Eine neue Phase des Kapitalismus

Der Sieg des Neoliberalismus

von Lucas Zeise
Dezember 2014

Spätestens mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan als Präsident der Vereinigten Staaten Anfang 1981 wird der Neoliberalismus zur herrschenden Wirtschaftspolitik im führenden Land und damit auch schlechthin im Kapitalismus. Vorausgegangen war 1979 die Wahl Margaret Thatchers zur Premierministerin in Großbritannien. Ebenfalls 1979 wurde, noch unter Reagans Vorgänger James Carter, Paul Volcker an die Spitze der US-Notenbank berufen, der umgehend mit restriktiver Geldpolitik den Weg in eine tiefe Rezession einleitete. Noch früher ist erstaunlicherweise der Schwenk der Bundesbank zum Monetarismus, die am 5. Dezember 1974 ein so genanntes Geldmengenziel verkündete. Dies sind die Daten, ab wann Neoliberalismus nicht nur wirtschaftspolitische Glaubensrichtung oder Doktrin wird, sondern auch angewendet wird.

Essentials des Neoliberalismus

Was ist dieser Neoliberalismus überhaupt? Ideologisch ist er, wie der Name sagt, eine Spielart oder Erneuerung des Liberalismus, also der Überzeugung, dass eine Volkswirtschaft dann am besten gedeiht, wenn sie den ökonomisch Handelnden, also dem freien Spiel des Marktes selbst überlassen bleibt. Im ursprünglichen Liberalismus ist diese Forderung nach freiem Warenhandel noch gegen die Privilegien des Adels und die Willkür der Fürsten gerichtet. Im Neoliberalismus richtet sich die Forderungen gegen die Eingriffe des Staates, vor allem aber gegen die Selbstorganisation der Arbeiterklasse, die nicht auf dem Markt entsteht, sondern auf der Grundlage gemeinsamer Interessen die Konkurrenz der Anbieter der Ware Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt wenigstens gelegentlich aufhebt. Der Neoliberalismus ist damit auch eine Reaktion auf die Herausbildung des staatlich durchorganisierten Kapitalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der in der marxistischen Diskussion als ‘Staatsmonopolistischer Kapitalismus’, kurz ‘Stamokap’, bezeichnet wird. Als Stammvater des Neoliberalismus kann Friedrich August von Hayek gelten, der in seinem Buch ‘Der Weg zur Knechtschaft’ (1945) jede staatliche Regulierung als Beschneidung der Freiheit der Unternehmer und damit als Sozialismus (= Knechtschaft) ansah.

Am besten ist der Neoliberalismus zu verstehen, wenn man sich den Kern der Ideologie ansieht. Der besteht in dem einfachen Ziel, die Profite des im jeweiligen Lande heimischen Kapitals auf dem direktest möglichen Weg zu steigern. Es geht dabei vor allem darum, die Kosten für die Unternehmen zu senken. Wichtigster Kostenpunkt ist der Arbeitslohn. Ihn gilt es zu drücken oder, marxistisch gesprochen, die Mehrwertrate zu erhöhen. Reagan in den USA und Frau Thatcher in Britannien sind mit dem Programm angetreten, die Macht der Gewerkschaften zu brechen. Sie haben dieses Programm auch radikal und brutal durchgesetzt. Dies geschah durch gewerkschaftsfeindliche Gesetzgebung, durch provozierte Konflikte, den Einsatz der Medien, der Polizei und der Gerichte. Wichtigstes Werkzeug jedoch waren tiefe Rezessionen in beiden Ländern. In Wirtschaftskrisen steigt die Arbeitslosigkeit. Die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen steigt mit der Angst um den Arbeitsplatz. Streiks oder andere Aktionen um höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen werden sehr schwierig.

Der zweitwichtigste Kostenblock für Kapitalisten sind Steuern und Abgaben an den Staat oder vom Staat betriebene Sozialeinrichtungen wie das Renten- und Gesundheitssystem. Deshalb vor allem ist eine Kernforderung des Neoliberalismus der ‘schlanke Staat’, der die Unternehmer möglichst wenig kostet. Ein neoliberal organisierter Staat gibt wenig Geld aus für Infrastruktur, Bildung und Soziales. Auch Subventionen an Unternehmen gelten als schlecht. Nur Ausgaben für Rüstung, Militär, Polizei, Gerichte und Gefängnisse gelten als tolerierbar. Am meisten schätzen Neoliberale die Privatisierung von Staatseigentum. Hier verbindet sich der Wunsch nach einem schlanken Staat mit Lohndruck und Gewerkschaftsentmachtung, die bei einem Wechsel zu privaten Eigentümern regelmäßig die Folge sind.

In Darstellung und Realität hat die möglichst hohe Profitabilität des jeweils heimischen Kapitals den zusätzlichen Zweck, Kapital in dieses neoliberale Heimatland zu locken. Liberale und Neoliberale sind, obwohl sie für den Abbau nationaler Grenzen und Schranken eintreten, sonderbarerweise meist immer auch glühende Nationalisten. Wenn in einem Land besonders hohe Profite möglich sind, strebt das Kapital dahin, um am Gewinnboom teilzunehmen. Voraussetzung ist allerdings, dass der Kapitalverkehr keinen Beschränkungen unterliegt. Der nach allen Seiten hin offene Kapitalmarkt ist im ökonomischen Weltbild der Neoliberalen und ganz im Einklang mit dem Funktionieren des Kapitalismus der freien Konkurrenz daher die ordnende und entscheidende zentrale Instanz. Der Kapitalmarkt entscheidet im Wettbewerb der Kapitalisten untereinander und ebenfalls im hehren Wettbewerb der Nationen um die Gunst des Kapitals.

Der in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts zur herrschenden Weltwirtschaftspolitik gewordene Neoliberalismus löste eine andere Phase der Regulierung des Weltkapitalismus ab. Dieses Vorgängermodell war wirtschaftspolitisch vom Keynesianismus geprägt, es orientierte auf eine teilweise Befriedung der Arbeiterklasse, es setzte stärker als je zuvor staatliche Mittel zur Stärkung der jeweils nationalen Kapitalakkumulation ein. Es wird von manchen wegen der in großen Industriebetrieben mit langen Fertigungsstraßen gewonnenen größeren Arbeitsproduktivität auch als „Fordismus“ bezeichnet. Treffender scheint der Ausdruck „Periode des Klassenkompromiss“ zu sein. Er widerspiegelt die damalige Bereitschaft der herrschenden Klassen, angesichts der Stärke der Arbeiterbewegung und der Existenz eines sozialistischen Lagers, die niederen Schichten der Gesellschaft am von ihnen geschaffenen Reichtum etwas teilhaben zu lassen und das Konkurrenzverhalten der kapitalistischen Staaten gegeneinander etwas einzudämmen. Die Beschränkung der interimperialistischen Konkurrenz wurde ganz wesentlich durch das von John Maynard Keynes inspirierte Abkommen von Bretton Woods (1944) erreicht. Es sah feste Wechselkurse zwischen den Währungen der kapitalistischen Staaten und ihre Bindung an den US-Dollar vor. Im Gegensatz zum oben geschilderten neoliberalen Modell konnte hier der Kapitalmarkt international nicht unbegrenzt agieren. Das Finanzkapital war insoweit eingedämmt.

Politisch war die Periode nach dem 2. Weltkrieg vom Kalten Krieg bestimmt. Im kapitalistischen Lager waren die USA die unbestrittene Führungsmacht. Die Gegnerschaft zum sozialistischen Lager bestimmte in starkem Maße auch die Wirtschaftspolitik. Durch das European Recovery Program (alias Marshall-Plan), durch die Offenhaltung des eigenen Binnenmarktes und durch großzügige Schuldenregelung gegenüber den durch den Weltkrieg geschwächten Staaten haben die USA einen wesentlichen Beitrag zum Wirtschaftsaufschwung im Kapitalismus beigetragen. Der Historiker Eric Hobsbawm hat diese Periode vom Kriegsende bis in die 1970er Jahre zu Recht als ‘Goldenes Zeitalter des Kapitalismus’ bezeichnet. Der Kapitalismus funktionierte als staatsmonopolistischer Kapitalismus besser als zu anderen Zeiten. Die Wachstumsraten der Volkswirtschaften waren höher als früher. Georg Fülberth zitiert eine Kalkulation der Wachstumsraten der entwickelten Länder seit 1830, in der die Periode 1950 bis 1970 mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts von 4,0 Prozent vor allen anderen liegt und jedenfalls deutlich vor den dann folgenden zwanzig Jahren von 1970 bis 1990, die bereits in die Phase des Neoliberalismus fallen.[1] Die Kapitalakkumulation funktionierte. Der Kapitalismus expandierte nach außen, in bisher nicht erschlossene oder wenig industrialisierte Länder. Er expandierte auch nach innen, während Frauen, früher in der Landwirtschaft Beschäftigte und Immigranten in die zentralen Regionen des Kapitalismus strömten.

Dass diese Periode in ökonomischer Hinsicht ein goldenes Zeitalter darstellt, wird heute kaum bestritten. Strittig ist hingegen die Frage, was die entscheidenden Gründe für den relativen Erfolg des kapitalistischen Systems in den 25 bis 30 Jahren nach dem 2. Weltkrieg waren. Sehr beliebt ist die Wiederaufbau-These, wonach die im Krieg zerstörten Produktionsanlagen wiederhergestellt werden mussten und deshalb für genügende Nachfrage nach Produktionsmitteln sorgten. Als Faktor für die Anfangsphase mag das eine Rolle gespielt haben. Ebenso wichtig war jedoch gerade in dieser Anfangsphase der Nachkriegszeit, dass die Nachfrage dank staatlich gestützter Finanzierung, etwa durch den Marshall-Plan, auch zur effektiven Nachfrage werden konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg war genau das anders gewesen. Beliebt ist auch die These, dass wir es mit einer ‘Erschöpfung’ der Akkumulationskräfte zu tun haben und/oder der Wirkung des tendenziellen Falls der Profitrate, die sich aus der Überakkumulation von Realkapital ergäbe. Es besteht kein Grund, diese Theorien von vornherein zu verwerfen. Aber sie haben den grundlegenden Mangel, dass sie 1945 zur neuen Stunde Null des Kapitalismus erklären. Warum sollten die langfristigen Tendenzen erst im Zuge des Nachkriegskapitalismus entstanden sein? Wie erklärt eine solche Theorie, dass die ‘Erschöpfung’ in 150 Jahren vor dem 2. Weltkrieg ausweislich der Wachstumsraten schon größer war?

Bei weitem plausibler erscheint da die These, dass die herrschende Klasse durch die Stärke des Sozialismus, der organisierten Arbeiterbewegung im Innern plus der realen Alternative der Sowjetunion und später der anderen sozialistischen Staaten zu ihrem Glück, nämlich einem erstaunlich gut funktionierenden, Kapitalismus gezwungen wurde. Der mörderische Konkurrenzkampf jeweils nationaler Bourgeoisien gegeneinander wurde eingedämmt. Der internationale Handel trieb durch außerordentlich hohe Wachstumsraten Investitionen und Produktion an. Der Kapitalmarkt war dank der Reformen des New Deal in den USA, dank der Verabredungen von Bretton Woods und dank der vorübergehenden Entmachtung des Finanzkapitals in den Staaten außerhalb der USA stärker eingedämmt als in der Zeit zwischen den großen Kriegen. Schließlich konnten sich die Lohnabhängigen einen höheren Anteil am erwirtschafteten Reichtum sichern. Damit stieg die effektive Nachfrage über viele Jahre hinweg ähnlich schnell wie die Produktionskapazitäten. Der für den Kapitalismus typische Widerspruch zwischen vergesellschafteter Produktion und privater Aneignung, also der übliche Grund für die kapitalistischen Überproduktionskrisen, war damit entschärft, die Überproduktionskrisen waren selten und wurden leicht überwunden.

Die Schwäche der USA

Dieses erfolgreiche kapitalistische Modell, diese geschichtliche Phase im Kapitalismus ging aufgrund einer Mischung aus inneren Widersprüchen und äußerem Widerstand zu Ende. Weil die USA als wohlwollende Hegemonialmacht ihren Markt den anderen kleineren Nationen offen hielten, selber aber wesentlich Kapitalexport betrieben, erzielten wichtige Länder Europas, insbesondere Westdeutschland und Frankreich, erhebliche Außenhandels- und Leistungsbilanzüberschüsse, während die USA ins Defizit gerieten. Sie stimulierten im Innern die Nachfrage, führten weltweit Kriege, stationierten ganz wie heute überall ihre Soldaten und betrieben eine kostspielige Hochrüstung. Die Überschussländer häuften erhebliche Mengen an Dollarreserven an, die die US-Notenbank jederzeit bereitstellen konnte. Zunächst wurden sie gemäß den Bretton-Woods-Verträgen auch noch zum Kurs von 35 Dollar je Unze in Gold getauscht. US-Präsident Richard Nixon kündigte 1971 die Umtauschpflicht von US-Dollar in Gold. Die D-Mark wurde in drei Schritten gegenüber dem Dollar aufgewertet, bis 1973 die europäischen Länder die feste Bindung ihrer Währungen zum Dollar aufkündigten.

Parallel dazu intensivierte sich der Klassenkampf. Politisch erzielte in den USA die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren beträchtliche Erfolge. In Europa intensivierten sich gleichzeitig die gewerkschaftlichen Kämpfe, die auch im Gefolge der politischen Mobilisierung eines Teils der Jugend mit seinem Höhepunkt im Mai 1968 ganz wie in den USA deutliche Verbesserungen bei sozialer Sicherung und Bezahlung zur Folge hatten. Um die Gewinnspannen zu sichern, begannen die Unternehmen, die Preise schneller hochzusetzen. In allen Ländern des Kapitalismus stiegen die Inflationsraten. Als die Öl exportierenden Länder 1973 höhere Preise für Erdöl durchsetzten, beschleunigte sich die Inflation.

Der Neoliberalismus der folgenden Jahrzehnte kann am besten als die Reaktion der herrschenden Klassen in den wichtigsten kapitalistischen Ländern auf die oben genannten Schwierigkeiten begriffen werden. Er ist somit eine strategische Änderung bei der Niederhaltung der anderen Klassen und zu ihrer ökonomischen Ausbeutung. David Harvey[2] stellt den Aspekt des ökonomischen Klassenkampfes in den Vordergrund. Die Vermögens- und Einkommensverteilung hatten sich in den Jahren des Klassenkompromisses spürbar zuungunsten der obersten Schichten verschoben. Der derzeit viel diskutierte Thomas Piketty[3] zeigt, dass so etwas in der Geschichte des Kapitalismus nicht die Regel, sondern die Ausnahme war. Der Neoliberalismus hatte ein Konzept, wie das umzukehren war.

Im Rückblick stellt man fest, dass das Ziel ungleicher werdender Einkommens- und Vermögensverteilung erreicht werden konnte. Deutlich wird das in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, wo sich seit 1980 bis heute der Anteil der Einkommen aus Vermögen auf Kosten des Anteils der Lohneinkommen massiv erhöht hat. Das gilt für alle entwickelten kapitalistischen Länder.

Abgesehen von Chile, wo der Neoliberalismus mit seinen wichtigsten Elementen Gewerkschaftsschwächung, Lohndruck und Privatisierung von Staatsvermögen im Gefolge des Putsches von 1973 vorgetestet worden war, gilt die Regierung von Margaret Thatcher in Großbritannien als Vorreiterin neoliberaler Umgestaltung. Man sollte sich aber daran erinnern, dass die brutale Rezession, die zum „Winter of Discontent“ mit großen Streikwellen und erheblichen Produktionsausfällen führte, bereits vorher der Labour-Regierung James Callaghans vom Internationalen Währungsfonds befohlen worden war. Die Bevölkerung hatte die Streiks und Stromausfälle satt, was Thatcher 1979 an die Regierung brachte und es ihren neoliberalen Stoßtrupps leicht machte, die Gewerkschaften zu entmachten. Der Verkauf der Ölgesellschaft BP und der Telefongesellschaft British Telecom sowie die Zerschlagung und Privatisierung der staatlichen Eisenbahn sind wichtige Eckdaten des von der Regierung verfolgten Kurses. Nicht minder wichtig war die Entkartellisierung der City of London durch den so genannten ‘Big Bang’. Er festigte die Position der Stadt als zweitwichtigster Finanzplatz des Globus (nach New York). Fast alle englischen Investmentbanken wurden von ausländischen Banken aufgekauft.

Ganz ähnlich wie in Großbritannien wurde auch in den USA die zur Schwächung der organisierten Arbeiterschaft erforderliche Rezession schon vor Amtsantritt Reagans noch unter Carter und Paul Volcker eingeleitet. Volcker hielt die Zinsen der Notenbank bis August 1983 hoch. Der Dollar, der zuvor massiv abgerutscht war, schoss wegen der hohen Zinsen in den USA nach oben, ein Zeichen für die massive Kapitalzufuhr in die USA. Der Einbruch der Wirtschaft führte wie in Britannien zu einer drastischen Lohnsenkung und einer Entwertung des Kapitals auf breiter Front. Zusammen mit dem großen Rüstungsprogramm der Regierung Reagan lockten diese Faktoren frisches Kapital in die USA. Der längste und größte Börsenboom der Geschichte begann, als die Zinsen sanken; er dauerte bis März 2000. Ganz nebenbei führten die hohen Zinsen von damals zur Schuldenkrise Lateinamerikas und dessen ein Jahrzehnt dauernder Depression.

Die Bundesbank als neoliberaler Pionier

In Deutschland hatte die Bundesbank schon darauf gewartet, dass der feste Wechselkurs der D-Mark zum Dollar abgelöst werden würde. Als das endlich, im März 1973, geschah, sah sie sich in der Lage, eine eigene Geldpolitik zu verfolgen, die – ein halbes Jahrzehnt vor Volcker – darin bestand, die Zinsen hochzuziehen, um den Übermut der Gewerkschaften zu brechen. Um ihr Handeln zu rechtfertigen, führte die Bundesbank Ende 1974 die so genannte „Geldmengensteuerung“ ein, wobei sie sich auf den Monetarismus des Neoliberalen Milton Friedman berief. Die Bundesbank war damals die einzige Notenbank, die gesetzlich unabhängig von Weisungen von Regierung und Parlament war. Sie war damit in der Lage, als erste den Gewerkschaften in Deutschland einen neoliberalen Rezessionsschock zu verabreichen.[4] Noch heute rühmen die neoliberal getrimmten Notenbanker der Welt die frühen Erfolge der Bundesbank bei der Bekämpfung der Inflation. Der Neoliberalismus als Wirtschaftspolitik wird in Deutschland erst 1982 mit dem Regierungswechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl offiziell. Ihm geht das Lambsdorff-Papier voraus, das die vom Sachverständigenrat formulierte ‘Angebotstheorie’ oder die von Kohl formulierte ‘geistig-moralische Wende’ zum Programm erhob.

Die radikale Finanz- und Börsenorientierung des angelsächsischen Neoliberalismus galt in Deutschland aber im Rest der 80er Jahre noch als unseriös. Das änderte sich radikal, als die DDR übernommen wurde. Deren Produktionspotenzial entweder zu vernichten oder es billig unter den Kapitalisten Westdeutschlands zu verteilen, erforderte eine Menge an Finanz-Know-how. Die Investmentbanker von Goldman Sachs, Merrill Lynch usw. flogen täglich von London ein. Zur gleichen Zeit wurden der EU 1992 in Maastricht eine gemeinsame Währung und ein neoliberales Vertragswerk verpasst, das den Kapitalismus und den Wettbewerb der Mitgliedsstaaten um die Gunst des Kapitals als Organisationsprinzip festschrieb.

Krise des Neoliberalismus

Es ist vermutlich nicht falsch, wenn man die 2007 ausgebrochene und auch 2014 noch keineswegs überwundene Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise als Krise des Neoliberalismus begreift. Marxisten und keynesianisch orientierte Ökonomen hatten eine solche Krise schon viel früher erwartet. Wenn der Neoliberalismus seinem eigenen Programm gemäß ein Regime ist, das die Profitrate im jeweils eigenen imperialistischen Lager auf direktem Wege über die Steigerung der Mehrwert- oder Ausbeutungsrate, also durch ganz gemeinen Lohndruck zu erhöhen trachtet, muss das eigentlich den altbekannten Widerspruch zwischen hohen Profiten und hohen Investitionen einerseits und zurückbleibenden Lohneinkommen andererseits, also die typische Überproduktionskrise, noch schneller als ohnehin zum Ausbruch bringen.

Drei wichtige Entwicklungen im Kapitalismus der letzten dreißig Jahre haben den Ausbruch einer solchen großen Überproduktionskrise verhindert und damit das über Gebühr lange Überleben des neoliberalen Regimes ermöglicht:

- die technische Revolution der Mikroelektronik/Informationstechnik hat die Profite gesteigert und zugleich einen neuen Investitionszyklus eröffnet, der die Profite absorbieren konnte;

- die Niederlage des Sozialismus in Europa und der SU sowie die Einbeziehung Chinas in den Kapitalismus hat fast zwei Milliarden Menschen in das System der Mehrwertproduktion neu einbezogen und neue reale Anlagesphären erschlossen;

- drittens entwickelte das neoliberale Regime einen enorm aufgeblähten Finanzsektor, der die Profitmassen absorbierte, von der gemeinen Mehrwertproduktion scheinbar unabhängige Profitquellen erschloss und zugleich durch die Verschuldung nicht nur der Kapitalisten und des Staates, sondern auch der Lohnabhängigen, erhöhte, damit deren Kaufkraft steigerte und so die eigentlich fällige Überproduktionskrise verzögerte.

Die überproportionale Ausweitung des Finanzsektors ist ein wesentliches Kennzeichen des Neoliberalismus. Es ist deshalb nicht falsch, wenn man diese Periode, die mit der Krise der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts einsetzt und deren Ende von der aktuellen Krise eingeläutet wird, als Zeit des „finanzmarktgetriebenen“ Kapitalismus bezeichnet.. Der Finanzsektor spielt in diesem System in vielfacher Hinsicht eine wichtige Rolle. Sein ungeheures Wachstum ist einerseits Resultat der beschleunigten Umverteilung des erarbeiteten Reichtums von unten nach oben. Zugleich dient der Finanzsektor als wichtiger Hebel, um diese Umverteilung von Arm nach Reich zu beschleunigen.

[1] G. Fülberth, G Strich - Kleine Geschichte des Kapitalismus, Köln, 2014, S. 245.

[2] David Harvey, Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich, 2007, S. 26 ff.

[3] Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.

[4] Interessant dazu die Broschüre ‘40 Jahre Sachverständigenrat’, hrsg. vom Sachverständigenrat, 2003, besonders die Ausführungen von Olaf Sievert und Otmar Issing.

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