„Z“ wurde 1990 von einer Startrampe aus, an der schon seit Anfang der 1970er Jahre editorisch gebaut worden ist, auf die Bahn und daher in die linken Buchläden katapultiert. Erste Anstöße bekam das pränatale „Z“ von den befreienden Impulsen einer Renaissance kritischer Sozialwissenschaften einschließlich der Marx-Lektüre nach den muffigen Jahrzehnten der Adenauer-Erhard-Ära, dem Wirtschaftswunder oder den „trente glorieuses“ wie in Frankreich die drei ersten Nachkriegsjahrzehnte verhimmelt worden sind. Die zweite Stufe der „Z“-Rakete wurde gezündet, als nach dem „Sieg im Kalten Krieg“ 1990 das sozialistische Lager abgebrochen wurde und die Mauer und einige Denkschablonen fielen. Eine „neue US-amerikanische Weltordnung“ wurde dekretiert, die sich sehr schnell als Unordnung einer langen Kette von Kriegen, Putschen, Krisen, Verletzungen von Menschen- und Bürgerrechten, von Umweltzerstörungen bislang nicht gekannten Ausmaßes herausstellte und intellektuelle Kritik zur moralischen Verpflichtung machte.
In der Rückschau waren die 1970er, zumindest in der damals „westlichen“ Welt, tatsächlich ein revolutionäres Jahrzehnt, dessen Schlagschatten bis in die Gegenwart reichen. Das ist nicht nur wegen der Nachwirkungen der Studenten- und Intellektuellenrevolte, die die Staatsmacht zu autoritären und repressiven Beschneidungen von bürgerlichen Freiheitsrechten provozierte – in Deutschland zum „deutschen Herbst“, dem Berufsverbot und der „Anti-Terror-Gesetzgebung“ – sondern wegen tief greifender Transformationen von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Kultur der Fall. Sie setzten den Rahmen für die weitere Entwicklung bis in die Gegenwart und darüber hinaus auch für die kommenden Jahrzehnte. Wird sich die Entwicklung, die vor 40 Jahren nach dem Einschnitt der 1970er Jahre begann, also weitere vier Jahrzehnte fortsetzen, lässt sich die Entwicklungsbahn beeinflussen, kann man – oder muss man gar – eine andere Richtung einschlagen?
I.
Die kulturellen Veränderungen seit den 1970ern sind vielfach beschrieben worden und mit Namen getauft – von den „68ern“ oder den „Alt-68ern“ und den „bleiernen Jahren“ bis zur Zeit der Europhorie und zur „Generation Golf“ – auch weil sie sich in jeweiligen Bewegungen sichtbar gemacht haben: in der Studenten-, der Jugend-, der Umwelt- und Friedens-, vor allem in der Frauenbewegung. Diese Bewegungen konnten aber nur historisch bedeutsam werden, weil der Untergrund der kapitalistischen Produktionsweise, der in den 1950er und 1960er Jahren nach den Extremereignissen der beiden Weltkriege als unerschütterlich stabil galt, zu beben begann.
War in den 1960er Jahren gerade „das Ende des Konjunkturzyklus“ verkündet worden, machten nun skeptische und kritische Autoren den Anfang vom „Ende der Wirtschaftswunder“ aus – so der Titel eines in den 1970er Jahren viel gelesenen Buches des Ungarn Franz Jánossy[1]. Das Ende der Wirtschaftswunder (im Plural!) überall in Europa, diesseits und jenseits des „Eisernen Vorhangs“, das war auch das Ende der Nachkriegszeit. Die Wachstumsfaktoren hatten ihre Kraft verloren, es ging ab Ende der 1960er Jahre nur noch in gedrosseltem Tempo voran. Das war bereits ein Anzeichen der Rückkehr zur kapitalistischen Normalität des Zyklus von Konjunkturen und Krisen.
Von Fernand Braudel haben wir gelernt, dass es zwar nur eine, also „die“ Geschichte gibt, diese aber von einer vielschichtigen Dynamik beeinflusst wird. Da ist die kurzfristige, manchmal atemlose Ereignisgeschichte, dann haben wir es mit den „Konjunkturen“ und Akkumulationszyklen der mittleren Frist zu tun, und schließlich mit der „longue durée“, die sich über Jahrzehnte und manchmal über die Jahrhunderte erstreckt. Die „longue durée“ ist von den Naturbedingungen, von der Ökologie und Geographie der Gesellschaft beeinflusst, aber auch von den sehr langfristigen Hegemoniezyklen, wie die Weltsystemtheoretiker um Immanuel Wallerstein und Giovanni Arrighi (in der Nachfolge Braudels) gezeigt haben. Linearität gibt es also in der vielschichtigen Geschichte nicht, und daher verbieten sich auch lineare Interpretationen der Geschichte.
Die 1970er Jahre waren ein Knotenpunkt der Entwicklung, der Koinzidenz langfristiger Tendenzen, ökonomischer Akkumulationszyklen und kurzfristiger Ereignisse. In der Interpretation der vielschichtigen Geschichte begegnet uns der seit Karl Marx bekannte, aber häufig verkannte „Doppelcharakter“ der Ware und der Arbeit, die Gleichzeitigkeit von Wert und Gebrauchswert, von Naturalform und Wertform, von konkreter und abstrakter Arbeit. Denn die langfristig wirkenden Naturbedingungen sind in der Geschichte ebenso präsent und für die Zukunft relevant wie die Akkumulationszyklen von Wert, Geld und Kapital mit mittlerer Reichweite und die kurzfristigen Ereignisse. Doch diese Schichten bilden in der kapitalistischen Gesellschaftsformation eine Einheit. Es gibt nur eine Geschichte, ebenso wie der Doppelcharakter die Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Gesellschaftsformation insgesamt, also als Einheit determiniert.
Diese historische Widersprüchlichkeit lässt sich auch in der Entwicklung der vergangenen vier Jahrzehnte finden und sie wird auch in den künftigen Jahrzehnten nicht verloren gehen. Beginnen wir mit der Wertform, mit dem Geld und seiner Dynamik, das ist das von Karl Marx so genannte„reale Gemeinwesen“. Im Jahre 1973 wurden die Wechselkurse freigegeben und die Weltwährung des US-Dollar vom Goldanker gelöst. Das kann man technisch als das „Ende des Bretton-Woods-System“ fixierter Wechselkurse interpretieren und die Dramatik dieses Ereignisses völlig verkennen. Denn in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden anders als in der ersten Hälfte des „extremen 20. Jahrhunderts“ (Eric Hobsbawm) die Wechselkurse aus guten, vor allem von John Maynard Keynes dargelegten Gründen politisch festgelegt, von Regierungen und Zentralbanken. Der Wechselkurs war ein politischer Preis. Nun aber wurde seit 1973 die Kursbildung „den Märkten“ überlassen, d.h. den international operierenden Großbanken und Fonds. Die machten sofort ein großes Geschäft daraus, d.h. sie verlegten sich auf die Devisenspekulation. Nobelpreisträger Milton Friedman versprach „Effizienz- und Wohlstandsgewinne“ durch „freie“ Devisenmärkte. In der wirklichen Welt des nun mehr und mehr von den Devisen- und Finanzmärkten getriebenen Kapitalismus hingegen kam es zu heftigen Kursschwankungen, die jede Planungssicherheit unmöglich machten und zerstörerische Krisen mit sich brachten.
Die Privatisierung des öffentlichen Gutes der Bildung der Wechselkurse löste eine hektische Folge von Ereignissen aus, von volatilen Kursschwankungen mit ihren jeweiligen politischen Folgen und von Währungskrisen, die seit den 1970er Jahren die Weltwirtschaft in ein Chaos versetzten, zumal seit Ende der 1970er Jahre auch die Finanzmärkte liberalisiert und daher auch globalisiert worden sind. Auch die Preisbildung auf den Finanzmärkten, das ist Bildung der Zinsen, wird privaten Akteuren überlassen, den großen Spekulanten wie Buffett und Soros, den international operierenden Kreditinstituten und Fonds, aber auch den Ökonomie-Trotteln wie Merton und Scholes, die für ihre Spekulationsalgorithmen den Nobelpreis bekamen. Die privaten Spekulanten gewinnen Einfluss auf die Bildung der Zinsen und Renditen und damit auf die staatliche Wirtschaftspolitik und auf die Verteilung der Einkommen. Sie sorgen nun dafür, dass die Renditen der Finanzvermögen höher werden als die Wachstumsrate der Wirtschaft.
Eine kolossale Umverteilung zu Gunsten des Finanzkapitals konnte beginnen, wenn i, die Zinsen, größer sind als r, die Wachstumsrate: i > r. Diese Ungleichung wird Thomas Piketty zugeschrieben, dabei ist sie schon vor eineinhalb Jahrzehnten sogar von einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Globalisierung der Weltwirtschaft“ in ihren Konsequenzen für Wachstum und Verteilung erkannt und analysiert worden. Die Größenordnungen sind umfänglich belegt (vgl. den Abschlussbericht der Enquete-Kommission 2002[2]), wenn auch nicht, wie bei Piketty über die Jahrhunderte, so doch über die Zeit seit Mitte des 19. Jahrhunderts und vor allem über die Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg. Die politischen Schlussfolgerungen sind, weil nahe liegend, sehr ähnlich.
II.
Jedenfalls wurde klar, was das arrogante Wort Milton Friedmans von der „neoliberalen Konterrevolution“ bedeutete: nicht nur die Ablösung des Keynes’schen Paradigmas eines zur Beschäftigungssicherung in die Ökonomie aktiv intervenierenden Staates durch einen aggressiven Neoliberalismus in Theorie und wirtschaftspolitischer Praxis. Der Paradigmenwechsel schloss auch die Unterstützung blutiger Diktaturen zur Unterdrückung politischer Freiheiten und sozialer Rechte zu Gunsten wirtschaftlicher Freiheit ein, die nun ohne sozialen und politischen Widerstand zur maximalen Profiterzielung durch neoliberal orientierte Eliten genutzt werden konnte. Er bedeutete darüber hinaus auch die Verdrängung produktiver Arbeit zu Gunsten der Spekulation. Wer arbeitete, war auf einmal eine verächtliche Gestalt, denn der Gentleman ließ Geld für sich arbeiten. Die neuen Marktfreiheiten schufen den Freiraum für windige Spekulation und die Instrumente wurden mit Hilfe von Finanzinnovationen durch ehrbare Bankhäuser für ihre vermögende – wealthy and filthy - Klientel bereit gestellt.
Die wichtigste Finanzinnovation, mit der aus dem Nichts Wert „originiert“ werden konnte, war die Verbriefung. Nicht nur Arbeit schafft Werte, war die neoliberale Botschaft. Werte können auch als Wertpiere „originiert“ und diese „Briefe“ weltweit auf globalisierten und liberalisierten Finanzmärkten mit Hilfestellung innovativer Akteure wie Rating-Agenturen verhökert werden. Diese waren behilflich, einzelne Wertpapiere zu Wertpapierbündeln zu verschnüren und, weil niemand mehr wusste, welches die Inhaltsstoffe der Papiere waren, mit dem Gütesiegel des dreifachen A (mit der Bestnote triple A) zu versehen. Die später als toxisch erkannten Papiere aus der spekulativen Giftküche fanden reißenden Absatz unter Landesbanken in Deutschland, Zentralbanken weltweit, Pensionsfonds in den USA oder russischen Zockerbanden auf Zypern. Die Finanzmärkte schienen sich von der „realen Ökonomie“ abzukoppeln und eine Sternenfahrt in den siebenten Himmel unaufhörlichen Renditeregens zu beginnen. Aber den Spekulanten erging es wie dem „fliegenden Frosch“ in Wilhelm Busch’s Vierzeiler:
„Wenn einer, der mit Mühe kaum
Gekrochen ist auf einen Baum,
Schon meint, dass er ein Vogel wär,
So irrt sich der.“
Die Akteure auf den globalisierten Finanzmärkten haben sich tatsächlich gewaltig geirrt, die platzenden Spekulationsblasen in den Finanz- und Währungskrisen seit den 1980er Jahren und das Getöse nach der Lehman-Pleite im September 2008 und dann das Grollen der Eurokrise und die Wut- und Schmerzensschreie der von Eurokrise und der Quälerei der Troika Betroffenen haben unüberhörbare Begleitgeräusche geliefert. Die Finanzmärkte und ihre Dynamik sind eben nur eine Dimension in der vielschichtigen Geschichte. Sie sind nur „relativ“ von der Dynamik der realen, der produzierenden Ökonomie entkoppelt. Die in luftige Höhen spekulierten Traumrenditen auf den Finanzmärkten müssen real, durch harte Arbeit, mit viel fossiler Energie und mit hohem Materialeinsatz in Auseinandersetzung mit der Natur produziert werden. Die Naturformen, ebenso wie die gesellschaftlichen Formen, in denen Arbeit geleistet wird, werden in diesem Prozess, angestoßen durch scheinbar „virtuelle“ Spekulation auf abgekoppelten Finanzmärkten, umgeformt.
In den 1970er Jahren wurde daher die „informelle Arbeit“ entdeckt, zuerst von der Internationalen Arbeitsorganisation“ (ILO) in Ostafrika. Die erhoffte Modernisierung der Gesellschaften blieb entgegen den Erwartungen in den entkolonialisierten Ländern aus. Das musste niemanden verwundern, der oder die sich auch nur am Rande mit den Theorien der Unterentwicklung und Abhängigkeit auseinander gesetzt hatte, die einen alternativen Zugang zu Ursachen der Entwicklungsblockaden in den Ländern des so genannten „Trikont“ ausgearbeitet hatten. Für die Modernisierungstheoretiker in den internationalen Institutionen und nationalen Regierungen aber war die Ausbreitung des informellen Sektors technisch rückständiger, wenig qualifizierter, sozialstaatlich ungeschützter und gewerkschaftlich nicht organisierter Arbeit eine unerklärliche Überraschung. Bis zum Ende des real existierenden Sozialismus hielt man die Informalisierung der Arbeit für ein Phänomen der Unterentwicklung in der Dritten Welt, bis man in den 1990er Jahren erleben musste, wie mit den neoliberalen Strukturreformen die schlimmsten und schäbigsten Kennzeichen der Informalität in die „Transformationsökonomien“ Mittel- und Osteuropas exportiert und dort noch potenziert wurden.
Inzwischen ist das „Dritte-Welt-Symptom“ informeller Arbeit als prekäre Arbeit in den entwickelten Industrieländern angekommen. Die Welt der Arbeit ist umgewälzt, die Organisationen der Arbeit haben viel Macht und Einfluss verloren. Das Proletariat, das sich in den Klassenkämpfen der späten 1960er und 1970er Jahre als historisches Subjekt erhob und begeistert gefeiert wurde, hat sich zum Prekariat gewandelt und in eine sozial und politisch subalterne Position verabschiedet. Denn dieses „Adieu au prolétariat“ war ein deutliches Signal des Siegs von Geld und Kapital über die Arbeit. Der „finanzialisierte“ Kapitalismus hatte sich historisch durchgesetzt. Die Transformation der Gesellschaftsformation war gelungen, freilich im Sinne von Antonio Gramsci, der diese Art Transformation als „Transformismus“, als Sieg des Kapitals durch die erneuernde Anpassung seiner Herrschaftsmechanismen an die Herausforderungen der Zeit interpretierte.
III.
Es ist unvermeidlich, dass auch die Politik einen Formwandel durchmacht, wenn die Regulation des „realen Gemeinwesens“ von Geld und Finanzen so grundlegend wie durch die Liberalisierung der Finanz- und Devisenmärkte verändert und die tradierten Formen der sozialstaatlichen Organisation der Arbeit transformiert werden. Der politische und der ökonomische Raum sind infolge der Globalisierung immer weniger kongruent. Der Nationalstaat als das traditionelle politische Subjekt ist für die großen Dinge globalisierter Märkte „zu klein“ und für die lokalen und regionalen Aufgaben der Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit im globalen Raum „zu groß“. Politik findet auf vielen Ebenen statt und in der „Mehrebenenarena“ tummeln sich viele Akteure, die es zuvor nicht gegeben hat, und diese haben Aufgaben zu bewältigen, die bislang so nicht auf der Agenda waren, z B. Bildungs- und Wissenschaftspolitik oder Umweltpolitik. Es stellt sich auch heraus, dass die Privatisierung der Preisbildungsmechanismen auf Devisen- und Finanzmärkten neue Regulationsformen auf nationaler, internationaler und globaler Ebene erforderlich macht. In den 1970er Jahren war auf einmal von der „Krise der Demokratie“ und der „Regierbarkeit“ die Rede. Es bildete sich die „Gruppe der sieben großen Industrieländer (G7)“, die seitdem ihre routinemäßigen Jahrestreffen abhalten, sich zur G8 (mit Russland) erweitert und dies auch wieder zur Strafe Putins rückgängig gemacht haben. Die G7 haben einen Treppenwitz der jüngeren Weltgeschichte kreiert, über den aber niemand außerhalb des erlauchten Zirkels lachen kann.
Ernsthafter als die pubertären ereignisgeschichtlichen Spielchen der Obamas, Merkels und Calderons auf halbem Weg vom „revolutionären Jahrzehnt“ der 1970er Jahre in die Turbulenzen des 21. Jahrhunderts ist erstens die regionale Blockbildung (EU, NAFTA, BRICS etc.) in der globalisierten Welt und zweitens das, was in der Tiefenschicht der „longue durée“ geschieht. In den 1970er Jahren wurde erkannt, dass „Grenzen des Wachstums“ erreicht waren. Das war keine einzigartige, originelle Feststellung, doch die Veröffentlichungen des „Club of Rome“ zu diesem Thema gingen seit 1972 in das menschheitliche Gedächtnis ein. Die Gesellschaftsformation des Kapitalismus musste nun thematisiert werden. Hat der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, jenseits der Grenzen des Wachstums noch eine Zukunft? Viele Indizien und viele Analysen vieler Autoren bestätigen, dass die Erdsysteme inzwischen durch den in der kapitalistischen Gesellschaftsformation extrem gesteigerten Naturverbrauch – sowohl auf der Seite der Ressourcen aus der lebendigen wie aus der nicht lebendigen Natur, als auch auf der Seite der Senken, wo die Schadstoffe abgelagert werden – bis zu den Kipppunkten der Tragfähigkeit überlastet sind. Dass der „Doppelcharakter“ von Ware und Arbeit ein „Springpunkt“ (Marx) der Erkenntnis der Widersprüchlichkeit des modernen Kapitalismus ist, zeigt sich jetzt. Nicht nur die Wertform, die Geld- und Kapitalform befinden sich in einem historischen Transformationsprozess, in dessen Verlauf neue Formen der Arbeit, des Geldes, der Politik entstehen und veraltete Formen „deformiert“ und „informalisiert“ werden. Das ist ein Thema, das Jahrzehnte gebraucht hat, um in wissenschaftliche und politische Diskurse Eingang zu finden.
Wegen des Doppelcharakters aller ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Prozesse machen aber nicht nur Wertform, Geldform, Kapitalformen und die Formen der Arbeit einen Prozess der Transformation und mithin der Informalisierung durch, sondern auch die Naturalform. Nicht nur die Ereignis- und Konjunkturgeschichte der ökonomischen Akkumulation einschließlich der Klassenkonstellation ist betroffen, sondern die longue durée der Naturbedingungen allen Wirtschaftens. Wenn wir die Krisentendenzen der Gegenwart verstehen wollen, reicht es also nicht, die Entwicklung der Gesellschaftsformation in einem bestimmten historischen Zeitabschnitt – z. B. von den 1970er Jahren des 20. bis zu den 40er Jahren des 21. Jahrhunderts zu analysieren und zu prognostizieren. Wir müssen auch die Naturalform der gesellschaftlichen Existenz in die Betrachtung einbeziehen, wir müssen uns also nicht nur mit dem politischen und ökonomischen Weltsystem beschäftigen, sondern auch mit dem ökologischen Weltsystem, wie Jason Moore[3] hervorgehoben hat.
40 Jahre nach der ersten Publikation des Club of Rome über „die Grenzen des Wachstums“ ist 2014 ein Bericht (nicht des, sondern) „an den Club of Rome“ über „das Ende des Wachstums“ publiziert worden[4]. Der Verfasser Jorgen Randers setzt vorsichtig ein Fragezeichen hinter die apodiktische Feststellung des „Endes“. Doch alle in dem Bericht präsentierten Fakten zeigen, dass der „Traum der Rationalität“, wie ihn der Maler Francisco de Goya während der industriell-fossilen Revolution an der Wende vom 18.zum 19. Jahrhundert zeichnete, „Ungeheuer gebiert“ („El sueno de la razón produce monstruos“). Das wirtschaftliche Wachstum, quantifizierter Ausdruck kapitalistischer Rationalität und des steigenden „Wohlstands der Nationen“, aus dem der Kapitalismus seit Adam Smith seine Legitimation bezieht, hat die „ungeheuerlichen“ Nebeneffekte der globalen Naturzerstörung. Nicht nur die Gesellschaft und die Einzelnen in der Gesellschaft werden also verändert, auch die Natur des Planeten Erde wird in planetarischem Ausmaß umgewälzt – mit extremen Folgen für die lebendige Natur und daher auch für die Menschen.
Die Spuren dieser Umwälzung lassen sich bei der Untersuchung der Gesteinsschichten auf Erden stratigraphisch nachweisen. Ein neues Erdzeitalter kündigt sich an. Geologen führen momentan noch einen Streit darum, ob sie es „Anthropozän“ nennen sollten, das der den Menschen freundlichen Warmzeit des Holozän, das vor etwa 11.500 Jahren begann, seit der industriellen Revolution gefolgt ist. Der Namensvorschlag menschelt sehr, denn die Menschen handeln immer in gesellschaftlicher Formation. Folglich wäre das neue Erdzeitalter genauer als „Kapitalozän“ zu bezeichnen. Das wäre der Begriff, der die Einheit von kapitalistischer Gesellschaftsformation und globaler bzw. planetarischer Naturalform erkennen lassen könnte. Der Begriff würde auch darauf verweisen, dass politisches Handeln mehrdimensional sein muss. Es müsste in der mittleren Frist im Rahmen der Gesellschaftsformation, also im „realen Gemeinwesen von Geld und Kapital“ und in der Welt der Arbeit, und dann auch in der longue durée der Naturformen, im Energie- und Klimasystem und in der lebendigen Natur die für die Entwicklung von Natur und Gesellschaft erforderlichen Transformationen in die Wege leiten.
[1] Franz Jánossy unter Mitarbeit von Maria Holló, Das Ende der Wirtschaftswunder. Erscheinung und Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung, Frankfurt/M. o.J. (1969).
[2] Deutscher Bundestag (2002), Schlussbericht der Enquete-Kommission „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“, Drucksache 14/9200 vom 12.06.2002.
[3] Jason W. Moore, The Capitalocene. Part I: On the Nature & Origins of Our Ecological Crisis, (Manuscript, 2014).
[4] Jorgen Randers, 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre, München 2014.