verteidigte er diese Praktiken mit dem Hinweis auf deren Legalität: „Falls ich mich nicht irre praktizieren mehr als zwanzig Länder der Europäischen Union selbst das tax ruling … denen wirft man nichts vor?“ Die Redaktion von „Le Monde“, mit der dieses Interview geführt wurde, fügt in Klammern ein: „In Wirklichkeit tun nur die Niederlande und Irland auf eine systematische Weise das, was Multinationalen erlaubt, eine Nullbesteuerung zu erreichen.“ (Le Monde, 9.12.2014) Ob ‚tax ruling’ von allen Ländern praktiziert wird, ob systematisch oder nur von Fall zu Fall, soll hier nicht untersucht werden – Fakt ist, dass Regierungen sich mit den Führungen großer Konzerne und Beratungsunternehmen zusammensetzen und rechtliche Konstruktionen aushecken, um die Gesamtsteuerlast zu minimieren.
Dies wird hier erwähnt, weil die Steuerpolitik eines der vielen Felder ist, auf denen es heute zu einer „Verflechtung staatlicher, zivilgesellschaftlicher und monopolistischer Organisationsformen zur Realisierung von Profitstrategien“ kommt (24). „Damit wird die klassische Trennung von Ökonomie und Politik durchbrochen …“ (23). So beschreibt das Buch den Mechanismus des Staatsmonopolistischen Kapitalismus (SMK), und man wundert sich, warum ein so treffendes Konzept heute nicht nur keine Rolle mehr spielt, sondern von vielen Linken vehement abgelehnt wird. Wer mehr darüber wissen will, dem wird mit dem vorliegenden Büchlein geholfen. In vier, qualitativ unterschiedlichen, Kapiteln werden Entstehung (I) und Geschichte des Konzepts (II) und seine Aktualität (III) behandelt; in Teil IV wird auf mit dem SMK-Konzept verbundene linke politische Strategien eingegangen.
Abschnitt I behandelt die Verbindungslinien der Theorie des SMK zur Monopoltheorie, zum leninschen Imperialismusbegriff und zum Konzept der Allgemeinen Krise des Kapitalismus. Hier liegt auch eine der Gründe dafür, dass der SMK-Ansatz heute vielfach abgelehnt wird: Der SMK wurde nicht als Entwicklungsetappe des Kapitalismus, sondern als dessen Niedergangserscheinung betrachtet und mit der Existenz der sozialistischen Länder als Ausdruck der Überlebtheit des Kapitalismus verknüpft (17/18). Dadurch geriet ein wichtiger Aspekt des SMK in den Hintergrund, nämlich die in ihm zum Ausdruck kommende „Anpassungsfähigkeit des kapitalistischen Systems und seiner Mechanismen“ (34). Tatsächlich gab die überraschende Dynamik des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg Anstöße zur Entwicklung der Theorie des SMK – was nichts daran änderte, dass weiterhin von einer finalen Systemkrise des Kapitalismus gesprochen wurde. Expliziter noch als das vorliegende Buch wies der kürzlich verstorbene Heinz Petrak, einer der wichtigsten Theoretiker des SMK, in einem Vortrag auf diesen Widerspruch hin: „Da jedoch die These von der ‚allgemeinen Krise des Kapitalismus’ nicht aufgegeben wurde, war der Blick für das richtige Verstehen der fortbestehenden Entwicklungspotentiale des Kapitalismus verbaut.“ (Heinz Petrak, Z 100, Dezember 2014, 57) Diesen Widerspruch schildert auch das vorliegende Buch; es erkennt die Ursachen für die Unbeliebtheit des SMK-Ansatzes vor allem in Entwicklungen, die mit der Niederlage des Sozialismus verbunden sind. Das ist sicher nicht falsch – man muss sich vor Augen halten, dass in der offiziellen Darstellung SMK und Sozialistische Länder immer eng verknüpft wurden. Da kann es kaum überraschen, dass der Zusammenbruch des Sozialistischen Lagers auch einen theoretischen Ansatz obsolet machte, der sich (ohne Notwendigkeit) stark auf dieses bezog.
Dies hat Haltungen begünstigt, die das Kind mit dem Bade ausschütten: Denn der Bezug des SMK-Konzepts auf die ‚Allgemeine Krise’ und den realen Sozialismus ist zwar nicht zu leugnen, es wurden aber von marxistischen Forschern sowohl aus sozialistischen wie aus kapitalistischen Ländern wichtige Analysen des modernen Kapitalismus vorgelegt, die noch heute lesenswert sind. Der zweite Abschnitt des Buchs schildert die wichtigsten Arbeiten, die zeigen, wie fruchtbar der SMK-Ansatz gewesen ist. Daher ist den Autoren uneingeschränkt zuzustimmen, wenn sie betonen: „Nichtsdestotrotz bleibt es das Verdienst der SMK-Konzeption, die Verflechtung von Ökonomie und Politik durch die Interaktion von Monopolen und Staat als notwendigen kapitalistischen Ausdruck der Vergesellschaftung und Kern des heutigen kapitalistischen Regulierungsmechanismus definiert zu haben.“ (50) Entkleidet man das Konzept seines letzten Endes apologetischen Bezugs auf die These, der Kapitalismus sei mit der Entstehung des sozialistischen Lagers in seine Endphase eingetreten, so finden sich zahlreiche Gemeinsamkeiten z.B. mit der Regulationstheorie.
Die inhaltliche Aktualität des SMK-Ansatzes wird im dritten Abschnitt gezeigt, in dem auf neue Erscheinungen des Kapitalismus eingegangen wird: die Herausbildung des Finanzmarktkapitalismus, globale Produktionsketten, die Internationalisierung der Konkurrenz, die Entstehung neuer globaler Kräftekonstellationen. Einige interessante Passagen behandeln die Rolle der EU im Verhältnis zu den Nationalstaaten, wobei der Autor auf der weiterhin wichtigen Rolle der Nationalstaaten besteht: „Die EU bleibt durch die imperialistische Konkurrenz ihrer Mitgliedsstaaten strukturiert.“ (95) Damit wird ein in der alten SMK-Diskussion umstrittenes Thema berührt, nämlich das Verhältnis zwischen Nationalstaaten und Globalisierung im Regulierungsdiskurs.
Gegenüber diesen drei interessanten Abschnitten fällt Teil IV stark ab, in dem es eigentlich um den Zusammenhang zwischen SMK-Theorie und Strategiediskussionen in der Arbeiterbewegung und der Linken gehen sollte. Auf den in den ersten Teilen problematisierten Zusammenhang zwischen SMK-Theorie, Allgemeiner Krise und der Perspektive des realen Sozialismus, der für die Strategiediskussion der sozialistischen Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern von großer Relevanz war (positiv wie negativ), geht der Abschnitt nicht ein. Stattdessen liefert er ein Potpourri von Themen, vom Selbstbestimmungsrecht der Völker über die portugiesische Nelkenrevolution bis zur aktuellen Linksentwicklung in Lateinamerika. Der Bezug dieser Ereignisse zum SMK-Konzept bleibt unklar. Wichtiger scheint der Autorin dieses Abschnitts, ihren alten und neuen Inner-Linken Gegnern wie „Gorbatschowisten“ (108) und der Erneuererbewegung der DKP der 1980er Jahre ans Schienbein zu treten. Einem im Kontext des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF) entstandenen Text „Reformalternative“ (das IMSF hatte wichtige Beiträge zur Entwicklung der SMK-Theorie geleistet [40]), der in der DKP-Diskussion der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine Rolle spielte, unterstellt sie, ohne weitergehende Orientierung auf Einschränkung der Macht des Großkapitals allein auf die „Durchsetzung einer progressiven, binnenorientierten und ökologisch-sozialeren Variante des staatsmonopolistischen Kapitalismus“ abgezielt zu haben (108)1. Der manipulative Gipfel ist erreicht, wenn unter Verwendung von Zitaten aus einem Buch von Heinz Jung, Mitautor der „Reformalternative“ und Leiter des IMSF, der Eindruck erweckt wird, dieser habe sich später davon distanziert. Tatsächlich resümiert Heinz Jung an der zitierten Stelle: „Unter diesen Bedingungen (der weiteren Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie, JG) bliebe die Reformalternative für die Linke aktuell. Sie müßte aber stärker durch antikapitalistische Kritik fundiert werden.“ Ähnlich argumentierte auch der andere Autor der „Reformalternative“, Jörg Huffschmid, in einem Beitrag von 1995, der zwar im Literaturverzeichnis auftaucht, auf den die Autorin aber nicht eingeht. Dieter Kleins Transformationsvorstellungen mögen Fragen aufwerfen, es ist ihm aber kaum vorzuwerfen: „Dem Krisenmanagement konkurrierender Privatmonopole und mit ihnen verflochtener kapitalistischer Staaten scheint Klein hingegen zu vertrauen.“ (112) Derartige Polemiken der Vergangenheit bzw. Denunziationen haben m. E. in einem wissenschaftlichen Basistext nichts zu suchen.
Etwas unübersichtlich ist das Literaturverzeichnis: Die Unterscheidungen zwischen Gesamtdarstellungen, Klassikern, Studien, Zeitschriftenartikeln und Zeitungsartikeln erschwert das Finden der Quellen, viele Arbeiten werden unter „Autorenkollektiv“ aufgeführt, was die Literatursuche ebenfalls erschwert. Vielleicht wäre es im Kontext eines solchen Einführungstextes sinnvoll, einige zentrale Arbeiten ‚zum Weiterlesen’ zu empfehlen. Im Inhaltsverzeichnis werden die Autorinnen und Autoren der einzelnen Abschnitte genannt, eine Gesamtredaktion scheint nicht stattgefunden zu haben. Diese hätte möglicherweise die im vierten Abschnitt enthaltenen Inkonsistenzen und polemischen Ausrutscher verhindern können.
Diese Einschränkungen ändern aber nichts daran, dass das Bändchen einen guten, nüchternen und kritischen Überblick über Stärken und Schwächen des SMK-Ansatzes bietet. Wer sich heute zum SMK-Konzept äußern will, der kann daran nicht vorbeigehen. Im zweiten Abschnitt wird die brisante Frage gestellt: „Sollte heute auf die SMK-Theorie zurückgegriffen werden?“ (65) Die Autorin des Abschnitts gibt hierauf (klugerweise) keine eindeutige Antwort, wobei sie hervorhebt, dass diese nach wie vor wichtige Ansätze zum Verständnis des heutigen Kapitalismus und seiner Funktionsweise bietet. Das ist ganz sicher richtig, und manchmal wundert man sich, wie linke bzw. am Marxismus orientierte Autoren gleichzeitig die enge Verbindung von Politik und Ökonomie im modernen Kapitalismus herausarbeiten können und andererseits – wenn sie sie überhaupt erwähnen – die SMK-Theorie mit ein paar Halbsätzen als erledigt abhaken. Das ist einerseits bedauerlich, weil damit wichtige Erkenntnisse verloren gehen bzw. das ‚Rad zum zweiten Mal erfunden wird’; andererseits ist es verständlich, weil viele der auch heute noch lesenswerten Arbeiten oft nur durch die Brille einer gescheiterten politischen Strategie betrachtet werden.
Jörg Goldberg
Kapitalkonzentration
Jens Berger, Wem gehört Deutschland? Die wahren Machthaber und das Märchen vom Volksvermögen Westend Verlag, Frankfurt 2014, 224 S., 17,99 Euro
Thomas Pikettys Bestseller, dessen Auflage mittlerweile die 1,5 Millionen-Marge überschritten hat, endet mit dem Satz: „Von den Zahlen nichts wissen zu wollen, dient selten der Sache der Ärmsten.“ Wer in den Welten des Reichtums operiert weiß dagegen, dass diese ohne umfänglichste Zahlenwerke zu durchdringen unmöglich ist und es darauf ankommt, das statistische Material auf die eigenen Interessen zuzuschneiden. Piketty hat mit seinen historischen Datenreihen den Blick auf diese Welt verändert: Die Maschinerie des Kapitalismus treibt das Wachstum der ökonomischen Ungleichheit der Einkommen und Vermögen immer neu an und vertieft sie auf lange Sicht. Michael Hartmann zeichnet seit Jahren kritisch die Sozialprofile der deutschen Eliten nach und Hans-Jürgen Krysmanski hat seit Jahrzehnten eine marxistische politische Soziologie und Machtstrukturforschung der globalen 0,1 Prozent entfaltet. Zu den Schlüsseltexten dieser drei Autoren – die mit einer sich neuerdings recht ängstlich ausbreitenden „Reichtumsforschung“ über Vermögende, Wohlhabende oder Philantropie nichts zu tun haben – hat jetzt Jens Berger mit seinem „Wem gehört Deutschland“ einen weiteren Text hinzugefügt.
Sein Buch liefert eine Rundreise durch die einschlägigen Big Data des deutschen Richistan, die glänzend Kompilation und didaktische Präsentation der Daten verbindet. Wie wird eigentlich das vielfach vermerkte Beschweigen des Reichtums bewerkstelligt? Wie kommt Reichtum in die Welt? Was ist Vermögen? Warum sind wir auf lange Sicht nicht nur tot, sondern auch ärmer? Seit wann gibt es Superreiche und wieviele? Warum spielen Supermanager und Erbschaften eine immer größere Rolle im Triebwerk der großen Ungleichheitsmaschine? Wie werden Immobilien und Betriebsvermögen verteilt? Wer ist BlackRock? Welche Rolle spielt die Politik im Machtspiel der Umverteilung? Und wem gehört Deutschland?
Zum Glück klingen die Fragen, die Berger stellt, populär und seine verständlichen, also nachvollziehbaren Antworten sind solide unterfüttert. Am Ende skizziert er detailliert Konturen eines eingreifenden verteilungspolitischen Konzepts. Sieht man von einigen wenigen Ausflügen ab, verzichtet er auf eine umfangreichere historische Skizze. Ihn interessieren Reichtumsverhältnisse als spezielle Form gesellschaftlicher Beziehungen und die Frage, wie es um ihre Subjekte bestellt ist. Wie allerdings die Eigentums-, Macht- und Ungleichheitsbeziehungen zwischen diesen Subjekten aussehen, wie sie sich vergesellschaften, welchen Habitus, welche ideologische Formen und welche gemeinsamen Kulturen sie ausbilden und in welche Richtungen dies alles weist, bleibt offen. So entsteht immer wieder das Bild eines fragmentierten Reichtums, dem Subjektivität und Handlungsvermögen zuzuschreiben nicht die Sache des Autors ist. Eine Verknüpfung der politischen Ökonomie des Reichtums mit jener des Kapitals und der Klassenanalyse wäre ein nächster Schritt.
Rainer Rilling
Ökonomische Theorie und Krise
Ulrich Busch/Günter Krause (Hg.), Theorieentwicklung im Kontext der Krise. Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Bd. 35, trafo-Wissenschaftsverlag, Berlin 2014, 268 S., zahlr. Tab. u. Abb., 36,80 Euro
Spätestens im Jahr 2008 dämmerte es vielen, dass die Wirtschaftswissenschaften ein Problem haben. Die Wirtschaftskrise hat die meisten Expertinnen und Experten kalt erwischt. Niemand hatte sie in Form und Ausmaß kommen sehen, kaum jemand konnte sie einordnen oder Lösungsvorschläge machen. Die Krise habe nicht nur „den Finanzmarktkapitalismus als marktradikales Modell wirtschaftlicher Reproduktion und Dynamik diskreditiert; sie hat auch die theoretischen Grundlagen der finanzkapitalistischen Akkumulation und Regulation, der liberalen demokratischen Verfassung und der sozialstaatlichen Ordnung nachdrücklich in Frage gestellt“, schreiben Ulrich Busch und Günter Krause (7). Der von ihnen herausgegebene Sammelband befasst sich mit der Frage, welche Auswirkungen dies auf die Wissenschaften hat. Vor allem der Überblick hierüber in den ersten Aufsätzen ist spannend. Mehr Bezüge zu aktuellen Diskussionen, wie sie etwa in verschiedenen Bewegungen mit Bezug zur Krise, aber auch an Universitäten geführt werden, hätten dem Band nicht geschadet.
Im ersten Kapitel stellt Günter Krause die aus seiner Sicht wichtigsten Entwicklungen bis 2013 vor. Drei verschiedene Gruppen gebe es, grob eingeteilt, unter den Ökonomen: Die einen beharren weiterhin auf denselben Modellen und Theorien und erklären die Krise notfalls dadurch, dass diese nicht konsequent genug angewendet worden seien. Die nächsten passen ihre Theorien an wie zum Beispiel Richard Posner, vormals Vertreter der neoklassischen Chicago School of Economics, der seine Theorien im Zuge der Krise durchdacht und anschließend einen Aufsatz veröffentlicht hat, der seine neue Zuneigung zum Keynesianismus erklärt (20). Die letzte Gruppe bemühe sich darum, die Wirtschaftswissenschaften zu erneuern. Krause arbeitet dazu acht bemerkenswerte Phänomene heraus. Erstens beginne sich „ein komplexeres, breiter angelegtes Wissenschafts – bzw. Theorieverständnis herauszukristallisieren, das Grenzen und Defizite des tradierten, von der neoklassischen Standardökonomik geprägten Ansatzes mit seinem imperialen Anspruch (Stichwort: Ökonomik als ‚Königin der Sozialwissenschaften’) zu überwinden sucht“ (22). Dies geschehe unter anderem durch eine Pluralisierung von Ansätzen und eine ehrlich gemeinte Öffnung zu anderen Disziplinen. Auch die fortschreitende Mathematisierung des Fachs werde mittlerweile hinterfragt. Die Anwendung mathematischer Modelle habe zunehmend als Qualitätsmerkmal und Ausweis von Wissenschaftlichkeit gegolten – auch, wenn die Modelle kaum etwas mit der Realität zu tun hatten und zudem den Eindruck vermittelten, dass Märkte immer und überall funktionieren. Zweitens seien in Kernbereichen der Theorie neue Akzente erkennbar, etwa in der Geldtheorie und Markttheorie. Die bislang hegemoniale Theorie effizienter Märkte werde zum Beispiel mit der von Hyman Minsky auf post-keynesianischer Grundlage entwickelten Hypothese finanzieller Instabilität konfrontiert (25). Drittens sei eine Hinwendung zur wissenschaftlichen Analyse und Verarbeitung der Wirklichkeit erkennbar, um die Kluft zwischen der Realität und den hochformalisierten Modellen der Ökonomen zu schließen. Viertens habe ein kritisches Hinterfragen und teils eine Ablösung von ehernen Kategorien, Begriffen und Modellen begonnen. Das „im Kern inhumane Modell des homo oeconomicus“ werde zunehmend infrage gestellt, aber auch die volkswirtschaftlichen Kategorien von BIP und Wachstum verändern sich (25). Fünftens werde der reale Mensch anders betrachtet, der erwiesenermaßen nicht nur rational agiert. Sechstens gebe es Bemühungen, das Theoriegebäude der modernen Makroökonomie zu erneuern – ein Bereich, der sowohl große Auswirkungen haben kann, wenn etwa Zentralbanken und andere Akteure mit falschen oder einseitigen Modellen arbeiten, und in dem zudem die Möglichkeit einer systemischen Krise völlig aus dem Blick geraten war. Siebtens haben sich neue Teildisziplinen und Forschungszweige herausgebildet, etwa die Ökonomik der Gemeinschaftsgüter und die Postwachstumsökonomie. Zuletzt wüchsen achtens die Anstrengungen zu einer stärkeren inhaltlichen und methodischen Öffnung und Erweiterung der Wirtschaftstheorie, um Erkenntnisse aus anderen Fachbereichen einzubeziehen (wobei nicht ganz klar wird, worin der wesentliche Unterschied zum Punkt fünf besteht).Die Frage nach der Perspektive der Erneuerungsversuche und deren nachhaltiger Wirkung lasse sich „noch nicht eindeutig beantworten“ (30). Es wird vor allem auf die jüngeren Wissenschaftler und Studierenden gesetzt, die nicht seit Jahrzehnten dasselbe lehren. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Optimismus gerechtfertigt ist. Denn wer nach 1980 geboren wurde, hat erst recht einseitig gelernt, und der Anpassungsdruck in der zunehmend von Verwertungslogik geprägten Bildungslandschaft ist hoch. Es gibt aber Lichtblicke wie mehrere offene Briefe, in denen sich Studierende und Lehrende für eine plurale Ökonomie aussprechen.
Christa Luft setzt sich in ihrem sehr lesenswerten Text ebenfalls mit neoklassischen Dogmen auseinander und erkundet, welche Chance für gesamtwirtschaftliches Denken besteht. Sie hinterfragt etwa die Annahme, dass wirtschaftliches Handeln aus individuellem Nutzenkalkül abgeleitet werden kann. „Die häufige Gegenläufigkeit von einzelwirtschaftlichem Gewinnstreben und gesamtwirtschaftlichem Erfolg in der kapitalistischen Gesellschaft ließe sich mannigfaltig nachweisen“, schreibt sie und führt dies am Beispiel dauerhafter Außenhandelsungleichgewichte und anhaltenden Leistungsbilanzüberschüssen aus (47ff). Exporterfolge seien keinesfalls schlecht, es komme aber darauf an, unter welchen Bedingungen sie errungen werden: „Aus makroökonomischer Sicht stünde an zu ermitteln, welcher Aufwand an öffentlichen Geldern in den von privaten Unternehmen erzielten Gewinnen steckt. Und in den Hörsälen beginnend, wäre gezielt zu demonstrieren, zu welch deformierenden gesamtwirtschaftlichen Wirkungen eine einzelwirtschaftlich renditegetriebene Exportstrategie führen kann“ (56). Gegenvorschläge würden zwar „gern als Rückkehr zur Planwirtschaft diffamiert“, insgesamt biete die derzeitige Diskussion in der Ökonomie aber durchaus Grund zur Hoffnung: „Die Ökonomik ist im siebenten Jahr des aktuellen Krisenzyklus weniger denn zuvor ein monolithischer Block...ein neues Paradigma zeichnet sich noch nicht klar ab. Für Ideenabsolutismus wird künftig vermutlich weniger, für Heterodoxie mehr Raum sein. Sicher aber scheint, dass die politische Ökonomie oder das Politische in der Ökonomie zurück ins Spiel kommt“ (56). Weniger optimistisch ist das Fazit von Arne Heise, der sich insbesondere mit dem Einfluss der kritischen US-amerikanischen Forscher Joseph Stiglitz und Paul Krugman beschäftigt. Deren Einfluss ist seiner Analyse nach jedoch nicht groß genug, um einen umfassenden Wandel in den Wirtschaftswissenschaften herbeizuführen, zumal beide Autoren selbst heterodoxen Ansätzen gegenüber ignorant seien (79). Sollten sich die Rahmenbedingungen nicht ändern, sieht er sogar den Fortbestand der heterodoxen Ökonomik über 2020 hinaus gefährdet (79).
Nach der Bestandsaufnahme und Diskussion der Reflektion der Krise in der Wissenschaft wäre es interessant, mehr über aktuelle theoretische Gegenentwürfe zum im Buch kritisierten Mainstream zu lesen und die Handlungsspielräume für kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auszuloten. Doch hier kommt der Sammelband leider etwas ins Stocken. Die Texte sind für sich lesenswert, geben aber wenig Aufschluss darüber, welche Chancen und Probleme es für Theorieentwicklung im Kontext der Krise gibt. Ein Aufsatz zu Anwendungen der Marxschen Arbeitswerttheorie auf moderne Volkswirtschaften etwa bietet zwar interessante Einsichten. Trotzdem erscheint das Thema für das Buch als zu speziell; man kann den Eindruck gewinnen, dass hier die Chance für eine breitere Auseinandersetzung mit der Frage verpasst wurde, welche Aktualität Marx‘ Theorien heute haben – ist er doch mit der Krise in etlichen Zeitungen und Büchern wieder aufgetaucht. Lesenswert ist in diesem Zusammenhang der Text von Ulrich Krause, der sich mit der Zukunft der Banken auseinandersetzt. Er argumentiert, dass die Krise zwar zu einem Umdenken etwa bezüglich des Verhältnisses von Finanz – und Realwirtschaft geführt habe, was sich in neuen Regeln wie etwa einer höheren Eigenkapitalausstattung der Banken widerspiegelt. Mittelfristig sieht er aber weder die Zukunft der Banken in Gefahr, noch eine Entwicklung hin zu dezentralen, kommunal verankerten oder gemeinwohlorientierten Banken, sondern eher im Gegenteil (221).
Den gesellschaftspolitischen Alternativen und ihren Akteuren bleiben am Ende knapp 25 Seiten, auf denen Stefan Bollinger eine sehr politische, aber wenig optimistische Einschätzung gibt. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem „Umdrehen“ der Sozialdemokratie zehn Jahre später sieht er die Gesellschaft vom Neoliberalismus überwältigt und einen konservativen hegemonialen Machtblock zementiert (259), dem emanzipatorische Kräfte bisher nichts ausreichendes entgegensetzen können. Deren Schwäche sei „die fehlende Radikalität ihrer Forderungen und die Überzeugungsschwäche ihrer Ideen und ihres Personals“ (265). Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommt ihm zufolge eine Rolle zu, denn diese hätten sich zu lange mit Theorien aufgehalten, die „klare Frontstellungen von Ausbeutung, Profitmacherei, Macht und Manipulation“ verschwimmen ließen.: „Ohne Intellektuelle, ohne Bereitschaft zu Theorie- und Ideologieproduktion, auch ohne organische Intellektuelle wird so die Chance für eine Bändigung geschweige denn Überwindung ausbleiben“ (265). Es ist ein Ende, das nicht an scharfer Kritik spart, aber gerade dadurch Diskussionen eröffnen kann.
Sarah Nagel
Union Busting: Krieg gegen die Gewerkschaften
Werner Rügemer/Elmar Wigand, Die Fertigmacher. Arbeitsunrecht und professionelle Gewerkschaftsbekämpfung, PapyRossa Verlag, Köln 2014, 238 S., 14,90 Euro
Um die unbedingte und unbeschränkte Handlungsfreiheit des US-Kapitals gegen die Arbeiter, gegen Konkurrenten auf den Märkten und auch gegen aufmüpfige oder mißliebige Staaten weltweit durchzusetzen, werden unter dem verbalen Schirm einer „Globalisierung“ verschiedene Wege gleichzeitig beschritten. Einer der gegenwärtig bevorzugten ist der Abschluß von sog. Freihandelsabkommen. Weniger bekannt, wenn auch immer häufiger erfahren, ist ein anderer Exportartikel der US-Kapitalisten, der auf heftige Gegenliebe ihrer einheimischen Klassengenossen trifft, das sog. „union busting“, sprich die generalstabsmäßig betriebene Verdrängung, Bekämpfung und Zerstörung der Arbeitergewerkschaften und der Betriebsräte. „Busting“ heißt auf deutsch kaputtmachen.
Eine relativ frühe Unternehmensform dieser Branche in den USA war im 19. und 20. Jahrhundert als Detektei Pinkerton bekannt und seinerzeit noch nicht als Exportartikel gefragt. Die Pinkertons wurden von Unternehmen angeheuert, um Arbeiterstreiks mit brutaler Gewalt zu brechen. Sie traten bei Bedarf in Bataillonsstärke und mit Maschinenpistolen gegen streikende Arbeiter an. Als die Pinkerton Agency in den USA gegen die militanten Gewerkschafter der Industrial Workers of the World in Dienst genommen wurde, galten diese Formen der Klassenauseinandersetzung Europäern noch als anrüchig. Das hat sich sehr geändert.
In der Gegenwart werden Formen und Instrumentarien des union busting „kultiviert“: Seine Agenten treten in Nadelstreifen auf, sind Rechtsanwälte, Psychologen, Coachs oder Hochschulabsolventen der Disziplin „human resources“. Sie nennen ihr Geschäft statt „union busting“ lieber „union avoidance“ (Gewerkschaftsvermeidung). Die amerikanischen Gewerkschaften haben es seit langem mit dieser Herausforderung zu tun, die deutschen beginnen gerade, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Rügemer und Wigand nehmen in ihrem neuen Buch das deutsche Feld des union busting unter die Lupe. Wenn Unternehmen wie die Steakhauskette Maredo weder Gewerkschaften noch Betriebsräte dulden wollen und zu deren Verhinderung rabiate Anwaltskanzleien, Wirtschaftsdetekteien und andere „Dienstleister“ mieten, um engagierte Gewerkschafter zu terrorisieren und aus ihren Betrieben hinauszumobben, findet ein solcher Skandal manchmal den Weg in die Presse. Während das Medieninteresse schnell erlischt, bleiben die „Fertigmacher“ am Werk. Wie systematisch Unternehmen wie Private-Equity-Fonds (Heuschrecken) das union busting betreiben und welche makabren „Fertigmacher“ sie dabei einsetzen, hat vor Rügemer und Wigand noch kein deutscher Autor dargestellt. Alle wie Heuschrecken verfahrenden Investoren, nicht nur jene aus den USA, wollen die Kosten rigoros senken, und Lohnkosten lassen sich ohne Betriebsrat widerstandsloser einsparen.
Ohne die Hilfstruppen der „Fertigmacher“, so die Autoren, glaubt heute kein größeres deutsches Unternehmen mehr auskommen zu können. Rügemer und Wigand behandeln vor allem drei Gruppen dieser Kettenhunde des Kapitals: Eine erste Gruppe bilden Arbeitsrechtanwälte, auf Medienrecht spezialisierte Kanzleien, Wirtschaftsdetektive, Unternehmensberater, Überwachungsspezialisten, aber auch „christliche Gewerkschaften und „gelbe“ Betriebsräte.
Natürlich gibt es in der Bundesrepublik schon seit langer Zeit Anwaltskanzleien wie Naujoks oder Schreiner&Partner, die öffentlich Betriebsräte als Störfaktoren beschimpfen und privat mittleren Unternehmen ihre Dienste für einen aggressiven Kampf anbieten. Sie wurden manchmal auch in den Medien herausgestellt, besonders krasse Fälle etwa in Gastronomie oder im Einzelhandel. Inzwischen aber beherrschen Großkanzleien das Geschäft der „Fertigmacher“. Im letzten Jahrzehnt haben Wirtschaftskanzleien aus den USA wie Freshfields, Clifford Chance, Hogan Lovells, White & Case, DLA Papers und Squire Patton Boggs in Deutschland Ableger aufgebaut mit bis zu 60 Arbeitsrechtsanwälten in einer Kanzlei. Auch britische Wirtschaftskanzleien bauten in Deutschland arbeitsrechtliche Niederlassungen auf. Den Netzwerken dieser Kanzleien stehen deutsche wie CMS Hasche Sigl oder Gleiss Lutz nicht nach.
Als eine zweite Gruppe der „Fertigmacher“ analysieren die Autoren Vertreter der Unternehmerlobby; dazu gehören Unternehmensstiftungen mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht und auch von Unternehmen oder ihren Stiftungen finanzierte Universitätsinstitute mit Professoren für Arbeitsrecht. Solche Stiftungen und Institute bilden Arbeitsrichter und Arbeitsrechtanwälte aus und schulen sie. Auch die großen Unternehmerverbände BDI, BDA, Gesamtmetall und andere betreiben hierzu direkte Lobbyarbeit. In den Vordergrund rückten auch Unternehmensverbände, die vorwiegend prekäre Arbeitsverhältnisse installieren wie Leiharbeit, Werkvertragsarbeit, Zustelldienste u. a.
Auch wenn die Vertreter der dritten Gruppe der „Fertigmacher“ vordergründig kaum den rabiaten Pinkerton-Nachfolgern gleichen, so sind sie doch die gefährlichsten, weil wirksamsten Feinde gewerkschaftlicher Mitbestimmung und betrieblicher Demokratie. Die Verfasser stehen nicht an, Staaten und Regierungen zur dritten Gruppe der „Fertigmacher“ zu rechnen, verändern doch vor allem sie die rechtlichen Rahmenbedingungen, so durch Finanzmarktreformen und deren Auswirkungen auf Betriebsübernahmen durch Investoren. In diese Gruppe gehören auch die Agenturen für Arbeit und Jobcenter, sie sind die größten Zulieferer für die Leiharbeitsbranche, sie disziplinieren die Reservearmee der Arbeitslosen. Die Europäische Kommission setzt gemeinsam mit dem IWF und der EZB Tarifverträge außer Kraft und beschränkt die Gewerkschaftsrechte bei ihrer „Sanierung“ von Staatshaushalten.
Die Wahl eines Betriebsrates ist gesetzlich garantiert. Doch in vielen Betrieben, etwa in Reinigungsfirmen, Gastronomieketten oder anderen betriebsratsfreien Unternehmen ist die Gründung einer Vertretung für die Beschäftigten eine sehr riskante Sache geworden. Ihren Initiatoren drohen Strafversetzung, Kündigung, Arbeitslosigkeit. Die Unternehmen lassen es sich viel kosten, einen Betriebsrat zu verhindern oder loszuwerden,. Daher werden die Profis der erstgenannten Gruppe, die bei solchem Bedarf engagiert werden, sehr gut bezahlt. Auch wenn die Honorare üppig sind, sie rentieren sich für die Unternehmen schnell, wenn keine Gegenwehr gegen unbezahlte Überstunden, gegen Lohnkürzungen oder Streichung von Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu erwarten ist.
Rügemer/Wigand zeichnen überaus instruktiv jene Netzwerke aus den drei genannten Gruppen, die professionell Arbeitsunrecht und Gewerkschaftsbekämpfung praktizieren und mit denen jeder Lohnabhängige unverhofft konfrontiert werden kann. Ausführlich widmen sie sich jeweils in einem gesonderten Kapitel den Kanzleien, Detekteien und Stiftungen sowie den gelben Gewerkschaften und Betriebsräten.
Besonders spannend ist das letzte Kapitel des Buches, in dem die Autoren neun „Konfliktporträts“ zeichnen. Sie zeigen konkret und anschaulich das inzwischen große Spektrum von Methoden, mit denen diese Pinkerton-Profis aktive Gewerkschafter und Betriebsräte fertigmachen. Erfolgreich Widerstand und Solidarität dagegen zu leisten, setzt als elementare Bedingung voraus, die zu erwartenden Attacken zu kennen. Unkenntnis über diese Netzwerke und Praktiken macht es den Gewerkschaften schwerer, dem union busting mit Sachkenntnis, Konsequenz und Geduld entgegenzutreten. Das Buch gehört in die Hand eines jeden Gewerkschaftsfunktionärs.
Werner Röhr
Kämpfe um Arbeitszeit – eine unendliche Geschichte
Richard Detje, Sybille Stamm, Florian Wilde (Hrsg.), Kämpfe um Zeit. Bausteine für eine neue (arbeits-)zeit-politische Offensive, Rosa Luxemburg Stiftung Manuskripte Neue Folge H. 10, Berlin 2014, 112 S., http://www.rosalux.de/publication/40807/kaempfe-um-die-zeit.html
2014 war in vielen Gewerkschaftsgliederungen und linken Organisationen ein Jahr der Diskussion um Arbeitszeit und Arbeitszeitverkürzung. Das war insbesondere dem 30 Jahre zurückliegenden Kampf um die 35-Stunden-Woche zu verdanken, an den in zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen erinnert wurde. Manche Veranstaltungen dienten dabei eher dem Schwelgen in Erinnerungen an den letzten großen Arbeitskampf in der BRD, der sogar recht erfolgreich war, denn dem Blick in die Zukunft, auf zukünftige Kämpfe um Arbeitszeit und Arbeitszeitverkürzung. Dabei will ich die Bedeutung auch emotionaler Erinnerungen an erlebte Kämpfe nicht kleinreden.
Eine etwas aus diesem Rahmen fallende Broschüre hat dankenswerterweise die Rosa-Luxemburg-Stiftung Ende 2014 veröffentlicht. Praktiker aus Gewerkschaften, Betriebsräten und Parteien sowie Wissenschaftler bieten einen breiten Überblick über den Stand nicht der Kämpfe (die finden nicht im großen Stil statt), aber der Diskussion um Arbeitszeit. In 14 Beiträgen auf gut 100 Seiten werden verschiedene Aspekte dargestellt. Genannt seien „Arbeitszeitverkürzung – gemeinsame Ziele, verschiedene Zugänge“, „Wandel der Arbeitszeit – Wandel der Zeitwünsche. Empirische Befunde“, „Bestandsaufnahme und Perspektiven gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik“ sowie ein Kapitel zu Grenzen, Bedingungen und Möglichkeiten gesetzlicher und tariflicher „Reregulierung“ von Arbeitszeit.
Ich gebe zu, der Blick über den Tellerrand einer IG Metall und den Großbetrieben der Metall- und Elektroindustrie ist wichtig und an vielen Punkten desillusionierend. Gleichzeitig werden für die verschiedenen Gruppen betrieblicher und betrieblicher Akteure Ansätze für Diskussionen und irgendwann auch aktives Handeln dargestellt, die (mir) nicht immer präsent sind. Die Beschäftigtenbefragung der IG Metall 2013 mit einer Beteiligung von über 500.000 Menschen liefert einen breiten Überblick über Arbeitszeitwünsche und –realität in der M+E-Industrie. Erhebungen in anderen Branchen ergänzen den Blick. Diese Breite ist wichtig, da sich Wunsch und Wirklichkeit nicht nur nach Branche, Geschlecht, Alter unterscheiden, auch die Familiensituation (mit Partner/in, mit Kindern), die Staatsbürgerschaft und die Beschäftigung in eher prekären oder tariflich abgesicherten Verhältnissen sind signifikant.
So ist es nicht wirklich überraschend, dass im Niedriglohnsektor und bei teilzeitbeschäftigten Frauen der Wunsch nach längeren Arbeitszeiten groß ist, während insbesondere qualifizierte Männer in der Industrie schon über eine Arbeitszeitverkürzung auf 40 Stunden froh wären. Dies differenziert darzustellen ist ein Verdienst der Broschüre. Ohne diese Differenzierung könnte mensch schnell auf den Gedanken kommen, die Forderung nach 32 oder 35 Wochenstunden würde die aktuellen Arbeitszeitfragen plakativ greifbar machen. Auch mit dem Zusatz von Lohn- und Personalausgleich ginge die Forderung an der Realität und den Wünschen großer Beschäftigtengruppen vorbei.
Mehrfach wird in den Beiträgen auf die Wahrnehmung der Bedingungen eingegangen, unter denen die Arbeitszeit geleistet wird. Als Stichworte etwa einer Untersuchung unter jungen Beschäftigten im Dienstleistungsbereich werden Zeitdruck, Entgrenzung und Fremdbestimmung genannt. Diese Problemstellungen werden auch bei Ansätzen zu „Guter Arbeit“ und Gesundheitsschutz als Ansätze beschrieben.
Die gesellschaftliche Dimension wird in mehreren Beiträgen skizziert. Es hat natürlich Auswirkungen auf die Belastung durch Arbeitszeit, wie die öffentliche (oder gar privatisierte) Daseinsfürsorge, also Kindereinrichtungen, Gesundheitswesen und Pflegeeinrichtungen, Schulen ausgestattet und gestaltet sind. An diesen Stichworten sind auch die Grenzen tariflicher Arbeitszeitpolitik absehbar, wobei auch mit dem Blick über die Grenzen nach Frankreich oder Großbritannien die dialektische Beziehung zwischen tariflichen und gesetzlichen Regelungen dargestellt wird. Die historische Erinnerung an deutsche Kämpfe um Arbeitszeit seit rund 150 Jahren erfolgt auch mit überraschenden Details, etwa Überlegungen von Robert Bosch aus den 1920er Jahre zum 6-Stunden-Tag.
Zu zwei Aspekten hätte ich mir mehr Argumentation und Details gewünscht: Ist es der erfolgreichen medialen Meinungsbildung des Kapitals geschuldet, dass die Einführung der 35-Stundenwoche von vielen Beschäftigten heute nicht als Erfolg, eher als Ursache der gestiegenen Arbeitsbelastung angesehen wird? Was haben die Gewerkschaften nach 1984 in der Argumentation sowie der Tarif- und Betriebspolitik dazu versäumt und was könnte für die Agitation heute daraus gelernt werden?
Wenn es zutrifft, dass Niedriglohn, prekäre und unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung einem gemeinsamen Wunsch nach – und dann Kampf für – Arbeitszeitverkürzung entgegenstehen, Mindestlöhne und Beschränkung prekärer Beschäftigung orientiert werden,
um die objektiven Voraussetzung für solidarisches Handeln zu verändern?
Mir hat die Broschüre zu einigen wichtigen Erkenntnissen verholfen, auch wenn ich nicht optimistischer dabei geworden bin. Ich halte die Orientierung auf Arbeitszeitverkürzung nach wie vor für richtig und wichtig. Aber ich sehe auch klarer, dass es dazu einer – derzeit nirgends vorhandenen – politischen Strategie bedarf. Für die Diskussion über diese Strategie und mögliche Schritte ist die Broschüre eine gute Hilfe.
Gebhard Hofner
1 Die damaligen Beiträge sind im Heft 14 der Vereins-Mitteilungen unter dem Titel „Der kühnen Bahn nun folgen wir…“ Beiträge zum 130. Jahrestag der Gründung des ADAV, Hrsg. von Fritz Gebauer und Manfred Neuhaus, Leipzig 1993, veröffentlicht.
2 Wolfgang Schröder, Wilhelm Liebknecht. Soldat der Revolution, Parteiführer, Parlamentarier. Ein Fragment. Hrsg. von Renate Dreßler-Schröder und Klaus Kinner, Berlin 2013. Vgl. auch die Besprechung in Z 96, Dezember 2013, S. 183-187 (Anm. d. Red.)
1 Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961.
2 Ingeborg Werner, Die Afghanistanpolitik des deutschen Imperialismus vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Diss. Halle 1964; Johannes Glasneck, Inge Kircheisen, Türkei und Afghanistan. Brennpunkte der Orientpolitik im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1968.
1 Vgl. dagegen Jörg Huffschmid/Heinz Jung, Reformalternative. Ein marxistisches Plädoyer (1988), Reprint Frankfurt/M. 2010, S. 105ff, 152ff.