Die Analysen in den kommunistischen Parteien bzw. in den sozialistischen Ländern waren stark von der Erwartung des baldigen Endes des Kapitalismus getragen. Interesse an Gesellschaftswissenschaft entsteht bei Politikern immer dann, wenn sie nicht mehr weiter wissen. In den 1960er Jahren war die Nachkriegskonzeption beider deutscher Staaten gescheitert – beide konnten sich nicht auf das ganze Deutschland ausdehnen, und die Mauer dokumentierte, dass das längere Zeit so sein werde. In der BRD formulierte Egon Bahr das Konzept „Wandel durch Annäherung“, in der DDR wurde die Stamokap-Theorie entwickelt, aus der Erkenntnis heraus, dass der Kapitalismus noch lange Zeit existieren werde. Für die Theorieentwicklung in der DDR war charakteristisch, dass die Arbeit am Projekt Stamokap und die am Projekt „Neues ökonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ gleichzeitig geleistet wurden, d.h. die Konzepte für das Verständnis der neuen Phase des Kapitalismus und die für die Gestaltung des Sozialismus wurden parallel und zeitgleich entwickelt. Hinzu kam die Auseinandersetzung mit China, in deren Zentrum die Frage Krieg-Frieden stand, ob ein mit Atomwaffen geführter Weltkrieg zwischen den beiden Systemen unvermeidlich war oder nicht. Die damalige Position Mao Zedongs war, dass die künftige sozialistische Welt auf den Trümmern eines durch den Imperialismus ausgelösten Atomkrieges (so die damalige chinesische Formulierung) errichtet werden müsse. Insofern implizierte die Frage nach dem Stamokap immer auch die nach der Friedensfähigkeit des Kapitalismus. Zugleich gab es einen internationalen Zusammenhang der Debatte zur Kapitalismus-Theorie, bei dem für die DDR die Sowjetunion und die Debatten unter den Linken Frankreichs eine besondere Rolle spielten. Hinzu kamen die Diskussionsstränge in Deutschland, aus Sicht der SED mit den westdeutschen Kommunisten einerseits und Teilen der SPD (Jusos) andererseits. Die SPD-Führung wiederum hatte die Stamokap-Debatte als kommunistische Zumutung identifiziert und ahndete Beteiligung innerhalb der Partei mit Parteistrafen und Ausschlussverfahren.
I.
Einer der inhaltlichen Diskussionspunkte damals war, ob der Stamokap nur Merkmal des Imperialismus (im Leninschen Sinne als „höchstes Stadium“ des Kapitalismus) war, oder eine „neue Phase“ in der Entwicklung des Kapitalismus. Da jedoch die These von der „allgemeinen Krise des Kapitalismus“ nicht aufgegeben wurde, war der Blick für das richtige Verstehen der fortbestehenden Entwicklungspotentiale des Kapitalismus verbaut. Die damalige Position des Autors und anderer war: Wenn das veränderte Wechselverhältnis zwischen Staat und Monopolen alle vier Momente des kapitalistischen Reproduktionsprozesses (Produktion, Distribution, Austausch und Konsumtion) erfasst und prägt, haben wir es mit einer neuen Phase des Kapitalismus zu tun. Dabei ist der Staatsanteil am Nationaleinkommen deutlich gestiegen; er betrug zu Friedrich Engels’ Zeiten in den entwickelten kapitalistischen Ländern etwa 10 Prozent, heute etwa 50 Prozent (wenngleich in Produktion und Distribution unterschiedlich). Diese Relation hat sich mit dem Übergang zum Neoliberalismus qualitativ nicht verändert, vielleicht um zwei bis drei Prozent verringert.
Der Zusammenhang zwischen Stamokap und Friedensfähigkeit des Kapitalismus bestand immer: Kriegskapitalismus (bei dem Waffenproduktion und Kriegsführung im Zentrum stehen) ist immer staatsmonopolistischer Kapitalismus, aber Stamokap nicht immer Kriegskapitalismus. Wenn wir heute die neuen Rüstungsprogramme Russlands sehen, ergeben sich drei Fragen: (1) Läuft Russland wieder in die vom Westen aufgestellte Falle des Wettrüstens? (2) Handelt es sich dabei um ein Trägheitsmoment aus der Zeit des Kalten Krieges? Oder (3) sind dies neue zwischen-imperialistische Widersprüche? Der Kriegskapitalismus ist immer politisch herbeigeführt und kann daher politisch bekämpft werden. Schon Marx forderte den Kampf gegen den reaktionärsten Teil der Bourgeoisie – das ist heute das, was Juan Bosch den „Pentagonismus“ genannt hat.
Die Hauptbedrohungen der Menschheit heute sind:
1. Das Atomproblem – die nach wie vor vorhandenen strategischen Atomwaffen und die nicht geregelte Endlagerung der „friedlichen“ Nutzung des Atoms. Aber Frieden durch Abrüstung bleibt das zentrale Problem.
2. Die ökologische Frage – der Frieden des Menschen mit der Umwelt.
3. Arbeitslosigkeit und Armut in der Welt (Unterbeschäftigung, Hunger, Kindersterblichkeit – Arbeit für alle ist die zentrale Frage). Das ist mit der Friedensfrage verbunden: die derzeitigen Staatsschulden der USA bzw. der BRD entsprechen in etwa den kumulierten Rüstungsausgaben seit 1945.
II.
Das Wesen der derzeitigen Weltwirtschaftskrise ist die Krise des extensiven Reproduktionstyps: die Ausdehnung des Menschen und die Ausdehnung des kapitalistischen Reproduktionstyps über den gesamten Erdball begannen vor etwa 500 Jahren. Dieser Prozess kommt jetzt zu einem Ende. Die Lösung besteht im Übergang zu einem intensiv erweiterten Reproduktionstyp bei Reduzierung des Wachstums bzw. dann der Weltbevölkerung. Aber auch dieser Übergang ist nicht notwendig identisch mit einem Ende der kapitalistischen Produktionsweise. Er vollzieht sich in Form vieler verschiedener Krisen. Der Übergang wird mehrere Generationen dauern und sicherlich das 21. Jahrhundert prägen. Die derzeitige Krise bestätigt die Annahmen der Stamokap-Theorie: die Krisenbearbeitung erfolgte durch den Staat (ohne ihn geht es nicht), und sie erfolgte im Interesse der großen Monopole bzw. Oligopole. Die Herrschenden wissen aber im Grunde nicht, was sie tun, weil sie nicht verstanden haben, dass es – zumindest in den Ländern Westeuropas und Nordamerikas – um den Übergang zu einem intensiv erweiterten Reproduktionstyp geht.
Eine Kernfrage in der Krisenbearbeitung müsste sein, die Kosten für die erste und die dritte Lebensphase zu vergesellschaften. Das geht nicht mehr ohne Staat und ist nicht über den individuellen Lohn zu regeln. In Dänemark wurde das verstanden; dort erhalten Studenten für ihren Lebensunterhalt Geld vom Staat dafür, dass sie studieren – das ist aber noch Nachwirkung des jahrzehntelang vorherrschenden sozialdemokratischen Gesellschaftsmodells. In Deutschland dagegen wird immer noch über die Einführung von Studiengebühren diskutiert, obwohl Wissen die einzige wirkliche Ressource ist, über die dieses Land verfügt, und die Zahl der Hochschulabsolventen pro tausend Einwohner in Japan zum Beispiel deutlich höher liegt. Man weiß auch in Deutschland, dass es ohne Finanzierung der ersten Lebensphase keine zweite gibt – in der die Menschen produzieren, Familien gründen, Kinder aufziehen usw. Das Geld wird aber der dritten Phase weggenommen. Das wiederum ist nicht nur ein ethisches Problem, auch hier sind die Möglichkeiten extensiver Entnahme begrenzt, und es ist ein politisches Problem.
Ein weiteres zentrales Problem hängt mit der Arbeitswerttheorie zusammen. Neben dem absoluten und relativen Mehrwert gibt es im Grunde eine dritte Art Mehrwert, die mit dem Übergang von relativ einfacher zu komplizierter Arbeit verbunden ist. Das hat Marx en passant zwar auch schon behandelt, aber nicht ausgearbeitet. Ökonomisch geht es darum, dass je komplizierter eine Arbeit ist, sie desto mehr Wert pro Stunde schafft. Theoretisch gibt es keine Obergrenze für den Grad der Kompliziertheit der Arbeit. Die Kapitaleigner wissen das. Deshalb schaffen sie ein Überangebot an Hochqualifizierten, damit die Kapitalseite von der Seite der Arbeit nicht erpressbar ist. Dieses „Überangebot“ etwa in Spanien ist also kein Defekt, sondern eine Folge der derzeitigen Entwicklung im Stamokap. Nordafrika hat aber gezeigt, dass dieses Potential nicht immer beherrschbar bleibt.
Was das Finanzsystem betrifft, wird derzeit oft so getan, als sei die kapitalistische Wirtschaft Opfer der Finanzindustrie. Das ist nicht so. Die Mittel, mit denen da spekuliert wird, kommen ursprünglich aus der „Realwirtschaft“. In der Zeit des Stamokap und des Neoliberalismus ist die Relation entstanden, dass 600 Billionen US-Dollar Finanztiteln 60 Billionen US-Dollar Realwirtschaft weltweit im Jahr gegenüberstehen. Diese Diskrepanz ist nicht durch Ausbuchen zu lösen. Deshalb bedeutet im Stamokap Krisenbearbeitung, die Ausschläge flacher zu halten: nicht so tiefe Krisen und nicht so hohe Aufstiege.
III.
Die Linke hat seit zwanzig Jahren eine Aversion gegen theoretische Arbeit. Mit der Wahrnehmung, mit dem realen Sozialismus habe die Theorie versagt, griff ein „Alles oder Nichts“ um sich: entweder dogmatische Fortführung der alten Annahmen des Marxismus-Leninismus oder völliges Verwerfen. Antworten gibt es aber nur, wenn die Linke zur theoretischen Arbeit zurückkehrt. Die Theorielosigkeit ist nicht nur eine der Ursachen der „Strömungen“ in der Linkspartei, sie ist ein weltweites Problem. Ohne neue theoretische Arbeit gibt es aber auch keinen politischen Neuansatz. So kommt die Linkspartei jetzt immer nur bis zum Linkskeynesianismus und bleibt dort hängen, weil viele meinen, bei Marx sei nichts mehr zu holen. Der Kern des Problems aber ist, dass Keynes den Kapitalismus erhalten und nicht seine Beseitigung denken wollte und in der Sphäre der Zirkulation verbleibt. Die derzeitige Krise aber zeigt, dass die Möglichkeiten der Regulierung durch die Finanzsphäre erschöpft sind. Der Staat muss seine regulierende Funktion erweitern, von der Zirkulation in die Produktion vorstoßen. Dem stehen aber die derzeitigen Dogmen der Wirtschaftswissenschaft entgegen. So lange dieser Konflikt anhält, hält aber auch die Krise an.
Im Weltsystem hat dieser Prozess inzwischen begonnen. Ein Weg ist „Rationierung“; das begann mit Fischfangquoten, geht weiter mit dem Zugang zu Tiefseeböden – die Staaten bestimmen, wer was bekommt, und die Firmen müssen sich daran halten. Der Trassenbau in Deutschland mit der „Energiewende“ ist etwas ähnliches: Der Staat agiert als Gesamtkapitalist, ist wesentlicher Teil der kapitalistischen Reproduktion. Auch deshalb ist es für die Linke wichtig, in den Parlamenten zu sein und an den Entscheidungen beteiligt zu sein, sie zu beeinflussen.
„Was ist Sozialismus?“ Diese Frage steht mit Blick auf die hier umrissene historische Dimension nicht, sondern: Was für ein Kapitalismus? Wir dürfen uns das im 21. Jahrhundert nicht als einen systemischen Bruch vorstellen, nicht als Systemwechsel, sondern als einen schrittweisen Prozess. Wer ist heute der Hauptgegner? Der „Pentagonismus“; von den USA geht die Hauptgefahr aus, dort herrscht der Militärisch-Industrielle Komplex. Es gibt ihn in vielen Ländern, aber herrschen tut er nur in den USA. Deshalb ist eine „Regionalisierung“ des Kapitalismus – in Asien, durch Zusammenarbeit Deutschlands mit Russland, in Gestalt der EU – ein Gegenmoment. Im Sinne dieser Regionalisierung brauchen die USA wiederum Lateinamerika, dringender als früher, stoßen dort aber auf starke Gegenkräfte. Wenn die drei wichtigsten Aufgaben sind: Ökologisch leben, sinnvolle Arbeit für alle und Frieden, dann ist das Friedensproblem das drängendste. Und gerade hier liegt die aus den USA kommende Hauptgefahr. Bei aller Verflechtung zwischen den USA und der EU, die USA haben kein Interesse an einem starken „Euro-Staat“, der die EU werden sollte, weil er Konkurrent ist. Am stärksten fürchten die USA – wie Brzezinski geschrieben hat – den Zusammenschluss der eurasischen Staaten.
Hier ist noch einmal auf die Friedensfähigkeit zu kommen. Der deutsche Imperialismus ist ein Beispiel für den Übergang von einem extensiven zu einem intensiven Reproduktionstyp. Im 20. Jahrhundert hatte der deutsche Imperialismus in zwei Weltkriegen den Ansatz, durch Eroberung des Raumes stärker zu werden. Seit 1945 ist er im Raum so klein wie nie zuvor, die wirtschaftliche Leistung aber war noch nie so groß. Die USA haben nach 1945 den raschen wirtschaftlichen Aufschwung der BRD und Japans gefördert, weil sie „Damm gegen den Kommunismus“ sein sollten. Das Heranzüchten von Konkurrenten war ihnen dabei egal. Jetzt sind sie aber da. Beide zeigen, dass der extensive Reproduktionstyp Ursache von Kriegen ist, während die Friedensfähigkeit auf der intensiven Reproduktion beruht. Der Kapitalismus will dafür die komplizierte Arbeit nutzen, deren Voraussetzungen aber nicht bezahlen. Insofern leben wir in mehrerer Hinsicht in einer Übergangszeit, in der beides noch nebeneinander besteht und das Ringen um den weiteren Weg in Konflikten ausgetragen wird.
[1] Die folgenden Überlegungen stellte Heinz Petrak bei einer Tagung des „Gesprächskreises Frieden und Sicherheitspolitik“ der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 31. Mai 2012 zur Diskussion. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine vom Verfasser autorisierte Zusammenfassung seines Vortrags durch Erhard Crome, dem wir für die Abdruckerlaubnis danken. Heinz Petrak, der im September d. J. verstorben ist, arbeitete am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Er gehörte zum Kreis jener Wissenschaftler in der DDR, die seit den 1960er Jahren die Theorie des „Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ entwickelt hatten. Petrak war u.a. Koautor von „Imperialismus heute“ (1965), „Die USA und Westeuropa“ (1968, zus. mit A. V. Kirsanov), „Der Imperialismus der BRD“ (1971); „Proletariat in der BRD“ (1974), „Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Opportunismus“ (1979).