I.
Eine Grundannahme des historischen Materialismus lautet bekanntlich, dass wesentliche geschichtliche Entwicklungen nicht primär aus zufälligen Bewusstseinsinhalten der Akteure zu erklären sind, sondern dass sich vielmehr das jeweils herrschende Bewusstsein in Auseinandersetzung mit bestimmten Bedingungen herausbildet. Zu diesen Bedingungen gehören vor allem gesellschaftliche Beziehungen, in denen Menschen ihre Nachkommen großziehen und erhalten und in denen sie ihre Lebensmittel im weitesten Sinne herstellen (Produktionsverhältnisse); dazu gehören ferner die für diese Herstellung verwendeten Technologien auf einem bestimmten Entwicklungsstand (Produktivkräfte). Karl Marx und Friedrich Engels veranschaulichen ihren Geschichtsmaterialismus unter anderem am Beispiel Frankreichs, wo sich eine industrielle Bourgeoisie und ein Proletariat herausgebildet hatten, ehe die Französische Revolution den Weg freimachte für den Kapitalismus und die bürgerliche Republik, d.h. für die Schaffung von politischen, juristischen und intellektuellen Verhältnissen, die zur neuen gesellschaftlichen Basis der Produktion passten.
Den Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft beschreibt Marx dabei als widersprüchlichen Prozess: „Der unmittelbare Produzent, der Arbeiter, konnte erst dann über seine Person verfügen, nachdem er aufgehört hatte, an die Scholle gefesselt und einer andern Person leibeigen oder hörig zu sein. Um freier Verkäufer von Arbeitskraft zu werden, der seine Ware überall hinträgt, wo sie einen Markt findet, mußte er ferner der Herrschaft der Zünfte, ihren Lehrlings- und Gesellenordnungen und hemmenden Arbeitsvorschriften entronnen sein. Somit erscheint die geschichtliche Bewegung, die die Produzenten in Lohnarbeiter verwandelt, einerseits als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang; und diese Seite allein existiert für unsre bürgerlichen Geschichtsschreiber. Andrerseits aber werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotnen Garantien ihrer Existenz geraubt sind.“ (Marx, 1867/1989, 743)
In den 1970er Jahren machten französische, später auch westdeutsche Vertreter der so genannten Regulationstheorie darauf aufmerksam, dass es zu derartigen Umwälzungen Marx zufolge nicht nur im Übergang zwischen den großen „Gesellschaftsformationen“ kommt, sondern auch innerhalb des Kapitalismus (vgl. Tanner 1999). Sie erinnerten an Antonio Gramscis Analyse des „Fordismus“ als einer besonderen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die in den 1920er Jahren aufblühte und rund ein halbes Jahrhundert später zu Ende ging. In den folgenden vier Jahrzehnten konnte man beobachten, wie sich eine neue Produktionsweise herausbildet, die „Postfordismus“, „Toyotismus“ oder später „Hightech-Kapitalismus“ genannt wurde und in der Computer die „Leitproduktivkraft“ darstellen (vgl. Haug 2003).
Zwei Thesen in Bezug auf diese Produktionsweise sollen hier zumindest plausibel gemacht werden: Erstens lassen sich die Veränderungen zwischen 1974 und 2014 unter anderem als Anwachsen der Unsicherheit für die abhängig Beschäftigten beschreiben. Zweitens werden die abhängig Beschäftigten zunehmend psychisch beansprucht und belastet, einerseits durch die jeweilige Art ihrer Tätigkeit, andererseits durch den Zwang, in einer insgesamt reichen Gesellschaft mit unsicheren Verhältnissen zurechtkommen zu müssen. Beides findet vor dem Hintergrund einer zunehmenden Automatisierung der industriellen Produktion statt, die unter dem vom Physiker John D. Bernal geprägten Begriff der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ insbesondere auch in den sozialistischen Ländern diskutiert wurde (vgl. Laitko 1996).
II.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs eine Generation heran, die nicht mehr erlebt hatte, was ihre Eltern oft „die schlechte Zeit“ nannten. Die Ökonomie prosperierte, in Westdeutschland gab es gar ein „Wirtschaftswunder“, und bald konnten sich selbst proletarische Familien Autos, Kühlschränke oder Reisen leisten, Konsumgüter, die für den Großteil der Bevölkerung bis dahin unerreichbar gewesen waren. Dies gab einem Teil der damaligen Jugend, Studierenden und Lehrlingen, die Freiheit, nach dem Preis für die Allianz von Wohlstand und Konformität zu fragen und nach neu zu gewinnenden Lebensmöglichkeiten, für die die überlieferten Verhältnisse keinen Platz ließen.
Einen politischen Ausdruck fanden die Umbrüche des „Goldenen Zeitalters“ (Hobsbawm) in den Protestbewegungen der 1960er und 70er Jahre, die in ihren Zielen, Forderungen und Aktivitäten verschiedene Motive verschmolzen: Sie kritisierten einerseits Beschränkungen individueller Handlungsfreiheit durch gesellschaftliche Institutionen und Zwänge – die Sexualmoral, die Strafverfolgung der Homosexuellen, gewalttätige Erziehungsformen, Erziehungsheime und Psychiatrien sowie Rassismus und Frauendiskriminierung –, andererseits Klassenspaltung, kapitalistische Vergesellschaftung und Imperialismus. Damit griffen die Protestierenden Themen auf, die bereits in den 1920er Jahren politisch virulent gewesen waren, deren Artikulation aber aufgrund der Weltwirtschaftskrise, des Faschismus und des Weltkriegs teilweise hatte zurückgestellt werden müssen. So hatte es etwa bereits in der Weimarer Republik Organisationen gegeben, mit denen sich Frauen, Homosexuelle oder Behinderte für ihre Rechte engagierten. In den sozialistischen Ländern lagen die Akzente anders: Wo es zu Protestbewegungen kam, etwa in der ČSSR und in Jugoslawien, richteten sie sich gegen die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Sozialismus (vgl. Ebbinghaus 2008).
Während der 1970er Jahre schwand in der BRD allmählich der Veränderungsoptimismus. Nicht die eine große gesellschaftliche Umwälzung stand offenbar bevor, sondern „Mühen der Ebene“. Persönlichen Erfahrungen wurde mehr Aufmerksamkeit geschenkt, was sich etwa in der Formel der Frauenbewegung ausdrückte, wonach das Private politisch sei.
Rund ein Jahrzehnt nach 1968 schien sich ein neuer „Generationenkonflikt“ anzukündigen. In einem essayistisch gehaltenen Vortrag auf einer Tagung der GEW problematisierte Holzkamp (1980) das ihm gestellte Thema: „Jugend ohne Orientierung?“ Mit einer solchen Frage wendeten sich Erwachsene offenbar nicht direkt an die Jugendlichen, sondern an Wissenschaftler, die ihnen erklären sollten, was mit der Jugend los sei. Auf diese Weise zeige sich eine Trennung zwischen Jugend und Erwachsenendasein. „Der durchschnittliche Lebenslauf eines Menschen in unserer Gesellschaft“, sagt Holzkamp, „zerfällt in zwei Abschnitte. Einen ‚Jugend‘ genannten Abschnitt, in dem man lernt und sich entwickelt, und einen Abschnitt, in dem das Lernen und die Entwicklung im Wesentlichen abgeschlossen ist und in dem man als ‚Erwachsener‘ seinem Berufsleben nachgeht, heiratet, Kinder kriegt usw.“ (Holzkamp 1980, 199) Mit der Erwachsenenphase gehe eine „Behinderung menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten“ einher, die sich „aus der Klassenspaltung unserer Gesellschaft“ und der „Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit“ ergebe. Damit sei der Großteil der Bevölkerung von der „gemeinschaftlichen Verfügung über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen, damit ihrer eigenen Selbstbestimmung, ausgeschlossen“ (S. 200f). Die Individuen stünden vor der Alternative, „sich in der Abhängigkeit einzurichten“ oder sich „im Zusammenschluss mit anderen Einfluss auf die gesellschaftlichen Lebensumstände“ zu verschaffen. Wo die Erwachsenenexistenz einen Bruch im Lebenslauf darstellt, erschienen die noch offenen Möglichkeiten der Jugend als Provokation. „Durch die Begegnung mit der Jugend werden die (...) verdrängten Alternativen, die man selbst hatte und aus Kleinmut und Risikoscheu verschenkt hat, wieder virulent. Eine solche ‚Wiederkehr des Verdrängten‘ (...) erzeugt aber Angst und macht erneute Anstrengungen zur Stärkung des Abwehrsystems erforderlich. Dabei ist es ein naheliegender Weg, die in der Jugend selbst verkörperten Lebensmöglichkeiten durch deren Ausgrenzung, Abwertung, Denunzierung zu leugnen (…).“ (Ebd., 203)Um diese Zeitdiagnose einschätzen zu können (in der übrigens eine dritte Lebensphase, das höhere Erwachsenenalter, gar nicht vorkommt), muss man sich vergegenwärtigen, dass „Lehrbücher der Entwicklungspsychologie (...) bis in die siebziger Jahre hinein die Entwicklung des Menschen mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter enden“ ließen (Kaiser 2005, 475). Holzkamps Eindruck, mit dem Eintritt ins Erwachsenen- und Berufsleben beginne eine Phase relativer Stagnation, dürfte auch etwas mit dem damals noch fordistischen Kapitalismus zu tun gehabt haben. Der US-amerikanische Soziologe Richard Sennett (2002, 313) spricht rückblickend von einer „bürokratischen Pyramide“ und von einer „institutionellen Starrheit der alten Ordnung“, die allerdings im Zuge der 1970er und 80er Jahre zugunsten eines „flexiblen Kapitalismus“ und einer „Ideologie der Flexibilität“ zerschlagen worden sei. Diese betone „Risikobereitschaft und Spontaneität“ und führe dazu, dass die „Lebensgeschichte des Einzelnen (...) nicht mehr festgefügten Mustern“ folge (ebd.). Zu diesem „flexiblen Kapitalismus“ gehöre wachsende Unsicherheit und eine Polarisierung von Reichtum und Armut.
Was Ulrich Beck (1986) als ein Prozess der Erosion von sozialen Klassen und Schichten erschien, war in Wirklichkeit eine Umgruppierung der Klassen infolge eines Rückgangs der industriellen Arbeit. Eric Hobsbawm beschrieb diese Entwicklung so: „Die alten Industrien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verschwanden zusehends. (…) Bergarbeiter, die einst in Hunderttausenden (…) gezählt wurden, prägten das Bild nun weniger als Universitätsabsolventen. In der Stahlindustrie der USA arbeiteten mittlerweile weniger Menschen als in den ‚Hamburger‘-Gaststätten von McDonald’s. Und dort, wo die traditionellen Industrien noch erhalten geblieben waren, wurden sie nun aus den alten in die neuen Industriestaaten verlagert. (…) Die neuen Industrien, die die alten zu ersetzen begannen, gehörten weder den gleichen Industriezweigen an, noch befanden sie sich am gleichen Ort, und in den meisten Fällen waren sie auch völlig anders strukturiert.“ (Hobsbawm 2007, 381)
Was erodierte, war ein bestimmter Typ von proletarischer Lebenslage, Mentalität und Solidarität, der Ausdruck des Umstandes war, dass Arbeiterinnen und Arbeiter „durch die gewaltige Klassentrennung der Gesellschaft geeint gewesen“ waren: „Getrennte Lebensstile, sogar unterschiedliche Kleidung und nicht zuletzt ihre begrenzten Lebenschancen unterschieden sich deutlich von den sozial mobileren Angestellten (…). Arbeiter lebten anders als die anderen, mit anderen Lebenserwartungen und an anderen Orten. (…) Schließlich waren die Arbeiter durch das zentralste Element ihres Lebens geeint, nämlich durch ein kollektives Bewusstsein: durch die Dominanz des ‚Wir’ über das ‚Ich’. Alle Arbeiterbewegungen und Parteien hatten ihre Kraft aus der gerechtfertigten Überzeugung der Arbeiter geschöpft, dass Menschen wie sie Fortschritte nicht durch Einzelaktionen, sondern nur durch kollektive und vorzugsweise von Organisationen gesteuerte Aktionen erreichen konnten, ob in Gestalt von gegenseitiger Hilfe, Streiks oder Wahlen.“ (Ebd., 385f.)
Nach dem Ende der europäischen sozialistischen Staaten erschien vielen der Kapitalismus als das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama). Die Ausdehnung des kapitalistischen Weltmarkts und der Aufstieg der „New Economy“ gingen auch in Westeuropa einher mit der Etablierung einer neoliberalen Politik. Diese beinhaltete eine Schleifung sozialstaatlicher und arbeitsrechtlichen Sicherungen, stagnierende Löhne, insgesamt eine Umverteilung von unten nach oben, den Abbau des öffentlichen Dienstes und „Standortnationalismus“. Passend zu einer zunehmend flexibleren Produktion sollte ein „flexibler Arbeitsmarkt“ hergestellt werden (vgl. Bourdieu 1998). Die Sozialdemokratie schwenkte auf den neoliberalen Kurs ein, was sich etwa im so genannten Schröder-Blair-Papier von 1999 dokumentierte. Als Ergebnis der von der rot-grünen Bundesregierung eingeleiteten „Agenda“-Politik verfügt die BRD heute nach Litauen über den anteilig größten Niedriglohnsektor in Europa (vgl. Spiegel online, 27.7.2013) und einen hohen Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse von fast 25 Prozent.[1]
Junge Frauen und Männer, die eine Ausbildung machen, studieren oder in den Beruf einsteigen, haben keine anderen Verhältnisse mehr kennengelernt. Klaus Hurrelmann und Erik Albrecht (2014) betrachten dies als Erfahrungshintergrund einer „Generation Y“. Verbreitet seien, so die Autoren, ein spätes Erreichen typischer Merkmale des Erwachsenendaseins (existenzsicherndes Einkommen, Familiengründung), Hinauszögern biografischer Entscheidungen, Distanz gegenüber der Politik und intensive Bildungsanstrengungen (wobei, so ließe sich hinzufügen, die rigide Struktur der Bachelor- und Masterstudiengänge zugleich das Versprechen beinhaltet, durch „praxisnahe“ Ausbildung einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen). Insgesamt sind die Zeitdiagnosen der Autoren jedoch eher kritisch einzuschätzen, behandeln diese doch die „Generation Y“ oft als einheitliches Subjekt, dem sie Absichten unterschieben, die möglicherweise eher ihrer eigenen Weltsicht entspringen, etwa wenn sie behaupten, „die Ypsiloner“ wollten „Lernunternehmer“ und „Bildungsmanager in eigener Sache“ sein (Hurrelmann & Albrecht 2014, 58).
III.
Bereits in den Anfängen des Fordismus im Rahmen war der als „Scientific Management“ aufgefasste „Taylorismus“ ein Thema, mit dem man sich in der Psychologie – auch kritisch – beschäftigte (z.B. Lewin 1920). Aber erst ab den 1970er Jahren scheint der Einfluss der Psychologie auf die industrielle Arbeit bedeutend anzuwachsen; im Rahmen einer „Humanisierung der Arbeit“ möchte man die Beschäftigten durch „job enrichment“, „job rotation“ und autonome Gruppenarbeit dazu bringen, sich mit den Zielen des Unternehmens zu identifizieren (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975). Dieter Henkel und Dorothee Roer vertreten bereits die These, dass es durch „strukturelle Veränderungen im Produktionsprozess zu einer massiven Verschiebung in der Struktur der Lohnarbeit von physischer zu psychischer Belastung“ gekommen sei (Henkel & Roer 1979, 388). Vor Augen haben sie dabei allerdings noch klassisch fordistische Fabrikarbeit und Anforderungen wie „z.B. konzentrierte Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit bei der Kontrolle halb- oder vollautomatischer Maschinen und das ‚Durchhalten‘ von Monotonie“ (ebd.). Mit der Ausdehnung des Sektors bezahlter und unbezahlter Dienstleistungen, für den „emotionale Arbeit“ zentral ist, gewinnt die These von der wachsenden psychischen Belastung neue Bedeutung (vgl. Kaindl 2008).
In jüngerer Zeit wird verstärkt über die Ursachen für den Anstieg so genannter depressiver Störungen diskutiert: Während die einen meinen, es handele sich lediglich um ein Artefakt, das durch eine verbesserte Diagnostik und größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit entstanden sei, gehen die anderen von einer realen Zunahme depressiver Erkrankungen aus, die sie nicht zuletzt durch die Erfahrungen mit deregulierten Beschäftigungsverhältnissen veranlasst sehen; als Risikofaktoren werden insbesondere Bedrohung durch Erwerbslosigkeit oder Dequalifizierung, mangelnde Gratifikationen und mangelnder Einfluss auf die Arbeitsbedingungen bei gleichzeitig hohen Anforderungen gesehen (vgl. Knebel 2013; zum Anstieg psychosozialer Belastungen in der heutigen Arbeitswelt: Pickshaus 2014). Für Alain Ehrenberg (2004) ist die Depression die Kehrseite der heute herrschenden gesellschaftlichen Maximen. Zu Sigmund Freuds Zeiten, so Ehrenberg, erwuchs psychisches Leiden aus einem Konflikt mit dem „Über-Ich“, das streng darüber wachte, außereheliches Begehren und Hass gegenüber Mitbürgern oder Autoritäten nicht offen zum Ausdruck zu bringen. Die heutige Gesellschaft hingegen appelliere an individuelle Autonomie und Initiative, in deren Mittelpunkt das Glücksstreben stehen soll. In der Depression sieht Ehrenberg eine symbolische Verneinung dieser bürgerlichen Ideale. Anders gesagt: „Der niedergedrückte, lust- und freudlose, antriebslose (…), sich schuldig, müde und leer fühlende Depressive verkörpert das Gegenteil zum neoliberalen Wunschsubjekt, das die Forderungen nach Selbstverwirklichung, Eigeninitiative, Mobilisierung positiver Affekte und Vermarktung der eigenen Arbeitskraft (zeitweise) nicht erfüllen kann.“ (Knebel 2013)
Allerdings trägt der Ansatz Ehrenbergs einen deutlich apologetischen Zug, denn in ihm erscheint das Depressionsrisiko als notwendiger Preis für individuelle Freiheit und eine Vielzahl von Optionen. Dagegen ließe sich einwenden, dass der Verlust von sozialer Sicherheit für die abhängig Beschäftigten Unfreiheit bedeutet; das Problem sind nicht zu viele Optionen, sondern allenfalls fehlende verlässliche Hinweise darauf, welche der Alternativen – z.B. bei der Berufs- und Studienwahl oder beim Zeitpunkt der Familiengründung – im deregulierten Kapitalismus zu einem wünschenswerten oder zumindest akzeptablen Ergebnis führt. Oder, wie es bei Hurrelmann und Albrecht in Bezug auf die „Generation Y“ heißt: Bei „jedem Übergang im Lebenslauf müssen Jugendliche gewaltige Kräfte mobilisieren. Die Gefahr, es nicht zu schaffen, wird umso größer, je offener und unstrukturierter die Lebensläufe sind.“ (Hurrelmann & Albrecht 2014, 35) Dass Menschen unter diesen Umständen manifeste Schwierigkeiten haben, gesellschaftliche Anforderungen motiviert zu übernehmen, kann eigentlich nicht erstaunen. Die Rede von den angeblich offenen Lebensläufen verdeckt allerdings, dass für die (künftig) abhängig Beschäftigten viele attraktive Laufbahnen statistisch unerreichbar und vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unbeeinflussbar bleiben, solange nicht an der Entwicklung einer wirksamen Gegenmacht gearbeitet wird.
Literatur
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt/M.
Bourdieu, Pierre (1998): Gegenfeuer. Konstanz
Ebbinghaus, Angelika (Hrsg.) (2008): Die letzte Chance? 1968 in Osteuropa. Hamburg
Ehrenberg, Alain (2004): Das erschöpfte Selbst. Frankfurt/M.
Haug, Wolfgang Fritz (2003): High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie. Hamburg
Henkel, Dieter & Dorothee Roer (1979): Die Politik der klinisch-psychologischen Standesverbände. Kritische Psychologie (I) Argument Studienheft 24, S. 337-422
Hobsbawm, Eric (2007): Das Zeitalter der Extreme. München
Holzkamp, Klaus (1980): Jugend ohne Orientierung? Forum Kritische Psychologie 6, 196-208
Holzkamp-Osterkamp, Ute (1975): Motivationsforschung 1. Frankfurt/M.
Hurrelmann, Klaus & Erik Albrecht (2014): Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation Y unsere Welt verändert. Weinheim
Kaindl, Christina (2008): Emotionale Mobilmachung – „Man muss lange üben, bis man für Geld was fühlt“. In L. Huck et al., (Hrsg.), „Abstrakt negiert ist halb kapiert“. Beiträge zur marxistischen Subjektwissenschaft. Morus Markard zum 60. Geburtstag (65-85). Marburg
Kaiser, Heinz Jürgen (2005): Gerontopsychologie. In J. Straub, W. Kempf, H. Werbik (Hrsg.), Psychologie. Eine Einführung (472-495). München
Knebel, Leonie (2013): Anstieg „depressiver Störungen“ im neoliberalen Kapitalismus? Kritisch-psychologische Anmerkungen zu Methode und Ergebnissen der Depressionsforschung. Forum Gemeindepsychologie, 18 (1), http://gemeindepsychologie.de/fg-1-2013_06.html
Laitko, Hubert (1996): Wissenschaftlich-technische Revolution: Akzente des Konzepts in Wissenschaft und Ideologie der DDR. Utopie kreativ, Nr. 73/74, S. 33-50
Lewin, Kurt (1920): Die Sozialisierung des Taylor-Systems. Berlin
Marx, Karl (1989): Das Kapital, Bd. 1. Berlin
Pickshaus, Klaus (2014): Rücksichtslos gegen Gesundheit und Leben. Gute Arbeit und Kapitalismuskritik – ein politisches Projekt auf dem Prüfstand. Köln
Sennett, Richard (2002): Respekt im Zeitalter der Ungleichheit. Berlin
Tanner, Jakob (1999): Fordismus. In: W.F. Haug (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 4 (588). Hamburg
[1] Vgl. http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/submitViewTableAction.do;jsessionid=9ea7d07d 30d7f725d994c750447eb0e2d4589448f30e.e34OaN8PchaTby0Lc3aNchuNahaMe0