Neue Weltordnung

Vom Ende der Bipolarität zurück in die Anarchie?

Der unipolare Augenblick und der Versuch zur hegemonialen Umgestaltung der Welt

von Werner Ruf
Dezember 2014

„Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit ... ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham (unshamed) die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie auch durchzusetzen.” Dies war die Politikempfehlung, die Charles Krauthammer, erzkonservativer Kolumnist der Washington Post, 1991 in seinem viel beachteten Aufsatz „The Unipolar Moment“ an die US-Regierung richtete.[1] Umgesetzt werden sollte diese Vision durch das neo-konservative Konzept des Project for a New American Century (PNAC), das durch eine gigantische Erweiterung der globalen Militärpräsenz der USA (Rebuilding America’s Defenses, so der Untertitel), die Hegemonie für das beginnende Jahrhundert absichern sollte.[2] In Europa aber herrschte damals Euphorie, die Hoffnung auf die Beseitigung der gegenseitigen nuklearen Vernichtungskapazität. Die hehren Ziele, die auf den großen Friedensdemonstrationen zu Beginn der 80er Jahre formuliert worden waren, schienen in greifbarer Nähe. Der 2+4-Vertrag, der die Einigung der beiden deutschen Staaten und das Regime von Potsdam beendete, liest sich als wahres Friedensdokument. Das von Gorbatschow visionär ausgemalte „Gemeinsame Haus Europa“ schien nur noch auf die innenarchitektonische Ausgestaltung zu warten.

Was sich nun als Zäsur zeigte, hatte 1973/74 begonnen mit der in Helsinki angesiedelten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, an der die 15 NATO-Staaten, sieben Staaten der Warschauer Vertragsorganisation und dreizehn neutrale Staaten Europas teilnahmen. Die Krönung dieses Prozesses war schließlich jenes Schlussdokument des KSZE-Prozesses, die Charta von Paris, die die Ost-West-Konfrontation ein für allemal beenden und eine friedliche Ordnung in Europa schaffen sollte. Ganz im Gegensatz zu Geist und Buchstaben dieses Abkommens ging es den USA darum, die Gunst der Stunde zu nutzen und ihren hegemonialen Anspruch durchzusetzen.

Ihm stand – jenseits der KSZE-Schlussakte – die Charta der Vereinten Nationen entgegen, deren Art. 2.4 die Androhung und Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen verbietet, und vor allem Art. 2.7, der Eingriffe in die innere Souveränität der Staaten ausschließt. Nach dem Ende des 2. Golfkriegs (am 27. Februar 1991 hatte Saddam Husseins Regierung in Bagdad sich sämtlichen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats unterworfen und mit dem Rückzug seiner Truppen aus Kuwait begonnen) beschloss der UN-Sicherheitsrat am 5. April die Resolution 688, die erstmalig – und unter Berufung auf den Schutz von Menschenrechten – Hilfsorganisationen unter dem Schutz leicht bewaffneter UN-Kräfte den Zugang zu allen Teilen des Landes eröffnete.[3] Hier begann die Entwicklung einer völkerrechtlichen Debatte, die in der reponsibility to protect ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hat.

Der Austritt der Sowjetunion aus der Weltgeschichte und die Selbstauflösung der Warschauer Vertragsorganisation stellten die bestehende Sicherheitsarchitektur des Westens vor eine große Legitimationsanforderung. Die NATO, von Beginn an auch als Instrument zur Kontrolle der westeuropäischen Verbündeten konzipiert, beschwor nun zur Rechtfertigung ihrer Existenz die so genannten „neuen Risiken“ wie: Proliferation von Massenvernichtungswaffen, internationale Kriminalität, Drogenhandel, ökologische Gefährdungen, Migrationsbewegungen, Terrorismus …[4] In diese Suche nach einem neuen Feind fiel pünktlich der viel beachtete Aufsatz des rechtskonservativen Samuel P. Huntington „The Clash of Civilizations“, der im Islam den neuen Feind des Westens ausmachte.[5] Damit wurde ein neues Sicherheitsparadigma geschaffen: die „Kultur“ – im engeren Sinne die Religion. Bisher war Verteidigung territorial verortet. Mit den neuen Bedrohungen wurde diese territorial entgrenzt und diffundierte im globalen Raum. Über Landesgrenzen hinweg konnte jedes ökonomische, soziale oder kulturelle Phänomen „versicherheitlicht“ und zur Bedrohung in der globalisierten Welt stilisiert werden, wovon die nun einsetzende Debatte über securitization zeugt.[6]

Die ersten konkreten Schritte zur Umsetzung des Konzepts waren der von George W. Bush nach den Anschlägen des 11. September 2011 ausgerufene – grenzenlose! – „Krieg gegen den Terror“ und das grenzüberschreitende Konzept der „Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens“, das davon ausging, dass die dort existierenden Diktaturen eine potenzielle Sicherheitsgefährdung darstellten und deshalb eine politische und teilweise territoriale Neuordnung dieses Raums notwendig sei.[7] Dass diese Neuordnung nicht mit einem Angriff auf Saudi-Arabien, sondern 2003 mit dem Krieg gegen den Irak begann, zeigt die Fadenscheinigkeit des Arguments.

Niedergang der USA – und der NATO?

Kein geringerer als Zbigniew Brzezinski hat eindrucksvoll den Niedergang der Macht der USA beschrieben.[8] Seine Darstellung erscheint wie eine Illustration des brillanten Werks von Paul Kennedy über den Aufstieg und Fall der großen Mächte:[9] Starke und wachsende Ökonomien ermöglichen den Aufbau starker Streitkräfte, die zur Sicherung imperialer Dominanz verhelfen. Doch kommt der Punkt des Umschlags in die „militärische Überdehnung“: Die Streitkräfte bestehen zwar fort, wachsen sogar noch, aber sie zerstören die ökonomische Leistungsfähigkeit des Systems. Daraus folgt: wachsende soziale Unzufriedenheit, zunehmender Rassismus, wachsende Kriegsmüdigkeit nach den verlorenen Kriegen in Afghanistan, Irak und Libyen. Die Ermordung des dortigen US-Botschafters und weiterer Botschaftsmitarbeiter am 12. September 2012 wurde als besondere Demütigung empfunden.

Der deutsche Bundeskanzler Schröder, der noch bei der Invasion in Afghanistan Präsident Bush seiner „uneingeschränkten Solidarität“ versichert hatte, weigerte sich 2003, dem Hegemon in den Krieg gegen Irak zu folgen. Und als die USA und die NATO 2011 die Führung des Krieges gegen Libyen übernahmen, enthielt sich Deutschland im Sicherheitsrat der Stimme für das Mandat, eine „Flugverbotszone“ für das im Aufruhr befindliche Land einzurichten. Nur 14 der inzwischen 28 NATO-Staaten beteiligten sich am Krieg zum Sturz Qadhafis. Zwar ist Frankreich unter Sarkozy in die Militärstruktur der NATO zurückgekehrt, aber wichtige NATO-Staaten wie Kanada und Frankreich haben ihre Truppen vorzeitig aus Afghanistan zurückgezogen. Besonders akut ist für Bestand und Effizienz der NATO die aktuelle Krise um die Ukraine: Durch das Land fließen die wichtigsten energetischen Transportwege von Russland nach Westeuropa. Die Hypothese, die hier nicht weiter entwickelt werden kann, ist, dass hinter der offiziellen Darstellung der wirkliche Konflikt zwischen den europäischen Wirtschaftsmächten und den USA stattfindet, die mit Hilfe der NATO ihre Kontrolle über Europa sichern wollen, während die Europäer – allen voran Deutschland – die wirtschaftlichen und Handelsbeziehungen mit Russland sichern wollen. Hinter der offiziellen Fassade der Solidarität tun sich tiefe Gräben auf.

Auf dem Weg zur multipolaren Welt

Schon früh im Zeitalter der Bipolarität hatte eine dritte Kraft versucht, sich neben den Blöcken zu etablieren. Ihren Anfang nahm die Bewegung auf der Konferenz von Bandung 1955, wo auch der Begriff „Dritte Welt“ kreiert wurde. Teilnehmer waren die damals schon unabhängigen Kolonien und Befreiungsbewegungen mit Beobachterstatus. Doch die Blockkonfrontation spielte auch in diese Organisation hinein: Führungsmächte wie Indien standen immer mehr an der Seite des Westens, während etwa Cuba sich auf die Partnerschaft mit der Sowjetunion stützte. Für den Erhalt der „Blockfreien“ war auch die so genannte „strategische Rente“ nicht unwichtig, die viele Regierungen aus der Nähe zur einen oder anderen Supermacht ziehen konnten: Budgethilfen, Rüstungslieferungen, militärische Ausbildungsprogramme, aber auch Zahlungen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, oft im Gegenzug für die Bereitstellung von Militärbasen, stabilisierten die jeweiligen Regierungen und trugen bei zu ihrer staatlichen Existenz. Mit dem Ende der Bipolarität schwand dieses Interesse der großen Mächte. Der sich ab den 90er Jahren ausbreitende Staatszerfall ist zu Teilen auch dieser weltpolitischen Veränderung geschuldet.

Wichtigstes wirtschaftspolitisches Instrument der Blockfreien war die UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development), auch Gruppe der 77 genannt, die sich 1964 in Genf gegründet hatte. Ihre Hauptziele waren die Veränderung der herrschenden Weltwirtschaftsordnung, höhere Preise für Rohstoffe, höhere Leistungen der Entwicklungspolitik, eine allgemeine Schuldenentlastung und die Verstärkung des Süd-Süd-Handels. Ferner forderten sie die Abkopplung vom Weltmarkt, um so eine eigenständige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu erreichen.[10] Insgesamt hat das Ende der Bipolarität den Einfluss dieser Gruppe erheblich geschwächt, führende Mitgliedsstaaten wie Jugoslawien sind zerfallen oder wurden zerstört.

Dafür entwickeln sich seit der Jahrtausendwende neue regionale aber auch transkontinentale Zusammenschlüsse. Zu nennen ist zunächst die Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit (ShOZ, gegründet 2001), die hervorging aus dem „Shanghai 5 Mechanismus“, in dem sich China, Russland, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan zusammengeschlossen hatten, um ihr jeweiliges Militär an den Grenzen zu reduzieren und einen Mechanismus vertrauensbildender Maßnahmen zu schaffen. Neben den fünf oben genannten Staaten gehört ihr nun auch Usbekistan an; Indien, Iran, Mongolei und Pakistan haben Beobachterstatus. Der Organisation geht es um Sicherheit, Zusammenarbeit und Vertrauensbildung, aber auch um Austausch geheimdienstlicher Erkenntnisse in der Region. 2005 forderte sie von den USA einen Zeitplan für deren Rückzug aus den Militärbasen in Zentralasien. Hauptziel der Kooperation ist wohl der Energie-Sektor mit Russland und Kasachstan als wichtigen Lieferanten. Der potenzielle Absatzmarkt China motiviert das Interesse des Iran an einer Vollmitgliedschaft. Der Zusammenschluss umfasst fast die gesamte riesige Landmasse Asiens und reicht mit Russland bis nach Europa. Die NATO-Expansion nach Osten und die Ukraine-Krise haben die Energie-Zusammenarbeit zwischen Russland und China befördert (s. den im Mai 2014 geschlossenen Vertrag über die Lieferung von jährlich 38 Mrd. Kubikmeter Gas), wie auch der geplante Pipeline-Bau von Iran nach China auf die Herausbildung eines gewaltigen Energie- und Wirtschaftsverbunds hindeutet.

Ein weiterer wichtiger Zusammenschluss sind die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), ein Verbund, in dem die wichtigsten Industriestaaten der Welt außerhalb von EU/USA zusammengeschlossen sind. Diese Staaten vertreten 40 Prozent der Weltbevölkerung, ihre Wirtschaften wachsen jährlich um 5 bis 10 Prozent. Auf dem Gipfeltreffen in Durban wurde im März 2013 die Gründung einer gemeinsamen Entwicklungsbank als Alternative zu IWF und Weltbank beschlossen, die Zinsen der Bank sollen wesentlich unterhalb der bei der Weltbank üblichen liegen. Außerdem sollen gemeinsame Währungsreserven in Höhe von 100 Mrd. US $ geschaffen werden, um im Krisenfall Kredite an notleidende Länder zu vergeben. Damit würde das Kredit- und Auflagenmonopol des IWF gebrochen. Auch bilaterale Abkommen mit Nicht-BRICS-Staaten schwächen den Dollar als Weltwährung: So wickeln Iran und die VAR ihre Geschäfte mit China bereits in Yuan ab. All dies hat fatale Folgen für die US-Zahlungsbilanz.

Diese Organisationen stellen daher eine Herausforderung für die USA und den Westen allgemein dar. Wichtigster und wirtschaftlich mächtigster Akteur in beiden ist China, wobei nicht vergessen werden darf, dass ShOZ auch eine wichtige sicherheitspolitische Dimension besitzt.

Staatszerfall und Kampf um Rohstoffe

Seit dem Ende der Bipolarität ist aber auch zu beobachten, dass es seitens des Westens keine politische Visionen mehr zu geben scheint. Machterhalt, sprich: Kontrolle vor allem der energetischen Rohstoffe, scheint das zentrale Ziel, wobei auch innerhalb „des Westens“ die Rivalitäten zunehmen. Vor allem die USA scheinen sich zunehmend „befreundeter“ Gewaltakteure oder militärisch eingesetzter Regime zu bedienen. Diese Politik begann bereits in Afghanistan, wo, finanziert vor allem von Saudi-Arabien und ausgebildet von der CIA, islamistische Banden gegen die Sowjetunion kämpften. Der 11. September muss dem Hegemon als Geschenk des Himmels erschienen sein, um endlich den Kampf gegen „das Böse“ in Gestalt des Islam zu beginnen und unter dem Schlagwort der „Demokratisierung des Mittleren Ostens“ endlich Marktfreiheit in dieser Region durchzusetzen. Erstmals massiv praktiziert wurde die Politik des regime change im Irak. Die Arabellion bot dann den reaktionären Golfstaaten die Gelegenheit zur Vernichtung vieler säkularer Regime in der Region (Ägypten, Yemen, Syrien, Libyen). Diese islamische Konterrevolution[11] befindet sich derzeit in einem inneren erbitterten Kampf um Einfluss zwischen dem fanatisch-islamistischen Wahabismus Saudi-Arabiens und dem Emirat Qatar, das die Muslimbrüder unterstützt. So waren es die Saudis, die den Putsch der ägyptischen Militärs stützten und die Qataris in ihre Grenzen wiesen. Es war die ägyptische Militärführung, die durch die Schließung des Grenzübergangs Rafah (und die Zerstörung der Versorgungstunnels) die den Muslimbrüdern nahe stehende Hamas gemeinsam mit Israel in den Würgegriff nahm.

Syrien, wo nach Angaben der International Crisis Group mehr als zehn islamistische Gruppen kämpfen, kann als Musterbeispiel gelten.[12] Unterstützt von Akteuren aus den Golfstaaten koalieren diese Gruppen, kämpfen gegeneinander, jagen sich Finanzmittel ihrer Sponsoren ab. Entscheidender ist jedoch: Sie bauen sich innerhalb der jeweils von ihnen kontrollierten Gebiete ihre eigene Gewaltökonomie aus, die finanziert wird durch Wegezölle, willkürliche „Steuern“, Erpressungen, Entführungen und Lösegelder. Diese kriminellen Gewaltökonomien werden ergänzt durch illegale Ölexporte, die ganz offensichtlich nicht durch Sanktionen des Westens verhindert werden. So sind diese Gewaltakteure – ähnlich wie westliche private Militärische Unternehmen – zu regelrechten Unternehmen angewachsen. Ihre Kämpfer werden mit stattlichen Handgeldern angeworben, sie erhalten beachtlichen Sold.[13] Es ist also nicht religiöser Fanatismus, der sie antreibt, sondern die schlichte Gier.

Auch in Afrika grassiert der Staatszerfall. Er ist einerseits Folge von Interventionen im postbipolaren Zeitalter (Somalia, Libyen, Mali), andrerseits ist er Konsequenz der fortdauernden imperialistischen Ausbeutungsstrukturen, die auch nach der formalen Dekolonisation nicht abgebaut wurden und zu massenhafter Verelendung geführt haben. Der Kampf um die Kontrolle von Rohstoffen (auch peak uranium scheint erreicht) und Transportwegen (Seewege, Pipelines) und das Auftauchen Chinas als neue Großmacht führen zu wachsender Militarisierung auf dem Kontinent, wie die Interventionen Frankreichs und der EU, der Aufbau des US African Command (2007) und – erstmals – von China angebotene „Blauhelme“ für Mali zeigen.

Auch Deutschland meldet unter dem Stichwort „mehr Verantwortung tragen“ seine Gestaltungsansprüche an, sei es in der wachsenden Zahl von EU-geführten Interventionen oder in Zukunft auch direkt, wenn die Verteidigungsministerin erklärt: „Ich bin … überzeugt, dass sich die Bundeswehr in den kommenden Jahren noch sehr viel stärker in Afrika engagieren wird. Irgendwann werden wir Kampftruppen schicken (müssen), die dort – ähnlich wie in Afghanistan – in Gefechte verwickelt werden.“ (BZ 22. 4. 2014).

Fazit

In erschreckender Weise ist die Welt ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Blockkonfrontation nicht friedlicher geworden. Dabei gelingt es immer besser, die vor allem auf Rohstoffsicherung gerichteten Interessen hinter einer ideologischen Nebelwand zu verstecken. Die Blaupause des Huntington’schen Paradigmas vom „Kampf der Kulturen“ passt hervorragend in die globalisierte Welt, denn diese ist zunehmend territorial entgrenzt. Nicht nur die Migrationsströme und die Entstehung multikultureller Gesellschaften stellen die alte Westfälische Ordnung des überkommenen Staatensystems infrage, auch die transnational tätigen Konzerne und Finanzakteure erodieren die Staatensouveränität. Die Welt scheint in einem tiefgründigen Wandel begriffen, wie der französische Friedensforscher Alain Joxe treffend diagnostiziert:

„Man muss sich fragen können, ob ‚der Schutz des Volkes‘ der legitime Kern der souveränen Gewalt bleibt. [...] Und man kann antworten: ‚Nein, nicht im Rahmen des Neo-Liberalismus‘, weil die Souveränität der Staaten erodiert und weil die herrschende Souveränität, nämlich die der Unternehmen, zum Ziel den Profit und nicht den Schutz hat. Entsprechend kann das Imperium des Chaos, dessen Aufgabe die Verteidigung der Souveränität der Unternehmen und nicht der Schutz der Bewohner des Planeten vor Hunger oder Massakern ist, nur in die Ökonomie eingreifen, um die militärischen Mittel und die Anwendung von Gewalt gegen die internen und externen Abweichler zu verschärfen.“[14]

So stellen die scheinbar ideologisch motivierten neuen Gewaltakteure vielleicht nur das Symptom einer sich herausbildenden neuen Anarchie dar, in der die Gefahr besteht, dass die Welt in ein vor-hobbesianisches Chaos zurückgeworfen wird. Mit ihren Zielen, alte (ungerechte) Ordnungen wie die von Sèvres, wo nach dem 1. Weltkrieg das Osmanische Reich unter den imperialistischen Siegermächten aufgeteilt wurde, zur Disposition zu stellen, bringen sie unterdrückte religiöse und vor allem ethnische Konzepte wieder auf die aktuelle politische Tagesordnung (Kurdenfrage, grenzüberschreitende Stammesstrukturen, willkürliche territoriale Grenzziehungen, neo-osmanische Träume der türkischen AKP …). Die sich in der Folge der „Arabellion“, der Interventionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Mali und des Krieges in Syrien anbahnende „Neuordnung“ des Nahen Ostens dürfte nicht nur zur Auflösung bestehender Staaten, sondern zu einer Ethnisierung und Konfessionalisierung neuer politische Gebilde führen, deren Geburt von Gewalt, Blut, ethnischen Säuberungen und Völkermord begleitet sein dürfte. Für die Hegemonie der Konzerne und Finanzmärkte sind sie möglicherweise zugleich nur das Mittel zur Beschleunigung der Zerstörung jener seit 1648 geltenden staatlichen Ordnung, die – ganz im Sinne von Alain Joxe – dem freien Agieren der Finanzmärkte noch relative Grenzen setzt.

Das Ende der Bipolarität hätte zu einer friedlicheren Welt führen können. Deren Grundlage hätte die aus der Barbarei der Weltkriege hervorgegangene Charta der Vereinten Nationen sein müssen, die in den Artikeln 2.4 und 2.7 die Androhung und Anwendung von Gewalt und die Interventionen in fremde Territorien verbietet. Der Anspruch aber, hegemonial eine unipolare Welt zur führen, musste vielfältigen Widerstand hervorrufen. Die Art und Weise, wie die USA ihren Führungsanspruch durchzusetzen versuchten, beschleunigte nicht nur die Herausbildung neuer Machtzentren, sie ruiniert auch die ökonomische Substanz des Hegemons – und der die Politik des Hegemons antreibende Neoliberalismus zielt unmittelbar auf die Zerstörung bestehender Staatlichkeit.

Die vor einem Vierteljahrhundert aufkeimende Hoffnung auf Frieden ist im Begriff, Konflikten neuer Qualität in einer diffus multipolaren Welt zu weichen. Jenseits der Abkehr vom Einsatz von Waffen, deren Untauglichkeit zur Konfliktlösung offenkundig ist, ist auch eine Umkehr in der Analyse der Konfliktursachen vonnöten: Nicht Religionen oder Ideologien sind Ursache von Konflikten, sondern materielle, kurzfristige Interessen der Finanzakteure und der ihnen dienenden staatlichen Gewalt wie die der lokalen und regionalen Gewaltakteure. Sie wieder zum Untersuchungsgegenstand zu machen und Gegenstrategien zu denken, öffnet Wege zur Konfliktlösung: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen …“[15] Für den mainstream der derzeitigen Politikwissenschaft (die Friedensforschung eingeschlossen) bedeutet dies allerdings einen schrecklichen Rückfall in polit-ökonomische Ansätze, die mit dem Ende der Bipolarität und der kurzlebigen Dominanz des „gütigen Hegemons“ gleichfalls entsorgt wurden.

[1] Charles Krauthammer, The Unipolar Moment; in: Foreign Affairs, 1/1991, S. 23.

[2] http://de.scribd.com/doc/9651/Rebuilding-Americas-Defenses-PNAC [23-09-14].

[3] Dazu ausführlich: Werner Ruf, Die neue Welt-UN-Ordnung, Münster 1994, insbes. S. 98 – 117.

[4] Michael Berndt, Die „Neue Europäische Sicherheitsarchitektur“ – Sicherheit in, für und vor Europa, Wiesbaden 2007, insbes. S 152 – 170.

[5] Ruf, Werner: Der Islam – Schrecken des Abendlandes, Köln 2014, S. 15 – 25, 2. Aufl.

[6] Ole Weaver, Securitization and desecuritization . In: Ders. (Hg.): Concepts of security, Kopenhagen 1977, S. 211 – 256.

[7] Ronald D. Asmus and Kenneth M. Pollack, Transforming the Middle East; in: Policy Review, 115, Sept./Oct. 2002. Dt. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/2002, S. 1457-1466.

[8] Zbigniew Brzezinski, Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power, New York 2012.

[9] Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt 1987.

[10] Gilbert Rist, Le Développement. Histoire d’une croyance occidentale, Paris 1996.

[11] Werner Ruf, Revolution und Konterrevolution in Nahost. In: Fritz Edlinger/Tyma Kraitt (Hrsg.), Syrien. Hintergründe, Analysen, Berichte, Wien 2013, S. 157 – 174.

[12] International Crisis Group, Middle East Report 146, 17. 10. 2013.

[13] Werner Ruf, Internationaler Jihadismus: Neue militärische Entrepreneure? In: Inamo Nr. 75 (Herbst 2013), S. 61 – 67, Marc Engelhardt, Heiliger Krieg – Heiliger Profit, Berlin 2014.

[14] Alain Joxe, L’Empire du Chaos, Paris 2002, S. 184. Aus dem Französischen W. R.

[15] Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW Bd. 1, S. 385.