Im Rückblick erscheinen die letzten vierzig Jahre – markiert durch die Eckpunkte der beiden Krisen 1974 und 2007ff. – als eine Periode weitreichender Umbrüche, durch die sich die Welt gründlich verändert hat. Stichworte sind: Aufstieg des Neoliberalismus, Globalisierung, Digitale Revolution, Zusammenbruch des Realsozialismus. Diese Phase erscheint auch als eine Renaissance des globalen Kapitalismus, als eine „passive Revolution“ des Neoliberalismus.
Haben wir es mit einem „Epochenbruch“ zu tun? Ist die Periode nach 1973, wie Eric Hobsbawm meint, als „Erdrutsch“ zu bezeichnen, oder müssen wir nicht eher von einem „Kompositum von Kontinuitäts- und Diskontinuitätsmomenten“ sprechen? Dieter Boris zeigt, dass es keine allgemeingültigen Kriterien für die Periodisierung von historischen Prozessen gibt, dass sachliche Ebenen und Zeithorizonte unterschieden werden müssen. Erst aus der Gewichtung der verschiedenen Momente heraus plädiert er für die These des „Bruchs“. Für Elmar Altvater sind die 1970er Jahre der entscheidende Einschnitt: Mit dem Ende des Systems von Bretton Woods beginnt der Siegeszug des Finanzmarktkapitalismus. Gleichzeitig kündigte, angestoßen durch den Bericht des ‚Club of Rome’ von 1972, die Bewusstwerdung des Zusammenhangs zwischen Geld- und Kapitalform einerseits und Naturalform andererseits ein „neues Erdzeitalter“ an, das „Kapitalozän“, als „Einheit von kapitalistischer Gesellschaftsformation und … planetarischer Naturalform“. Auch Lucas Zeise wertet die 1970er Jahre als Epochenbruch, wobei er die Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit als Kern des Neoliberalismus in den Mittelpunkt stellt.
Eine andere Sicht vertritt Joachim Bischoff. Der Fordismus habe zu Überproduktion und Finanzialisierung geführt, es sei aber keine „neue hegemoniale Betriebsweise“ im Rahmen des Kapitalismus sichtbar. Die Ausdehnung des Kredits spitze die im Kapitalismus angelegte „Selbstzweckhaftigkeit“ zu, stelle aber keine eigenständige Entwicklungsstufe dar. Eine andere Ebene, das Verhältnis zwischen den altkapitalistischen Ländern (USA, EU, Japan) einerseits und den neukapitalistischen Schwellenländern andererseits untersucht Jörg Goldberg: Für ihn ist die Krise 2007ff ein wahrer Epochenbruch, der die Vorherrschaft des ‚Westens’ beende und neue Formen des Kapitalismus im ‚Süden’ entstehen lasse.
Heinz Petrak weist dagegen auf Momente der Kontinuität hin, die im Konzept des SMK zum Ausdruck kommen. Dieses sei heute wieder aktuell, denn unter kapitalistischen Bedingungen könne der ökologisch notwendige Übergang zu einem intensiven Typ der Reproduktion nur durch staatliche Regulierung erreicht werden. Wie ein Kommentar dazu liest sich die Darstellung und Kritik des vieldiskutierten Buchs von Piketty, dessen Wert Georg Fülberth vor allem im historischen Teil sieht. Als Maßnahme zur Korrektur der dem Kapitalismus immanenten Tendenz zur Verschärfung der Ungleichheit empfiehlt Piketty mehr staatliche Umverteilungspolitik, womit er allerdings auf der Zirkulationsebene bleibt.
Die Auswirkungen von Digitalisierung und Globalisierung auf die zunehmend mit der kapitalistischen Weltwirtschaft verflochtenen sozialistischen Länder untersucht Jörg Roesler; sie waren, so sein Fazit, dieser Konkurrenz nicht gewachsen. Werner Goldschmidt fragt nach den Implikationen der Digitalen Revolution für die Vergesellschaftungsprozesse im heutigen Kapitalismus; realisieren sich mit „Industrie 4.0“ jene Perspektiven, die Marx in den „Grundrissen“ als Heraustreten der Produzenten aus der unmittelbaren Produktion skizziert hatte? Die Dimensionen der globalen Umweltkrise und die Hemmnisse für einen naturverträglichen Umbau der parasitären industriellen Produktionsweise des „Kapitalozäns“ zeichnet Wolfgang Pomrehn nach.
Die Frage nach Kontinuität und Bruch stellt sich auch beim Blick auf die Entwicklung der Sozialstrukturen und Klassenverhältnisse auf gesellschaftlicher wie betrieblicher Ebene. Der Übergang zu einer vorwiegend intensiv erweiterten Reproduktion des Kapitals kann, so André Leisewitz, auch als Ausgangspunkt veränderter Machtbeziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital seit den 1970er Jahren interpretiert werden, die sich in einer Aktivierung der innergesellschaftlichen Konkurrenz und der Expansion des prekären Sektors niederschlagen. In den Geschlechterbeziehungen in Arbeit und Gesellschaft sieht Ursula Schumm-Garling gegenläufige Trends. Die Tendenz zur Geschlechtergleichstellung ist vielfach gebrochen. Pluralisierung der Lebensstile und emanzipatorische Ansprüche von Frauen erfahren mehr gesellschaftliche Akzeptanz, maskulistische, konservative Gegenbewegungen sind unübersehbar. Der Abbau von sozialstaatlichen und kollektivvertraglichen Puffern zwischen Markt und Ware Arbeitskraft gehört zum Kern der neoliberalen Offensive. Dazu gehören, so Steffen Lehndorff, Ausdifferenzierung und Flexibilisierung der Arbeitszeiten und die direkte Konfrontation der Beschäftigten mit dem Druck des Marktes. Wachsende Unsicherheit und zunehmende psychische Beanspruchung der Individuen resultieren gerade aus diesen Umbrüchen (Michael Zander). Sie verlangen nach Gegenmacht.
Im Zentrum der Umbruchperiode 1974-2014 steht, mit Blick auf die internationalen Beziehungen und global-politischen Perspektiven, der Zusammenbruch des realen Sozialismus in Europa und die Auflösung der „bipolaren“ Block-Konstellation. War die Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmt von der Konkurrenz alternativer Gesellschaftssysteme, so die Zeit nach dem Kalten Krieg von neuen Kriegen, einem neuen Imperialismus und dem Versuch der USA, eine „unipolare“ Weltordnung zu behaupten (Werner Ruf). Sie sind dabei konfrontiert mit der Konkurrenz altkapitalistischer (EU) und neukapitalistischer (Russland; China) Rivalen und dem Aufkommen religiös und ethnisch motivierter Gegenbewegungen in der von neoimperialistischen Strafaktionen überzogenen Peripherie. Karin Kulow zeigt dies am Beispiel der Aufstiegsgeschichte des politischen Islamismus. Für den auch von Goldberg als bestimmendes Moment hervorgehobenen Aufstieg des Kapitalismus des Südens steht die Entwicklung Chinas. Helmut Peters rekonstruiert die innergesellschaftlichen Dynamiken der ökonomischen Reformpolitik des Landes, die mittels „Marktwirtschaft“ den Aufbau eines eigenen Sozialismus zu forcieren versucht und dabei kapitalistische Produktionsverhältnisse entfesselt, die diese Perspektive zunehmend in frage stellen.
Was ist von der Linken in den kapitalistischen Zentren geblieben, welche Optionen hat sie? David Salomon und Stefan Schmalz zeichnen die Terrainverschiebungen auf den wichtigsten Kampffeldern, der politischen Öffentlichkeit und der Auseinandersetzung zwischen Lohnarbeit und Kapital in Betrieb und Gesellschaft, nach. Hier dominieren postdemokratische Tendenzen; das in den letzten Jahren konstatierte Comeback der Gewerkschaften ist ambivalent und durch korporatistische Einbindung begrenzt. Die Gesamttendenz linker Perspektiven in der „großen Transformation“ bilanziert Frank Deppe. In den zurückliegenden „Kampfzyklen“ ist es der neoliberalen Konterrevolution gelungen, die klassische Arbeiterbewegung zu marginalisieren. Deppe geht auf beobachtbare Gegentendenzen ein und skizziert die politischen und gesellschaftlichen Widersprüche, die sich für eine Erneuerung der Linken als zentral erweisen könnten. Optionen der Linken in der durch die Umbrüche der letzten vierzig Jahre radikal veränderten Konstellation des heutigen Kapitalismus skizzieren aus durchaus unterschiedlicher Perspektive Michael Brie, Ekkehard Lieberam, Conrad Schuhler und Margarate Tjaden-Steinhauer/Karl Hermann Tjaden.
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Archiv: In einer fast verzweifelten Lage, im Gefängnis des zaristischen Russland, schreibt Rosa Luxemburg 1906 einen flammenden Text, unmittelbar adressiert an das revolutionäre polnische Proletariat: „Taktik der Revolution“. Wir danken Holger Politt für die Möglichkeit, diesen Text erstmals auf deutsch in Z 100 abdrucken zu können, als Vorgriff auf den von ihm herausgegebenen und im nächsten Jahr erscheinenden Band mit bisher unveröffentlichten polnischen Texten der großen Revolutionärin.
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Weitere Beiträge von Thomas Kuczynski und Klaus Müller betreffen Aspekte der Marx-Engels-Forschung; Klaus Steinitz bewertet Erfahrungen der Wirtschaftstheorie und -praxis der DDR mit Blick auf Debatten um eine künftige sozialistische Wirtschaftspolitik.
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Neu in den Redaktionsbeirat von Z eingetreten sind Joachim Becker, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler an der Wirtschaftsuniversität Wien; Klaus Dräger (Köln), ehemaliger Mitarbeiter der Linksfraktion im Europäischen Parlament im Bereich Beschäftigungs- und Sozialpolitik; Regine Meyer (Heidelberg), Sozialwissenschaftlerin mit langjähriger Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit; Klaus Pickshaus, bis vor kurzem Bereichsleiter beim Vorstand der IG Metall (Frankfurt/M.); der Wirtschaftshistoriker und Hochschullehrer Jörg Roesler (Berlin); die Politikwissenschaftlerin und Gewerkschaftssekretärin Conny Weissbach (Berlin). Redaktion und Herausgeber freuen sich über ihre Mitarbeit an „Z“ und erhoffen sich natürlich Impulse für die weitere Arbeit.
Der Schwerpunkt des März-Heftes 2015 (Z 101) ist dem Thema „Literatur und Krise“ gewidmet. Weitere Beiträge betreffen u.a. die politische Linke in Europa und Fragen der internationalen Gewerkschaftsbewegung.