Globalisierung – Digitalisierung – Umweltkrise

Globalisierung und Digitale Revolution – Totengräber des Realsozialismus?

von Jörg Roesler
Dezember 2014

I.

Als in den 1950er und 1960er Jahren das fordistische Akkumulationsmodell, gekennzeichnet durch standardisierte Massenproduktion und eine vor allem quantitative Ausdehnung des Konsums seinen Höhepunkt erreichte, schlug der anfänglich zwischen dem kapitalistischen und sozialistischen Weltsystem dominierende „Kalte Krieg“ in Entspannung, der die wechselseitigen Beziehungen zunähst dominierende Wirtschaftskrieg in ökonomischen Wettbewerb um. Unter dem Eindruck eines beginnenden Zeitalters der friedlichen Koexistenz wurden im Westen die Aussichten beider Wirtschaftssysteme, in Konkurrenz zueinander zu bestehen, einer sorgfältigen Überprüfung unterzogen. Die Fähigkeit der Zentralplanung, die Investitionen in wirtschaftsstrategisch wichtige Sektoren zu lenken – in die so genannten Schwerpunktzweige – und durch eine gezielte Forschungs- und Bildungspolitik komplexe Entwicklungsaufgaben erfolgreich zu lösen (wie sie etwa Gagarins Weltraumflug symbolisierte) führten im Westen zu (in Fachkreisen, nicht in den Medien geäußerten) Befürchtungen, dass sich das Planwirtschaftssystem doch als überlegen herausstellen könnte. Tatsächlich erlaubte die Zentralplanwirtschaft eine Konzentration der Investitionsmittel und der Forschungs- und Entwicklungsausgaben, wie sie unter der Bedingungen der Regulierung der Wirtschaft über den Markt nicht herzustellen war, weshalb in allen Ländern des Westens der Staat stärker in die Wirtschaftslenkung einbezogen wurde. Das führte zu einer Mischung von Regulierung über den Staat und durch den Markt, die von Samuelson und anderen Ökonomen des Westens, allesamt von Keynes beeinflusst, als Mixed Economy gekennzeichnet wurde.

An volkswirtschaftlichen Wachstumsraten gemessen gewann der Osten – vor allem die Sowjetunion, auch die osteuropäischen „Volksdemokratien“ und etwas langsamer selbst die von Reparationen und Spaltungsdisproportionen gebeutelte DDR – gegenüber den USA bzw. der BRD an Wettbewerbsfähigkeit, die UdSSR in bestimmten High-Tech-Bereichen (Rüstungs- und Weltraumforschung) auch qualitativ. Die im Auftrage der östlichen Wirtschaftsgemeinschaft RGW Anfang der 1960er Jahre entwickelten „Generalperspektiven bis 1980“ sahen nicht von ungefähr ein Ein- und Überholen der kapitalistischen Ökonomien vor.[1]

Bereits in den 1960er Jahren wurde in den Staaten Osteuropas ein Nachlassen beim Wachstumstempos und bei der Aneignung des wissenschaftlichen Fortschritts erkennbar, was die betroffenen Länder auf Steuerungsdefizite zurückführten. Sie (alle osteuropäischen Staaten bis auf Rumänien und Albanien) bemühten sich, diese durch die Einführung „neuer ökonomischer Systeme“ zu beseitigen.

Die Wirtschaftsreformen verfolgten vor allem drei Ziele: Stärkung des Leistungsprinzip auf der Ebene der Branchen, Betriebe und Produzenten, stärkere Orientierung an den Konsumbedürfnissen der Verbraucher und Konzentration der Investitionsmittel auf jene Zweige, die für die rasche wissenschaftlich-technische Entwicklung eine Schlüsselstellung einnahmen – die so genannten Fortschrittsindustrien.

Auf die Notwendigkeit der Integration der Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution in die damals verbreiteten Sozialismusvorstellungen hat mit seltener Deutlichkeit ein in seiner Art wohl einmaliges Dokument, das über das Denken der osteuropäischen – konkret der tschechoslowakischen – Reformer Auskunft gibt, hingewiesen, der Richta-Report. Der 1964 in Prag verfasste, programmatisch als „politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts“ betitelte Bericht, der „die Auswirkungen der technisch-wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse“ zum Thema hatte, nahm kein Blatt vor den Mund: „Der Entscheidungskampf um den Sozialismus wird derzeit auf dem Boden der Voraussetzungen des produktions-technischen und wissenschaftlichen Fortschritts ausgetragen, der zahlreiche ungewohnte Situationen und Anforderungen mit sich bringt.“[2] Gleichzeitig wurde in dem Report auch die Zuversicht ausgedrückt, dass die sozialistischen Staaten, wenn sie alle Anstrengungen unternehmen würden, zur technologischen Führerschaft befähigt seien und dass es (nur) dem sozialistischen System gelingen werde, auf Dauer den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution gerecht zu werden. Die unbegrenzte Entfaltung der Produktivkräfte sei nunmehr „die technische Herausforderung der kommunistischen Revolution“.

Der Ruf aus Prag fand Gehör. Nicht nur das tschechoslowakischen, auch die Wirtschaftsreformprogramme der anderen osteuropäischen Staaten reagierte auf Anzeichen des Bruchs der fordistisch geprägten Verlaufskurve in der Entwicklung ihrer Ökonomien und betonten die Notwendigkeit die nunmehrigen Schlüsselindustrien, d. h. Elektrotechnik, Elektronik und wissenschaftlichen Gerätebau vorrangig zu entwickeln.

II.

Der Fordismus erlebte seine Blütezeit in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten. Der offene Ausbruch der „Krise des Fordismus“ wird von Wirtschaftswissenschaftlern und Wirtschaftshistorikern auf die Jahre 1973-1975 fixiert, als in den Ökonomien der kapitalistischen Staaten durch einen Erdölpreisschock ausgelöste Turbulenzen in einem seit der Weltwirtschaftskrise von 1928ff nicht mehr erfahrenen Ausmaße Jahrzehnten stabiler ökonomischer Entwicklung ein Ende setzten. Die Wirtschaftskrise machte in ihren weltweiten Auswirkungen auch deutlich, dass der Krisenbekämpfung wie der Wirtschaftspolitik überhaupt im nationalen Rahmen zukünftig Grenzen gesetzt waren.

Auch die realsozialistischen Volkswirtschaften konnten sich den Auswirkungen der Krise nicht entziehen, zumal sie seit Beginn der 1970er Jahre begonnen hatten, ihre Wirtschaften stärker in die kapitalistische Weltwirtschaft zu integrieren.

Die 1973/75 unschwer erkennbare Tendenzwende in der wirtschaftlichen Entwicklung stellte die meisten Staaten der Welt vor „schwerste wirtschaftliche Herausforderung“. Die Widersprüche des Fordismus traten in beiden Wirtschaftssystemen hervor. Weltweit wurde deutlich, dass der Fordismus unter den Bedingungen fortschreitender Globalisierung und durch die sich über die Mikroelektronik verwirklichende digitale Revolution seine organisatorischen, physischen und auch psychischen Grenzen erreicht hatte. Die sozialistisch und die kapitalistisch wirtschaftenden Staaten hatten unterschiedliche objektive Voraussetzungen, den neuen Herausforderungen zu begegnen. Sie unterschieden sich darüber hinaus durch ihre Wahrnehmung der neuen Situation.

In den Ländern des Westens wurde die Veränderungen des Akkumulationsregimes bald als eine Zäsur wahrgenommen, die neue Risiken für die bestehende Wirtschaftsordnung in sich trug, auf die unverzüglich reagiert werden musste. Die Regierungen der realsozialistischen Länder reagierten dagegen kaum. Dieselbe Wirtschaftskrise 1973/75, die im Westen als existentielle Herausforderung betrachtet wurde, wertete der Osten als Aufforderung, an dem „krisenfesten“ Planungssystem festzuhalten und – um es zu sichern – keine weiteren Wirtschaftsreformen mehr zuzulassen. In erster Linie in Polen und der DDR hatten die als übermäßig strapaziös empfundenen Anstrengungen zur Ausrichtung des Akkumulationsregimes auf die Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution den Unwillen großer Teile der Bevölkerung hervorgerufen und die politische Elite zum Verzicht auf eine eigenständige Modernisierungsstrategie veranlasst. Die Wirtschaft wurde Anfang der 1970er Jahre erneut auf ein Lenkungssystem eingeschworen, dass weitsichtige Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Mitte der 1960er Jahre als nicht länger zukunftsträchtig und zunehmend ineffektiv eingeschätzt hatten.

An die Stelle einer eigenständigen Stellung am Weltmarkt trat die importinduzierte Modernisierung. Danach sollte neueste Technik – wenn möglich schlüsselfertige Betriebe – aus dem Westen importiert und die aufgenommenen Kredite mit den Erlösen aus den Exporten eines wesentlichen Teils der Erzeugnisse dieser Betriebe in den Westen zurückgezahlt werden.

Die Hinwendung zur Wirtschaft im Westen war auch Ausdruck dessen, dass die Versuche einer tief greifenden Wirtschaftsintegration im Osten bereits Mitte der 1960er Jahre gescheitert waren. 1962 hatte es unter Chruschtschow, nachdrücklich unterstützt von Ulbricht, Pläne gegeben, die sich weitgehend auf den Warenaustausch beschränkende wirtschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Teilnehmerstaaten des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) bis zu einer „exakten Kooperationsplanung“, geleitet von einem zu bildenden „einheitlichen Planungsorgans, das hohe Autorität und große Rechte besitzen“ sollte, weiter zu entwickeln.[3] Das hätte es erlaubt, Erzeugnisse innerhalb des RGW über Ländergrenzen hinaus jeweils in jenen Betrieben bzw. Regionen zu produzieren, wo für deren Fertigung die besten Voraussetzungen herrschten. Das Outsourcing im Rahmen einer „sozialistischen Globalisierung“ war aber Mitte der 1960er Jahre wegen des heftigen Widerstandes eines Teil der RGW-Länder, vor allem Rumäniens, aber auch Polens, nicht zustande gekommen. Wiederholungsversuche gab es nicht – auch nicht, als sich zwischen den Ländern des Westens ab Mitte der 1970er Jahre das weltweite Outsourcing – begünstigt durch die Informationstechnik der digitalen Revolution – als Bestandteil des postfordistischen Akkumulationsregimes durchsetzte.

Die durch unzureichende Zusammenarbeit innerhalb des RGW gewissermaßen provozierte Politik der Kooperation kleinerer osteuropäischer Länder mit westlichen Unternehmen und Staaten nicht nur auf dem Handels-, sondern auch auf dem Ausrüstungssektor wurde auch dann noch fortgesetzt, als sich durch die Weltwirtschaftskrise von 1973/75 (und die darauf folgende Krise von 1980-1982) die zunächst in Warschau, Berlin, Budapest durchaus als günstig eingeschätzten Geschäftsbedingungen für die Bewältigung der wissenschaftlich-technischen Revolution mittels importinduzierter Modernisierung ins Negative geändert hatten. Solange die negativen Folgen dieser Politik des kreditfinanzierten wissenschaftlich-technischen Fortschritts nicht auf eine Zahlungsunfähigkeit der osteuropäischen Staaten hinzusteuern schienen – d. h. bis zum Beginn der 80er Jahre – waren die negativen Seiten dieser neuen Wirtschaftspolitik nicht offensichtlich und es wurde die Illusion genährt, dass man – anders als die krisengeschüttelten Wirtschaften des Westens – im Osten Planwirtschaft so weiter betreiben könne wie bisher.

Die Politik des „Weiter so!“ wurde auch im führenden Land des Realsozialismus von Parteichef Breschnew verfolgt. Dort schuf der Export von hochpreisigem Erdöl und Erdgas ein finanzielles Polster, das es der UdSSR gestattete, bei nachlassender Konkurrenzfähigkeit in der verarbeitenden Industrie „weiter zu wirtschaften“.

Seit der Verschuldungskrise Anfang der 80er Jahre mussten sich aber alle anderen realsozialistischen Staaten Europas den durch die Krise des Fordismus geschaffenen neuen Realitäten stellen, so wie es die Staaten der Westens bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre getan hatten.

III.

Abgesehen von den deutlichen Unterschieden in der subjektiven Bereitschaft, die neuen Herausforderungen zu erkennen, wiesen beide Systeme auch objektiv unterschiedliche Voraussetzungen aus, um den Übergang zum neuen, durch digitale Revolution und Globalisierung charakterisierten Akkumulationssystem zu bewältigen.

Wesentliche Transformationsmerkmale haben die Sozialwissenschaftler Fuchs und Hofkirchner 2002 so charakterisiert: „Die standardisierte Massenproduktion wurde immer stärker durch eine diversifizierte Qualitätsproduktion ersetzt, die sich durch Kundenorientierung und kleine Stückzahlen von hoher Qualität charakterisieren lässt. Produziert wird immer häufiger mit einer flexiblen Fertigungsmaschinerie, die individuell gefertigte Produktserien im Rahmen einer Just-in Time-Produktion ermöglicht. Produktionseinheiten folgen heute immer weniger einem zentralistischen Aufbau, sondern differenzieren sich immer stärker aus. Der Produktionsprozess wird zunehmend in autonom von einander abwickelbare Teile zerlegt, die in selbständige betriebliche Einheiten gegliedert sind. ... Auf die gesamtbetriebliche Organisationsstruktur bezogen zeigt sich eine Tendenz zum Outsourcing, d. h. zur Auslagerung von Teilen der Produktion in Subunternehmen und günstige Zulieferfirmen. Das moderne kapitalistische Unternehmen und die Ökonomie bekommen immer stärker Netzwerkcharakter.“[4]

Es wurde schon gesagt, dass weder die Lenkungsinstitutionen des Realsozialismus noch die des Realkapitalismus Mitte der 1970er Jahre den veränderten Anforderungen entsprachen. Doch die marktwirtschaftlich dominierte „Mixed Economy“ der westlichen Staaten wies deutlich günstigere strukturelle Ausgangsbedingungen für den notwendig werdenden Anpassungsprozess an die Erfordernisse des Postfordismus auf als die nach ihrem Ausflug in eine Art „mixed economy“ unter planwirtschaftlichen Vorzeichen (mit Ausnahme Ungarns) in den 1970er Jahren wieder zentral gelenkten osteuropäischen Planwirtschaften. In den westlichen Ländern ging es gewissermaßen um eine Rückentwicklung in Richtung dezentraler, autonomer Lenkungsstrukturen, die bereits einmal bestanden hatten. Ideologisch spiegelte sich diese Entwicklung in dem Übergang von der neokeynesianistischen zur neoliberalen Ideologie des Wirtschaftens wider. Die realsozialistischen Länder hatten komplettes Neuland zu betreten oder sich auf Reformkonzepte zurückzubesinnen, die wenige Jahre zuvor noch als gescheitert angesehen und abgeschafft worden waren. Der bekannteste Versuch letzterer Art war Gorbatschows 1985 verkündete Perestroika, die sich ideologisch an Lenins Neuer Ökonomischer Politik orientierte, also an die sowjetische Wirtschaftspolitik vor der Durchsetzung der Zentralplanwirtschaft durch Stalin. In der DDR lagen dem von Regierungschef Modrow Anfang 1990 verkündeter Übergang von der „Kommandowirtschaft einer zentralistischen Direktivplanung zu einer sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft“ Ideen der Wirtschaftsreform der 1960er Jahre, des NÖS, zugrunde. Die Realisierung dieser Projekte gelang nicht mehr, da die Reformen zu spät kamen. Abgesehen einmal von kapitalen handwerklichen Fehlern bei der Einführung der Perestroika erwies sich die Wirtschaft beider Länder nach einer Periode nur langsamen Wachstums in den 80er Jahren als zu schwach, um die Umstrukturierungen ohne große, die Funktionstüchtigkeit der gesamtem Volkswirtschaft gefährdende Verluste und damit unweigerlich verbundener Einschnitte im Lebensstandard der Bevölkerung zu bewältigen.

Das Scheitern des Realsozialismus lässt sich aber nicht nur ökonomisch erklären.

Schon vorher hatten die Regierungen der osteuropäischen Staaten weitgehend das Vertrauen und die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung verloren. Doch nicht nur der Masse der Bevölkerung war die Zuversicht verloren gegangen, dass sich der Sozialismus als das überlegene Wirtschafts- und Gesellschaftssystem beweisen könnte, sondern auch maßgeblichen Teilen der politischen Elite.

Letzteres äußerte sich unter anderen darin, dass in der Sowjetunion an Stelle von Chruschtschows optimistischen, mobilisierenden Vorhersagen, wann die Sowjetunion in den Kommunismus, in das Zeitalter uneingeschränkter Bedürfnisbefriedigung eintreten werde, Breschnews Politik kleiner Schritte zur Verbesserung der Lebenslage trat. In der DDR wurden Ulbrichts Ein- und Überholzielsetzungen gegenüber der BRD in den Fünf- bzw. Siebenjahrplänen durch Honeckers „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ abgelöst, die versprach, wirtschaftliches Wachstum sofort in materielle und soziale Verbesserungen umzumünzen. Der ökonomische Wettbewerb mit Westdeutschland fiel dabei im Rahmen einer Politik der „Abgrenzung“ vom anderen Deutschland völlig unter den Tisch. Die sozialistische Perspektive reduzierte sich unter Honecker auf die schrittweise Verbesserung des Lebensstandards.

Die Beschränkung der sozialistischen Zukunftsperspektive auf den konsumtiven Bereich erwies sich längerfristig als eine Fehlentscheidung gravierenden Ausmaßes: Während in den 1970er und 80er Jahren die Regulierung der Wirtschaft wieder auf das Niveau der Zentralplanung der 50er Jahre zurückgebracht worden war, setzten sich die in den 60er Jahren unter den Bedingungen der Reform eingeleiteten Veränderungen der Konsumtionsweise fort. Der Verbrauch der Bevölkerung begann sich gegenüber der Produktionsweise autonom in Richtung der Bedürfnisstrukturen in Westeuropa bzw. Nordamerika zu entwickeln. Diese richteten sich stärker als in den 50er Jahren auf Qualität und Vielfalt aus, und wechselten rascher mit der Mode bzw. mit den sich zunehmend auch in Konsumgütern der Informations- und Unterhaltungstechnik materialisierenden Fortschritten der digitalen Revolution. Damit gerieten die Anforderungen, die die Bevölkerung in den sozialistischen Ländern an den Konsum stellte, in Gegensatz zur vorherrschenden Produktionsweise. Selbst wenn die osteuropäischen Regierungen erhebliche Mittel (und seien es geborgte) für die Steigerung des Konsums einsetzten, konnten sie das Warenangebot in den Läden qualitativ nicht mehr befriedigen. Zu der Erfahrung der Unterlegenheit auf produktionstechnischem Gebiet kam die des Zurückbleibens im Konsumniveau hinzu. Kein Wunder also, wenn die Masse der Bevölkerung der realsozialistischen Staaten, als sie Ende der 1980er Jahre zwischen beiden Systemen wählen konnte, sich in den ersten demokratischen Wahlen, die Plebisziten über die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gleich kamen, für die offensichtlich zukunftsträchtigere im Bereich von Wissenschaft und Technik und die für die Bedürfnisbefriedigung entsprechend dem ausgewählten Konsummodell günstigere entschied, d. h. für den Kapitalismus.

IV.

War die historische Niederlage des Realsozialismus unvermeidlich, der ökonomische Misserfolg im Osten gewissermaßen genetisch bedingt?

Aus der historischen Analyse ergibt sich, dass der Realsozialismus wirtschaftlich nicht gescheitert ist, weil er grundsätzlich die falschen Strukturen – einheitliches Staatseigentum bzw. Zentralplanung – aufwies, sondern weil er sich in den 1970er und 80er Jahren nicht in der Lage erwies, diese Strukturen auf die grundsätzlich veränderten Produktions- und Konsumtionsbedingungen einzustellen, also eine Mixed Economy umgekehrter, d. h. von der Planwirtschaft her und weiter von ihr dominierter Art aufzubauen.

Dafür, dass der Realsozialismus seinerzeit dazu prinzipiell in der Lage gewesen wäre, sprechen die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in Richtung Mixed Economy unternommenen Wirtschaftsreformen in Ungarn (Neuer ökonomischer Mechanismus) und der DDR (Neue Ökonomische Politik). Während diese Reformen nur kurzfristig (DDR) bzw. mittelfristig (Ungarn) wirkten, ist es China und Vietnam gelungen, Mixed Economies zu schaffen, die sich – bei allen Wandlungen in der Wirtschaftspolitik über die Jahre – als wirtschaftlich erfolgreich und politisch stabil erwiesen haben. In China leitete Parteichef Deng diesen Reformkurs Ende der 1970er Jahre ein. Vietnams Doi Moi (= Erneuerung)-Reformen begannen – nach der Beendigung des Krieges und dem Abbruch eines heute als verfehlt bezeichneten, ein Jahrzehnt währenden Versuchs, die Wirtschaft auf der Grundlage des zentralplanwirtschaftlichen Modells zu entwickeln – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre und haben dort ebenfalls zu einer Mixed Economy geführt, die dem Land wirtschaftlichen Erfolg und politische Stabilität beschert.

Wenn darüber nachgedacht wird, wie einer neuer Sozialismusversuch in Europa im Bereich der Ökonomie aussehen sollte, dann sind, so lange sich die Wirtschaftsentwicklung unter den produktionstechnischen Bedingungen des Postfordismus vollzieht, die in beiden asiatischen Ländern praktizierten Regulationsregime für die Ökonomie von Interesse, aber auch die seitens der Reformer in den 1960er Jahre angestrebten bzw. teilweise realisierten „neuen ökonomischen Mechanismen“.

[1] Vgl. Jörg Roesler, Von der Generalperspektive zum Neuen Ökonomischen System, in: Mannheimer Berichte, 33/1987, S. 9.

[2] Radovan Richta u. Kollektiv, Richta-Report. Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1971, S. 77.

[3] Jörg Roesler, Supranational oder intergovermental. Historische Erfahrungen mit Zusammenschlüssen auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa, in: Forschungsinstitut der Internationalen Wissenschaftlichen Vereinigung Weltwirtschaft und Weltpolitik. Berichte, Juli-August 2012, S. 97.

[4] Christian Fuchs/Wolfgang Hofkirchner, Postfordistische Globalisierung, in: Z 50 (Juni 2002), S. 155.