Verpackung und Kern
Die schnelle und große Publizität von Thomas Pikettys Buch „Le Capital au XXIe siècle“ (2013), englisch: „Capital in the Twenty-First Century“ (2014), deutsch „Das Kapital im 21 Jahrhundert“[1], ist für einige Zeit geeignet, Anspruch und Leistung dieses Werks eher zu verdecken. Es wurde und wird bisher vor allem als politisches Ereignis behandelt. Paul Krugman, assistiert von Joseph Stiglitz, präsentierte es als das wichtigste Buch des Jahrzehnts, und vor dem Hintergrund ihres Wirkens für eine keynesianische Wirtschaftspolitik kann das auch als eine Art Propaganda in eigener Sache verstanden werden. Piketty selbst ist offenbar damit einverstanden: in zahlreichen Interviews stellte er dar, dass die Ungleichheit zunehme, und forderte, diese Tendenz durch steile Progression bei der Einkommen-, Vermögens- und Erbschaftsteuer umzukehren. (In einigen Ländern verbunden damit, dass eine Vermögensteuer überhaupt – wieder – eingeführt wird.) Dass diese Diagnose und Therapie sich noch vor seinem eigenen Hervortreten auch woanders fand – in Deutschland z.B. bei Sahra Wagenknecht, in den Vorschlägen der Abteilung Wirtschaftspolitik von ver.di sowie der Memorandumgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ und in der Bewegung „Umfairteilen“ –, hätte sogar geeignet sein können, die Neugier auf das Buch da und dort herabzustimmen: nichts Neues. Ebenfalls nicht überraschend war die sofortige Aburteilung durch marktliberale Ökonomen. Hierher gehört auch der schnelle, schließlich aber nicht durchdringende Versuch der „Financial Times“, Piketty fehlerhaften Umgang mit Zahlen vorzuhalten.[2] Den umgekehrten Reflex zeigten da und dort Marxisten, die im Tagesgeschäft sich längst auf keynesianische Rezepte verwiesen sehen: sie finden es nützlich, sich auf Piketty stützen zu dürfen. Verwunderlich ist da eher die Kritik durch Peter Bofinger, Heiner Flassbeck, Ulrike Herrmann und Friekerike Spiecker: allesamt Keynesianer(innen), werfen sie dem Verfasser von „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ wissenschaftliche Unzulänglichkeit vor. Bofinger behauptet, das von Piketty vorgelegte Zahlenmaterial widerlege dessen eigene Behauptung, dass die Rendite im 20. Jahrhundert geringer gewesen sei als das Wachstum.[3] Hier könnte man auf den Gedanken verfallen, der Kritiker habe das Buch nicht gründlich gelesen. Bofinger übersieht, dass Piketty die Entwicklung der Rendite und auch das Verhältnis von Kapitalbestand zu Einkommen als Kurven, bei welchen der Endpunkt etwas niedriger liegt als der Anfang, darstellt – doch was passierte dazwischen? Das aber ist der Clou der Argumentation. Ulrike Herrmann urteilte in der „taz“ wegwerfend: „Als Theoretiker kann man Piketty abhaken, trotzdem ist der Hype tröstlich. Offenbar ist die Mehrheit nicht mehr bereit, die Selbstbereicherung der Eliten zu tolerieren.“[4] Immerhin ist sie nicht bereit, der politischen Nützlichkeit ein (aus ihrer Sicht) theoretisches sacrificium intellectus zu bringen. Ihre Beobachtung, dass die Ursachen kapitalistischer Akkumulation bei Piketty nicht untersucht werden, ist zutreffend. Erstaunlich ist aber, dass sie ihm als positives Gegenbeispiel John Maynard Keynes, der das gleiche Manko hat, gegenüberstellt.
Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker gaben bekannt, Pikettys Buch erst gar nicht lesen zu wollen, da seine wirtschaftstheoretische Basis ungenügend sei.[5] Wenn er behaupte, schwaches Wachstum erhöhe den Quotienten aus Kapital und Einkommen, versäume er zu fragen, ob es nicht auch umgekehrt sein könne: dass also ein Überhang an nicht investiertem Kapital das Wachstum beeinträchtige. Dem ist zuzustimmen. Mit dem von ihnen erhobenen Vorwurf aber, Piketty sei ein Anhänger der Theorie, die eine beliebige Ersetzbarkeit von Arbeit durch Kapital und umgekehrt behauptet, werden sie Opfer ihrer genügsamen Lektüre, die sich eben auf den einen von ihnen herangezogenen Aufsatz beschränkt. Im Buch liest man es anders, zwar nicht in seinem theoretischen, aber in seinem – tatsächlich wichtigeren – historischen Teil. Hier entsteht immer wieder eine aufklärende Reibung zwischen von ihm geteilten neoklassischen Annahmen und seinen Daten, zum Beispiel wenn er feststellt, die Supergehälter von Managern in Nordamerika und Europa könnten doch wohl nicht mit der Grenzproduktivität ihrer Arbeit erklärt werden – angesichts des nunmehr schon seit vielen Jahren geringen Wachstums der Volkswirtschaften in diesen Regionen.
Daran, dass Piketty an einem Anspruch gemessen wird, auf dessen Einlösung sein Werk mit seinen empirischen Erhebungen – zugänglich nicht nur im umfangreichen Buch, sondern in sehr reichhaltigen Zusammenstellungen im Internet[6] – gar nicht angelegt wurde, ist er keineswegs unbeteiligt. Der Titel – „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ – erinnert nicht zufällig an Marx‘ Hauptwerk. Über dieses sagte Piketty in einem Interview: „Das ‚Kapital‘ von Karl Marx ist ein dunkles Werk. Es ist sehr schwer zu verstehen. Marx hat interessante Frühwerke geschrieben. In Bezug auf die Entwicklung des Kapitalismus lag er aber schlichtweg falsch. Ihm fehlte eine solide Datenbasis.“[7] Das Thema, das Marx dem ersten Band seiner Untersuchung gesetzt hat: „Der Produktionsprozess des Kapitals“, liegt jenseits von Pikettys Interesse. Er fragt nicht, wie Kapital entsteht, sondern wie es verteilt wird, wie sich seine Erträge zu anderen Einkommen verhalten und wie es sich vermehrt. Für Letzteres reicht ihm die Grenznutzentheorie weitgehend aus. Kapital ist für ihn identisch mit Vermögen, das seinerseits aus allem auf Märkten handelbarem Eigentum in privater, aber auch öffentlicher Hand besteht. Das Material, welches Piketty Marx voraus hat, ist die „World Top Incomes Database“. Sie sammelt die Ergebnisse aller Steuererhebungen seit dem 18. Jahrhundert, die die Vermögenswerte der Reichen erfasst haben. Piketty betont selbst, dass diese Quellen uneinheitlich sind. Je mehr er sich um Vollständigkeit bemüht, umso größer werden die Lücken, auf die er stößt und die er benennt. Für das 19. Jahrhundert ist das Material noch am besten für Frankreich, nicht weil Piketty Franzose ist, sondern wegen der gründlichen Datenerhebungen, die von der Revolution 1789ff. angestoßen wurden. Zu den sympathischen kulturellen Zügen des Buchs gehört, dass der offenbar auch belletristisch belesene Piketty neben den Zahlen zusätzlich große Romanliteratur –vor allem Jane Austen und Balzac – für Belege heranzieht. Als dürftig schätzt er die Datenbasis für Deutschland im 19. Jahrhundert ein: Der Föderalismus verhinderte lange Zeit eine zentralstaatliche Steuerverwaltung. Aber auch für die anderen Länder gilt: Wirklich valides Material (in den von Piketty gezeigten Grenzen) gibt es erst für das 20. Jahrhundert. Für das 21. Jahrhundert, das dem Buch immerhin einen Teil seines Titels gibt, kann Piketty nur mit Fortschreibungen seiner Statistiken der Vergangenheit arbeiten. Damit weist seine Analyse unweigerlich verschiedenartige Schärfengrade auf: Für das 18. und 19. Jahrhundert ist der Autor trotz des enormen Sammlerfleißes immer wieder auf Konjekturen angewiesen, im 20. Jahrhundert kann er sich auf inzwischen hervorragendes Material stützen, wobei dieses nach Durchsetzung der Digitalisierung zwischenzeitlich wieder etwas dünner wurde, da bisherige Lange Reihen abgebrochen wurden. Für den vor uns liegenden Teil des 21. Jahrhunderts aber muss er es zwangsläufig bei Prognosen bewenden lassen. Piketty selbst stellt fest, dass die Geschichte die stabilste Grundlage seiner Arbeit sei. Für die von ihm formulierte Strenge des empirischen Anspruchs kann er deshalb letztlich nur ein historisches Werk vorlegen: für das 20. Jahrhundert.
Zwischen Kuznets und Marx
In der Einleitung grenzt sich Piketty von zwei Theoretikern ab: der eine sei ein Apokalyptiker (Karl Marx), der andere ein Märchenerzähler (Simon Kuznets). Für Marx führe die Entwicklung des Kapitalismus zu immer mehr Ungleichheit, Kuznets sehe dagegen den Markt als den Ort, der Egalität schaffe. Beide Auffassungen konnten sich auf zeitgenössische scheinbare Evidenz stützen. Bis zum zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm die Ungleichheit zu, in der Mitte des zwanzigsten wurde sie geringer. Piketty versucht beide Tendenzen in eine historische Gesamtentwicklung einzufügen.
Gesetze und Befunde
Ein zentraler Zusammenhang für Piketty ist das Kapital-Einkommens-Verhältnis. (76) Das Vermögen ist eine Bestands-, das Einkommen – das sich aus Kapitalerträgen und Arbeitserträgen zusammensetzt – eine Fließgröße. Multipliziere man ihren Quotienten (ß) mit der Rendite (r), ergebe sich der Anteil (α) der Kapitalerträge am Volkseinkommen, als Formel: α = r x ß. Diese bezeichnet Piketty als das „erste grundlegende Gesetz des Kapitalismus“. (78-83) Der Anteil des Kapitaleinkommens am Volkseinkommen muss dann wachsen, wenn der Quotient ß wächst. Entsteht Überakkumulation, müsste allerdings die Rendite fallen, so dass diese Tendenz wieder umgekehrt werde. Jedoch vollziehen sich die beiden Prozesse ungleichmäßig: die Zunahme nicht mehr investierten Kapitals ist stärker als das Sinken der Profitrate. Dadurch sinkt das Wachstum (g). Es entwickelt sich geringer als die Rendite. Der Formel r > g = Rendite > Wachstum kombiniert Piketty mit dem „Gesetz des kumulativen Wachstums“. Dieses besagt, „dass ein schwaches kumulatives jährliches Wachstum über einen sehr langen Zeitraum zu einer beträchtlichen Steigerung führt.“ (108) Daraus folgt allerdings auch, dass eine Differenz zwischen Renditen und Wachstum sich in gleicher Weise kumuliert. Dies führt Piketty zu einem Ergebnis, das er als „[D]ie zentrale These dieses Buches“ bezeichnet, nämlich „dass ein scheinbar geringer Abstand zwischen der Kapitalrendite und der Wachstumsrate langfristig sehr große und destabilisierende Auswirkungen auf Struktur und Dynamik des Ungleichgewichts in einer Gesellschaft haben kann“ (110).
Piketty kombiniert ein „Gesetz“ – nämlich des kumulativen Wachstums – mit zwei Befunden: erstens dem Vorsprung der Rendite-Entwicklung vor derjenigen des Wachstums und zweitens dem immer höheren Quotienten aus Kapital und Einkommen. Er kann aber letztlich die Ursache von r > g und damit auch der Überakkumulation (so könnte man Letzteres in Marxscher Terminologie nennen) nicht erklären. Es handelt sich also tatsächlich lediglich um empirische Befunde, ohne dass diesen zugrunde liegende Gesetzmäßigkeiten benannt würden. Pikettys „Erstes grundlegendes Gesetz des Kapitalismus“ ist in Wirklichkeit kein Gesetz, sondern ein Algorithmus. Durchaus in der neoklassischen Tradition verbleibend, kann er als Ursache der Profite nur die Grenzertragsfähigkeit des Kapitals nennen. Von da aus führt aber kein Weg zur Erklärung der Überakkumulation. Seine Ergebnisse versetzen den Autor deshalb in eine Art permanenten Staunens über einen logisch nicht fassbaren Zustand, woraus sich letztlich sogar eine Art ethischer Impuls speist: Eintreten für gesellschaftliche Stabilität und „die Sache der Ärmsten“. (790-792)
Die U-Kurve und der Bruch Anfang der 1970er Jahre
Mit dieser theoretischen Ausstattung macht sich Piketty auf, die Geschichte des Kapitalismus seit ca. 1800 zu schreiben. Seine Annahme, dass es vorher kaum Wachstum gegeben habe, lässt sich, da Daten in einer seinem hohen Anspruch genügenden Weise nicht zur Verfügung stehen, weder falsifizieren noch verifizieren. Für die dreihundert Jahre des Handelskapitalismus 1500-1800 nimmt er nur geringfügige Zunahme an. Seit der Antike und bis ca. 1500 geht er von einem Wachstum von Null aus. Dies ist eine sehr grobe Annahme. Die „Produktivkraftrevolutionen“ des Feudalismus seit dem 11. Jahrhundert (allmähliche breite Durchsetzung der Dreifelderwirtschaft, eiserner Wendepflug, Mühlentechnik, das Interesse der westlich der Elbe von der Leibeigenschaft befreiten Bauern und der Copyholder in England an gesteigerter Erzeugung), die immerhin zusätzliches Kapital erzeugten und für Allokation in neuen Wirtschaftszweigen bereitstellten, behandelt er nicht. Selbst ein Wachstum im niedrigen Dezimalbereich muss, nimmt man das „Gesetz des kumulativen Wachstums“ ernst, über einen Zeitraum von 1500 Jahren doch schließlich große Konsequenzen haben.
Seine Stärke entfaltet das Buch, wenn Piketty ausschließlich Geschichte des 20. Jahrhunderts schreibt. Das Werk gewinnt dann eine nachgerade epische Statur wie die von seinem Verfasser so geschätzten großen Romane nicht nur des 19., sondern auch des 20. Jahrhunderts (genannt werden von ihm Henry James und Alexej Tolstoi). Es empfiehlt sich durchaus, es auch unter diesem kulinarischen Aspekt zu lesen, doch ist zu fürchten, dass viele Menschen – auch manche Teilnehmerinnen und Teilnehmer der gegenwärtigen hektischen Debatte – nicht die Muße hierfür finden. Als nützlicher und durchaus gut geschriebener Extrakt muss ihnen dann wohl eine zeitgleich mit der deutschen Übersetzung erschienene Kurzfassung von Stephan Kaufmann und Ingo Stützle empfohlen werden.[8]
Thomas Pikettys große historische Erzählung zeigt uns Folgendes:
Im gesamten 19. Jahrhundert nahm das Kapital-Einkommen-Verhältnis ständig zu. Die Bezüge aus Vermögen (in großem Maß auch aus Erbschaften) stiegen stärker als diejenigen aus Arbeit, die Wachstumsrate blieb immer mehr hinter der Profitrate zurück, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg erreichten Überakkumulation und Ungleichheit ihren Höhepunkt. Die Lohnquote sank.
Zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise beendeten diesen Zustand. Riesige Vermögensbestände wurden im „Zeitalter der Katastrophen“ 1914-1945 (Hobsbawm), mit dem bei Piketty unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit eine Goldene Ära anbrach, vernichtet. Diese setzte sich bis Anfang der siebziger Jahre durch sozialstaatliche Maßnahmen fort. Zentraler Hebel war die Besteuerung von hohen Einkommen und großen Vermögen, Piketty spricht sogar von einer Art Fiskalrevolution. Das Kapital-Einkommen-Verhältnis und die Rendite sanken, die Lohnquote stieg, die Arbeit wurde gegenüber dem Kapital aufgewertet. Auch aus Arbeitseinkommen konnten – wenngleich kleinere – Vermögen gebildet werden, es entstand eine gut ausgebildete „vermögende Mittelschicht“ (offenbar in hohem Maße teilidentisch mit der nicht von Piketty, wohl aber vom IMSF in seiner Klassen- und Sozialstruktur-Studie [1972-1975] so genannten Massenschicht der Intelligenz). Sie sei „die größte Neuerung des 20. Jahrhunderts.“ (342)
Auslöser dieser Entwicklung waren außerökonomische Schocks (zwei Weltkriege), die Weltwirtschaftskrise 1929-1933 und umverteilende staatliche Maßnahmen. Dass die infolgedessen spätestens ab 1945 für einige Jahrzehnte sich ausbreitende Auffassung, mit der Vernichtung und Bändigung von Kapital sei dieses seinem Ende nahe, eine Täuschung war, wird von Piketty nicht stark herausgearbeitet. Betroffen waren Geld- und Immobilienvermögen, nicht aber das Industriekapital, das ebenso aufgewertet wurde wie die Arbeitskraft.
Als nach 1970 die langfristige Wirkung des Schocks aufhörte und eine neue, marktradikale Wirtschaftspolitik die Maßnahmen der vorangegangenen Jahrzehnte revidierte, erhob sich die U-Kurve von ihrer Talsohle und erreicht gegenwärtig bei allen Indikatoren – beim Kapital-Einkommen-Verhältnis, bei der Relation von Rendite und Wachstum, bei der Lohnquote – nahezu den Stand von 1913. Noch gibt es Unterschiede: In die Kapitalmasse gehen auch die Vermögen der neu entstandenen „vermögenden Mittelschicht“ ein, wodurch die Konzentration gemildert ist. Eine weitere Neuerung: Der Anteil von sehr hohen Arbeitseinkommen am Gesamteinkommen ist im Vergleich zum 19. Jahrhundert gestiegen. Aber auch diese Ausnahmen könnten Episoden sein: Eine neue Schicht von Supermanagern ist entstanden, deren Riesengehälter und Boni zu Vermögen werden. Die Bedeutung der Erbschaften nimmt allmählich wieder die früheren Ausmaße an.
Durch die Aussetzung der früheren Sozialstaatspolitik wird das Verhältnis r > g, das Kapitalismus-immanent ist, wieder in seine alte Gültigkeit eingesetzt. Es könne nur durch gegensteuernde Politik behoben oder doch modifiziert werden. Dies ist Thema des letzten Teils von Thomas Pikettys Buch.
Meritokratischer Kapitalismus
Der vierte Teil des Bandes: „Die Regulierung des Kapitals im 21. Jahrhundert“, ist Thema der gegenwärtigen Debatte, so dass die ihm vorausgehenden 624 Seiten wie eine Einleitung erscheinen. Umgekehrt verhält es sich mit der wissenschaftlichen Bedeutung. Die Ausführungen zum „Sozialstaat des 21. Jahrhunderts“, zur progressiven Einkommenssteuer, zur globalen Kapitalsteuer und zur Tilgung der Staatsschuld durch Umlage auf die großen Vermögen sind in ihrer Gesamtheit eine Programmschrift, keine Forschung. Von bisherigen Entwürfen gleicher Intention unterscheiden sie sich durch den Umfang der hier aufgestellten und in einen systematischen Zusammenhang gebrachten Forderungen. Immerhin hat aber bereits Jörg Huffschmid mit seinem Buch „Politische Ökonomie der Finanzmärkte“ (1999, 2. Aufl. 2002) Ähnliches versucht. Dass Piketty jetzt eine ungleich höhere Resonanz erzielt, hat nicht nur mit wirkungsvollerem Marketing und effizientem Networking zu tun, sondern auch mit dem Zeitpunkt: Seit der Krise 2007ff. drängt sich der Reformbedarf so auf, dass eine neue keynesianische Wende zumindest nicht mehr verpönt, sondern das Reden über sie sogar gängig ist. Hinzu kommt – unabhängig davon – populäre bis populistische voyeuristische Empörung über Supervermögen und -einkommen, die in diesem Werk Belege finden kann.
Das bei Piketty feststellbare eigentümliche, gleichsam „verkehrte“ Verhältnis von Forschung und operativer Argumentation findet sich auch in großen Werken der Vergangenheit: Adam Smith argumentierte gegen den Merkantilismus, Marx für die Revolution. Sie haben damit in ihrer eigenen Zeit und über diese hinaus große politische Wirkung erzielt. Als diese schließlich erlosch, blieb der wissenschaftliche Ertrag. Mit Piketty kann es ebenso geschehen. „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ wird dann vor allem als Geschichtsbuch gewürdigt werden. Dass es – wie ihm zuweilen vorgeworfen wird – seinem Titel nicht gerecht wird – in seinem validen Teil handelt es nicht vom 21., sondern vom 20. Jahrhundert, und der Begriff „Kapitalismus“ wird nicht geklärt – fällt dann nicht mehr ins Gewicht. Das Reformprogramm wird dann nur noch eine – wenngleich sehr lang geratene Fußnote – zu einem großen historischen Werk sein.
Aktuell allerdings ist auch auf die Lücken hinzuweisen, die das politische Programm aufweist.[9]
Eine neue Senkung des Kapital-Einkommen-Verhältnisses im 21. Jahrhundert soll laut Piketty nicht noch einmal durch eine außerökonomische Katastrophe herbeigeführt werden, sondern durch ein System von Reformen. Die Machtfrage, die damit gestellt ist, wird von ihm nicht thematisiert.
Gleiches gilt für die Bestimmung des politischen Subjekts, das eine solche Wende durchsetzen kann.
Pikettys Vorschläge betreffen bisher nur die Sekundär-, nicht die Primärverteilung. Die Frage, wie die Riesenvermögen entstehen, um deren Verteilung jetzt gestritten wird, wird von ihm nicht gestellt. Nicht nur bei den Börsengewinnen und Zinsen handelt es sich um arbeitslose Einkommen, sondern dies gilt auch für den Mehrwert, der in der theoretischen Konzeption dieses Autors zwingend keinen Platz finden kann. Das ist nicht verwunderlich und ihm nicht vorzuwerfen. Wie gezeigt, bedurfte es des Schocks der Krise 2007ff., damit zumindest eine Minderheit der Ökonomenzunft und das Feuilleton auf Korrekturbedarf in der Sekundärverteilung aufmerksam wurden. Dass sie von sich aus nun auch den Mehrwert (wieder-)entdecken sollten, ist von ihnen nicht zu verlangen, solange nicht irgendeine Arbeiterbewegung selbst dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen imstande ist und stattdessen z.B. in Deutschland die Industrie- und Exportgewerkschaften IG Bergbau, Chemie, Energie Standortkorporatismus betreiben und zumindest in ihren Spitzen Pikettys Vorschläge sogar als unvereinbar mit ihrer jetzigen Politik ansehen müssen. Vorschläge für Verteilungskämpfe primärer Art gibt es bei ihm nicht. Als Verfechter eines meritokratischen Kapitalismus ist er gegen ererbte Riesenvermögen, nicht aber gegen Reichtum, der von Generation zu Generation neu als Mehrwert abgepresst wird, und die Ungleichheit, die daraus für die Dauer eines Unternehmerlebens entsteht – im Gegenteil.
Ist Pikettys Diagnose zutreffend, schlüge seine Therapie aber nicht an, könnte sich herausstellen, dass ganz große Reformen doch nur durch die Prügelpädagogik externer Schocks – die in Wirklichkeit gar nicht extern sind, sondern sich aus ungehemmter Kapitalakkumulation ergeben – zustande kommen. Dann wäre er – gegen seinen Willen – keiner gewesen, der etwas bewegt hat, sondern eine Kassandra.
[1] Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Ilse Utz und Stefan Lorenzer. München: C.H.Beck 2014, 816 Seiten mit 97 Grafiken und 18 Tabellen. 29,95 Euro. In der deutschen Übersetzung fehlt leider ein Sachregister, das in der englischen mit dem Personenregister kombiniert ist.
[2] http://www.ft.com/cms/s/2/e1f343ca-e281-11e3-89fd-00144feabdc0.html#axzz33 AcW6VWd; siehe auch: http://www.theguardian.com/business/2014/may/26/thomas -piketty-financial-times-dishonest-criticism-economics-book-inequality [Zugriff: 15. 10. 2014].
[3] http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/bofinger-wirft-piketty-schwere-fehler-vor-a-972643.html [Zugriff: 15. 10. 2014].
[4] ttp://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2014%2F06%2F03%2Fa0089&cHash =5203bd5077da87f203bb1afb9d25a973 [Zugriff: 15. 10. 2014].
[5] http://www.flassbeck-economics.de/thomas-piketty-und-die-kapital-einkommens-relation-much-ado-about-nothing/ [Zugriff: 15. 10. 2014].
[6] http://piketty.pse.ens.fr/fr/capital21c
[7] http://www.fr-online.de/wirtschaft/interview-thomas-piketty--die-mittelklasse-schrumpft-weiter-,1472780,27372008.html [Zugriff: 15. 10. 2014].
[8] Stephan Kaufmann, und Ingo Stützle, Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre. Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ – Einführung, Debatte, Kritik, Berlin 2014. Vgl. (S. 103/104) auch folgende Bemerkung: „Einem Bericht des Wall Street Journals zufolge, rangierte Capital in the 21st Century nicht nur auf der Bestsellerliste ganz weit vorne, sondern belegt auch Platz 1 im Ranking jener Bücher, deren Lektüre vorzeitig beendet wird (Abbruchquote: 97,6 %) – das sagen zumindest die Amazon-Daten über das Leseverhalten auf dem hauseigenen E-Book-Reader Kindle.“
[9] Georg Fülberth, Vier offene Fragen. In: Neues Deutschland vom 13. Oktober 2014. S. 5.