Günther Glaser, Armee gegen das Volk ? – Zeitgenössische Studie mit Dokumenten zur Einsatzplanung des Militärs im Innern der DDR (1949 – 1965/66). – Verlag Peter Lang, Frankfurt/M., Boston, Bonn, Bruxelles, New York, Oxford, Wien (2009), 152 S., 29,80 Euro.
Der ungehinderte Zugang zu den Aktenbeständen der DDR hat dazu geführt, dass selbst die gewöhnlich sorgsam gehüteten Geheimnisse der Politik des zweiten deutschen Staates der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können. Das ist für Historiker eine günstige Situation, die nur dadurch, allerdings gewichtig, beeinträchtigt wird, dass die entsprechenden Unterlagen der Bundesrepublik und der UdSSR nach wie vor nicht in gleichem Masse zugänglich sind. Das gilt natürlich insbesondere für die Sicherheitsfragen allgemein und die Militärpolitik speziell.
Günther Glaser, langjähriger Abteilungsleiter des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR in Potsdam gehört zu jenen Historikern, die sich seit dem Ende der DDR in besonderem Masse der dokumentengestützten Aufarbeitung der DDR-Sicherheitspolitik gewidmet haben. Als überzeugter Sozialist geht er besonders unnachsichtig mit seiner ehemaligen politischen und militärischen Obrigkeit ins Gericht. Sein Maßstab ist, wie für alle überzeugten Sozialisten, die Frage nach der Relation zwischen dem erklärten Anspruch sozialistischer Gesellschaftsgestaltung und ihrer Umsetzung in der Realität. Um es vorweg zu nehmen, sein Urteil fällt sehr rigoros aus. Er wirft der politischen Führung der DDR vor, in ihrem praktischen Handeln die verkündeten politischen Grundsätze nicht nur verletzt, sondern mit ihnen eine entgegen gesetzte Politik verschleiert zu haben. Wie in dem Titel seines Bandes angedeutet, kritisiert er, dass die politische Führung von Beginn an plante, militärische Kräfte im Innern gegen Protestaktionen der Bevölkerung einzusetzen, obwohl die Errichtung der Nationalen Volksarmee öffentlich eindeutig lediglich als Verteidigungskraft gegen Angriffe von Außen hingestellt wurde.
Der Vf. unterbreitet eine Reihe von Dokumenten, die nach seiner Ansicht diese Tatsache belegen sollen. Allerdings sind die Dokumente von unterschiedlichem Aussagewert. Neben Grundsatzdokumenten stehen auch einfache Durchführungsbestimmungen, bzw. Dienstanweisungen für militärische Einheiten und Kommandoebenen, wie sie sich sicherlich überall finden. Das birgt die Gefahr, dass notwendige Differenzierungen unter den Tisch fallen. So wäre es wünschenswert gewesen, das Dokument 1 (71 ff.) gegenüber den Folgeunterlagen etwas abzusetzen; denn hier geht es schlichtweg nur um die Aufgaben von Polizeiorganen und in diesen Zusammenhang erfolgt auch eine durchaus ernstzunehmende Auseinandersetzung mit der geleisteten Sicherheitstätigkeit der Polizeiorgane, die auch selbstkritische Züge trägt und auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Bevölkerung orientiert. Solche Akzente finden sich in den nachfolgenden Dokumenten kaum mehr. Sie erscheinen dort nur noch in Form von unverbindlichen Floskeln. Der Autor und Herausgeber hätte in dieser Hinsicht Gelegenheit gehabt, auf einen Grundmangel der herrschenden Politik aufmerksam zu machen, nämlich auf das Fehlen einer selbstkritischen Sicht auf ablehnende Reaktionen und Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die nur noch als „feindliche“ Aktionen hingestellt werden. Sie erscheinen in den Dokumenten nur noch als durchweg vom Westen fremd gesteuert. Es wird niemals auch nur andeutungsweise der Frage nachgegangen, ob nicht die eigene politische Praxis Quelle solcher Reaktionen gewesen sein könnte. Daraus erklärt sich auch, dass dagegen nur mit repressiven Maßnahmen reagiert werden sollte. Allerdings lässt das Dokument 1 bereits die Tendenz erkennen, für die SED und ihre Leitungsgremien die Entscheidungshoheit gegenüber den Staatsorganen zu beanspruchen.
Die Dokumente 4 (97 ff.), 5 (104 ff.), 6 (112 ff.), 7 (128 f.), 8 (131 ff.), 9 (142 f.), 10 (145 f.) und 11 (148 ff.) sind Belege für den Herausgeber, dass die SED-dominierte Sicherheits- und Militärpolitik entgegen öffentlicher Darstellung stets den Einsatz von militärischen Kräften auch zur Unterdrückung von Widerstandsaktionen in der Bevölkerung vorsah. Dabei darf nicht unbeachtet bleiben, dass sich die entsprechenden Aussagen in den Dokumenten immer wieder widersprechen, zumindest aber untereinander differieren, so dass von einer uneingeschränkten Festlegung auf einen Militäreinsatz „gegen das Volk“ nicht die Rede sein kann. Es werden immer wieder Bedingungen und Einsatzgebiete dafür genannt, die auf eine existenzgefährdende Notstandssituation hinweisen. Und hier wirkt sich negativ aus, dass es in der DDR keine öffentlich verhandelte Gesetzesregelung für Notstandsfälle gab. Das barg die Gefahr in sich, willkürlichen Entscheidungen Tür und Tor zu öffnen, was in der Tat nicht im Interesse der Bevölkerung sein konnte. Entscheidungen wurden in Gremien verlagert, die keiner gesetzlich festgelegten präzisen Kontrolle unterlagen, wie das Politbüro, der Nationale Verteidigungsrat oder sogar eigens dafür geschaffenen Kommissionen von Politbüro-Mitgliedern (Vgl. 95 und 142).
Mit Zurückhaltung ist die Diskussion der in diesem Bande aufgeworfenen Thematik über eine scharfe Trennung des Einsatzes von Militär- und polizeilichen Einsatzkräften aufzunehmen. Es gibt immer wieder Vorstöße, eine Arbeitsteilung zwischen lokalen, regionalen und nationalen Sicherheitskräften vorzunehmen, bei denen die Wahrung von Ordnung und Sicherheit im Innern ausschließlich den Polizeiorganen zugewiesen wird, während militärischen Kräften ausschließlich die Verteidigung gegen Angriffe von Außen und Militäraktionen gegen andere Staaten obliegen.
Diese Trennung funktioniert allenfalls unter „Normal“verhältnissen. Sie wird immer wieder in Frage gestellt und letztlich über den Haufen geworfen, wenn die herrschenden Verhältnisse gefährdende Situationen eintreten.
Das hat seine Ursachen in der Rolle und Bedeutung von bewaffneten Organen generell. Alle bewaffneten Formationen stellen Machtmittel dar, und wenn es um die Erhaltung von Machtverhältnissen geht, werden sie auch eingesetzt. Es gibt kein gesellschaftspolitisches System in den letzten 300 Jahren, in dem die Machtausübenden gezögert hätten, zur Erhaltung ihrer Positionen das Militär auch gegen das eigene Volk einzusetzen. Der Kürze halber sei nur auf Preußen in der Revolution von 1848/49 und auf die Weimarer Republik mit ihren Reichsexekutionen hingewiesen. Dass die Nazidiktatur sich in dieser Hinsicht keinerlei Hemmnisse auferlegte, versteht sich von selbst. Aber auch in den westlichen Ländern mangelt es nicht an Beispielen (Siehe: Ereignisse in Griechenland, in der Türkei, in Chile, in Argentinien und sogar in Großbritannien.) Auch die immer wieder aufflammende Diskussion um einen möglichen Einsatz der Bundeswehr im Innern gehört hierher. Letztlich geht es immer wieder um die Rolle von bewaffneter Macht zur Bewältigung von politischen Krisensituationen, die einer gesetzlich genau bestimmten Terminierung und der Kontrolle der Volksvertretung unterworfen sein müssen. Dass es daran in der DDR mangelte, wurde schon betont, und die veröffentlichten Dokumente belegen es nachdrücklich.
Man kann über das hier behandelte Thema trefflich streiten. Letztlich ist auch hier die Praxis der einzig gültige Maßstab. Auch wenn Günther Glaser nur Dokumente für den Zeitraum bis in die 60er Jahre vorlegt und auswertet, darf nicht ausgeblendet werden, wie mit der Frage des Einsatzes des Militärs nach Innen in einer politischen Krisensituation wirklich verfahren wurde. Was da in den Dokumenten enthalten ist, sind Einsatzbefehle und Orientierungen für eventuell mögliche Fälle. Im Verhalten der politischen und militärischen Führung der DDR in der tatsächlichen Existenzkrise hat sich jedoch erwiesen, dass sich jene Kräfte durchgesetzt haben, die einen Einsatz im Innern nur für rechtens ansahen, wenn eine offensichtliche militärische Intervention von Außen drohte, aber nicht, wenn im Innern breite Schichten des Volkes der Führung die Gefolgschaft begründet aufkündigten und somit die Legitimität der bestehenden Ordnung in Frage stand. Die Entscheidungsträger in der Führung der SED, in der Regierung der DDR und in den bewaffneten Kräften haben 1989/90 der Versuchung widerstanden, die ihnen zu Gebote stehenden Machtmittel für die Erhaltung der von der Bevölkerung nicht mehr mitgetragenen Gesellschaftsverhältnisse einzusetzen und eine bürgerkriegsähnliche Situation heraufzubeschwören, vielmehr haben sie eine weitgehend gewaltfreie Veränderung der Machtverhältnisse möglich gemacht. Ob jemals wieder eine herrschende Schicht sich so verantwortungsbewusst verhalten wird, bleibt abzuwarten.
Damit wird die Gültigkeit der in den Dokumenten enthaltenen Aussagen zwar etwas relativiert, aber das bedeutet nicht, dass man sich mit ihnen nicht auseinandersetzen muss; denn die in ihnen enthaltenen Denkfiguren und Handlungsorientierungen waren nun einmal in den Führungskreisen präsent. Namentlich für die Diskussion um Grundsätze und Ziele linker alternativer Politik ist es wichtig, die Lehren aus dem Scheitern des sozialistischen Gesellschaftsprojektes in der DDR zu ziehen. Das betrifft auch den Umgang mit Sicherheits- und militärpolitischen Fragen, die nachhaltig die Untauglichkeit des sicherheitspolitischen Vorgehens der DDR-Führung belegen. Es ließ klare und durchschaubare Strukturen und Funktionszuweisungen, die durch Mehrheitsentscheidungen festgelegt werden, vermissen. Die praktizierte Politik war letztlich auf den einseitigen Machterhalt der Regierenden ausgerichtet und nicht auf mehrheitliche Zustimmung gegründet. Das steht im Widerspruch zu dem Ziel einer sozial gerechten, menschenwürdigen und auf friedliches Zusammenleben orientierten Gesellschaft. Günther Glaser hat mit der Veröffentlichung der vorliegenden Dokumente einen Beitrag geleistet, damit beim Nachdenken über eine mögliche alternative Politik auf diesem Gebiet nicht Fehler und Irrwege wiederholt werden, deren Ungeeignetheit sich bereits in der DDR erwiesen hat.
Helmut Meier