I.
Eines der auffälligsten Phänomene in der Peripherie seit den späten 1970er Jahren ist zweifellos das sichtliche Erstarken des politischen Islamismus in der arabisch-islamischen Welt mit der – allerdings partiellen – Tendenz zu einer immer schärferen Radikalisierung. Nicht nur wuchs nunmehr rapide die Zahl der ihm zuzuordnenden Parteien und Bewegungen. Vielmehr entwickelten sich diese in einer ganzen Reihe von Ländern zu einem ernstzunehmenden und effizienten politischen Faktor – bis hin zur, wenn auch unterschiedlich erfolgreichen, Machtausübung.
Gemeint ist also jene politisch-ideologische Strömung, die sich zwar auf den Islam beruft, aber dennoch von diesem, als eine der drei monotheistischen Weltreligionen, strikt zu trennen ist.[1] Gilt ihr der Islam doch lediglich als eine Art Aushängeschild. Durch wieder festen Glauben an die fundamentalen Lehren des Islam, durch Rückgriff auf Koran und Sunna des Propheten wie auf die als idealisiertes Muster geltende islamische Frühzeit sollen offenkundig eine Renaissance der einst auch weltzivilisatorisch so prägenden arabisch-islamischen Welt herbeigeführt und die Folgen bisheriger kolonialer bzw. neokolonialer Unterordnung überwunden werden. Ungeachtet aller Gemeinsamkeit in diesen theokratisch postulierten Grundzielen ist diese Strömung aber dennoch keinesfalls einheitlich. Wie sich die einzelnen Länder hinsichtlich ihrer politischen Systeme und gesellschaftlichen Verhältnisse voneinander unterscheiden, so ist ebenfalls deren politisches Erscheinungsbild äußerst differenziert.[2] Dabei unterscheiden sich die einzelnen ihrer Apologeten teilweise erheblich – sowohl in Strategie- und Taktik- als auch in Führungsfragen. Wobei der politische Islamismus in diesem Teil der Welt durchaus schon Tradition hat. Und zwar inhaltlich wie organisatorisch begründet durch Hassan Al-Banna[3] in Gestalt der 1928 von ihm in Kairo gebildeten ägyptischen Muslimbruderschaft, die nicht nur als Prototyp für nachfolgende weitere Bruderschaftsgründungen fungierte, sondern in den mittlerweile fast 90 Jahren ihrer Existenz in Ägypten eine äußerst wechselvolle Geschichte durchlebt hat. Neben vielerlei Differenzierungen in ihren Reihen[4], vor allem aber pendelnd zwischen dem Status einer Halblegalität und sich beständig wiederholenden repressiven Verfolgungsmaßnahmen – wie eben gerade aktuell nach dem Sturz ihres ein Jahr zuvor mehrheitlich gewählten Staatspräsidenten Mohammed Mursi im Sommer 2013.
II.
Die sich seit Ausgang des 20. Jahrhunderts mehr und mehr ausprägende Dominanz des politischen Islamismus innerhalb der arabisch-islamischen Welt und der sich im Zuge dessen dort entfaltenden Re-Islamisierungswelle ist in hohem Maße dem sukzessiven Einflussverlust des arabischen Nationalismus geschuldet. Von dessen politisch-ideologischer Wirkungsmacht hatte sich einst der renommierte libanesische Historiker George Habib Antonius (1891-1941) das „Arabische Erwachen“ versprochen.[5] Diesem Nationalismus gebührte tatsächlich über mehrere Jahrzehnte eine Meinungsführerschaft innerhalb der arabischen nationalen Befreiungsbewegung; er besaß im ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser bis zu dessen Tod 1970 eine weit über die Grenzen der arabisch-islamischen Welt hinaus geachtete Führungspersönlichkeit und Integrationsfigur.
Die nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit unter Führung bürgerlicher und kleinbürgerlicher Kräfte, vorwiegend der militärischen Intelligenz, auf der Basis jeweiliger arabisch-nationalistischer Spielarten – so des Nasserismus und des Baathismus – angestrebte gesellschaftliche Orientierung eines „dritten Entwicklungsweges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus – basierend auf weit reichenden Nationalisierungs- und Verstaatlichungsmaßnahmen und auf einen arabischen Sozialismus abzielend – war dem Westen von Anfang an ein Dorn im Auge. Sah er doch dadurch seine politischen Hegemonial- wie ökonomischen Profitinteressen angetastet. Noch um so mehr angesichts deren geostrategisch bedeutsamer Lage an der Nahtstelle dreier Kontinente sowie in einer Region mit immensen Rohstoffvorkommen und einer hohen Aufnahmefähigkeit der Märkte für Waren, Waffen und Kapital. Während die betreffenden Länder vom Ostblock als Reserve bei dessen angestrebtem weltweiten sozialistischem Vormarsch angesehen wurden, suchte der Westen sie entweder als feindlich einzustufen oder auf seine Seite zu ziehen. Letzteres gelang den USA nach dem Tode von Nasser mit Ägypten unter der Präsidentschaft von Anwar Al-Sadat Anfang der 1970er Jahre, während sich Syrien einem derartigen Ansinnen immer wieder zu entziehen suchte und sich dann seit 1979 auf der von den USA erstellten Terrorstaatenliste wiederfand.
Einen tiefen Einbruch des arabisch-nationalistischen Einflusses auf den Entwicklungsverlauf innerhalb der arabisch-islamischen Welt hatte es bereits Ende der 1960er Jahre gegeben, als die Armeen gerade dieser beiden Länder im Juni-Krieg 1967 gegen Israel eine mehr als schmähliche Niederlage hinzunehmen gezwungen waren. Daraufhin sahen sie sich mit dem Vorwurf konfrontiert, bei der Befreiung Palästinas versagt zu haben (eine Forderung, die damals in Verkennung der Realitäten noch als generalisierende Losung stand). Und dies noch um so mehr, als Israel im Ergebnis dieses Krieges – neben anderen arabischen Territorien – nun sämtliche palästinensischen Gebiete (Westbank, Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem) okkupierte.[6] Schon kurz danach waren Rufe nach einer so genannten islamischen Lösung, der „Al-hall al-islami“, ertönt[7], die in den nachfolgenden Jahrzehnten immer lauter wurden, obwohl auch dabei Anspruch und Wirklichkeit nachweislich weit auseinanderklaffen.
III.
Vor allem aus linker Sicht muss es betrüblich stimmen, dass gerade dort, wo sich einst überkonfessionelle, sozial determinierte Fortschrittsideologien gegen alle konservativen Widerstände Gehör zu verschaffen versucht hatten – in der arabischen Welt gab es immerhin auch einige der ersten kommunistischen Parteigründungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts –, nun quasi das „Rad der Geschichte“ wieder zurückgedreht werden soll. Nichtsdestoweniger aber darf nicht das dem politischen Islamismus inhärente Protestpotential bei der Artikulierung sozialer und politischer Missstände außer acht gelassen werden, die insbesondere im Ergebnis politischer wie ökonomischer Bevormundung durch imperiale Mächte, darunter in erster Linie die USA, entstanden sind. So gesehen stellt der politische Islam durchaus auch einen Reflex auf die Misere dar, unter der insbesondere die armen Bevölkerungen in der arabisch-islamischen Welt wie in den übrigen Ländern der Peripherie, unter den Bedingungen der heutigen globalisierten kapitalistischen Weltordnung zu leiden haben. Sie werden dabei zerrieben zwischen den vom Westen rigoros durchgesetzten Bedingungen der Profitrealisierung einerseits und ihrer damit einhergehenden zunehmenden Unterordnung und Schlechterstellung andererseits. Nicht umsonst fühlen sich in der arabischen Welt viele Menschen, bis in die Mittelschichten hinein, als Benachteiligte und Opfer der Globalisierung. Versinnbildlicht wurde dies im „Arabischen Frühling“ 2011.
In diesen quasi zu Werkbänken transnationaler Konzerne degradierten Ländern werden insbesondere die verarbeitende sowie die mit der Landwirtschaft verbundene Industrie vernachlässigt und gestaltet sich die Entstehung eines nationalen Reproduktionsprozesses um so schwieriger. Selbst ein Land wie Ägypten, in dem sich kapitalistische Produktionsverhältnisse nun schon über fast zwei Jahrhunderte allmählich, wenn auch nicht gradlinig, herausgebildet und konsolidiert haben und welches über die vergleichsweise am breitesten diversifizierte materiell-technische Basis der Wirtschaft verfügt, wird von den Folgen der Marktradikalisierung des Kapitalismus und deren gefährlichen Verwerfungen in voller Breitseite getroffen. So geriet das Land bei stetig steigender Auslandsverschuldung mehr und mehr in die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten und vor allem vom Technologietransfer. Durch den Profittransfer ausländischer Monopole, die Zahlung für Schuldendienste sowie durch Flucht ägyptischen Geldes fließt mehr Kapital aus Ägypten in westliche Staaten als umgekehrt. Mit der Konsequenz, dass die Zeche dafür von der einheimischen Bevölkerung zu tragen ist und dass die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Jugendlichen, aber nicht zuletzt auch unter akademisch Gebildeten, geradezu schwindelerregend weiter steigt und das allgemeine Lebensniveau immer mehr absinkt. Fortgesetzte Preissteigerungen, an erster Stelle für Grundnahrungsmittel, bei denen Erhöhungen von 50 Prozent und mehr durchaus keine Seltenheit sind, tragen hierzu in hohem Maße bei.[8] Eine Ausnahme und Besonderheit bilden hier lediglich die finanzstarken Öl- und Gasförderstaaten am Arabisch-Persischen Golf.
In dem Maße, wie sich diese Abhängigkeit verfestigt, konsolidiert sich zugleich jene spezifisch bürgerliche Schicht von Kompradoren und Bürokraten, deren Pfründe sich gerade daraus speisen und die folglich an deren weiterer Sicherung interessiert sind. Ein fataler Kreislauf mit der Folge von Korruption und Missmanagement, Inkompetenz und Gleichgültigkeit gegenüber der gesellschaftlichen Entwicklung, weiter potenziert durch autokratische Herrschaftsmethoden und Monopolisierung der Macht. Während die Armen immer ärmer werden, lebt aber gleichzeitig die wohlhabende Schicht immer luxuriöser.
Gerade dieses Konglomerat objektiver wie subjektiver Missstände treibt dem politischen Islamismus seine Unterstützer zu. Nicht umsonst findet er unter den ärmeren, vernachlässigten Bevölkerungsschichten seine soziale Hauptbasis – dort, wo Glaube und Tradition noch besonders tief im Menschen verwurzelt sind und die Religion ihnen den Halt zum Überleben gibt. Diese Schichten sind deshalb um so dankbarer für die umfangreichen karitativen Programme der politischen Islamisten, darunter die Einrichtung von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern oder auch die Versorgung mit anderem Lebensnotwendigem. Dabei finden politische Islamisten durchaus auch in anderen Bevölkerungsschichten Sympathisanten, so beispielsweise in den Reihen der traditionellen islamischen Geistlichkeit wie auch bei solchen Angehörigen „neuer Eliten“, die ihr Studium an westlichen Universitäten absolviert haben und danach mit der Überzeugung in ihre Länder zurückgekehrt sind, auf grundsätzlich andere gesellschaftliche Alternativen – eben unter Rückgriff auf spezifisch islamische Werte und Traditionen – setzen zu wollen. Deshalb war es auch kaum verwunderlich, dass politischen Islamisten im Ergebnis des „Arabischen Frühlings“ gleich in mehreren Fällen Regierungsverantwortung zufiel, wenngleich sie sich dieser allerdings oft und relativ rasch als nicht gewachsen erwiesen.
IV.
Begünstigend für den Vormarsch des politischen Islamismus in der arabisch-islamischen Welt waren zweifellos auch die essentiellen Verschiebungen in der innerarabischen Kräftebalance zugunsten der – dank ihres Öl- und Gasreichtums ökonomisch prosperierenden – traditionalistisch-konservativ ausgerichteten Golf-Monarchien, darunter an erster Stelle Saudi-Arabien. Wenngleich auch in den Grundzielen nicht kongruent, so sind diese doch aber zumindest darin einig, gezielt einer weiteren Säkularisierung arabischer Länder entgegenzuwirken.
Saudi-Arabien, dessen Eigenverständnis schon daraus genährt wird, Bastion des sunnitischen Islam und Hüter der heiligen islamischen Stätten Mekka und Medina sowie jährliches millionenfaches Pilgerziel zu sein, betreibt selbst eine offensive Politik der Unterstützung des Exports der wahhabitischen Lehre, womit es maßgeblich sogar zur weltweiten Verbreitung des Salafismus beiträgt – so durch Förderung der Islamischen Weltliga und ihr angeschlossener Wohlfahrtsorganisationen. Dementsprechend fokussiert Saudi-Arabien sich speziell auf salafistische, seinem eigenen Weltbild nahe kommende Gruppierungen im politischen Islam. Aber auch verschiedenste militante Abteilungen konnten wiederholt schon auf Zuwendungen in Form von Geld und Waffen hoffen, so sie denn gerade in das saudische politische Konzept passten.[9] Bei alledem im Vordergrund steht für Saudi-Arabien die Durchsetzung seines Führungsanspruchs innerhalb der arabisch-islamischen Welt und mithin die Schwächung des politischen Gewichts von Iran, mit dem es schon religions-ideologisch äußerst verfeindet ist wegen dessen vorherrschender schiitischer, in Riad als Häresie geltender Glaubenslehre. Den Iran sieht Saudi-Arabien als seinen Hauptrivalen um die Vormachtstellung in der Golfregion an und versucht ihn deshalb auf verschiedenste Weise zu schwächen. Sei es durch das Niederwalzen der vor allem von Schiiten in Bahrain getragenen Protestbewegung durch saudische Panzer, sei es durch den mit Verbissenheit verfolgten Versuch, den Sturz des mit Iran verbündeten Baath-Regime in Damaskus unbedingt herbeizuführen.
Bei diesem äußerst dubiosen Agieren sieht sich Saudi-Arabien jedoch auch damit konfrontiert, dass jene Kräfte, derer es sich zuvor bei der Erreichung seiner Ziele bedient hat – wie einst Usama Bin Ladin –, hernach zur Bedrohung der eigenen Sicherheit werden. Wie aktuell im Falle der Terrorgruppierung „Islamischer Staat“ (IS), durch die es sich nunmehr hochgradig herausgefordert sieht, vor allem durch mögliche saudische Rückkehrer aus den Reihen der IS-Kämpfer, die dort – wie schon bei Al-Qaida – zahlenmäßig auffällig stark vertreten sind. Laut einer Fatwa des saudischen Großmuftis, der höchsten religiösen Autorität im Land, gelten fortan IS und Al-Qaida als „Feind Nummer Eins des Islam“.
Dass nun jedoch auch der ägyptischen Muslimbruderschaft auf Betreiben von Saudi-Arabien das Stigma einer terroristischen Organisation angeheftet wird, obwohl diese seit den 1950er Jahren keinen Terroranschlag mehr zu verantworten hat, ist sicherlich in erster Linie machtpolitisch determiniert. Geht es dabei doch um die Vereitelung eines möglichen, von der Türkei und Qatar gezielt betriebenen muslimbruderschaftlich orientierten Staatenverbundes, welcher nicht nur Saudi-Arabiens Führungsanspruch ernsthaft tangieren könnte, sondern auch einer Kampfansage an dessen streng orthodox verfasstes Staatswesen gleichkäme. Gilt doch die Muslimbruderschaft im saudischen Verständnis als bereits viel zu lax in ihrer Islaminterpretation. Deshalb wurde von Saudi-Arabien der Sturz von Mursi aktiv mitbetrieben und dem Militär sowie Teilen des durch den „Arabischen Frühling“ gestürzten Staatsapparats in Ägypten wieder zur Macht verholfen. Zugleich erhielt Qatar wegen seiner Unterstützung für die Muslimbruderschaft, in Ägypten wie anderswo, eine empfindliche Lektion, indem ihm Verrat an den Grundprinzipien der Charta des Golfkooperationsrats vorgeworfen wurde.
V.
Natürlich ist es völlig unbestreitbar, dass jene Gruppierungen des politischen Islam, die gezielt auf Terror- und Gewaltmethoden zur Verwirklichung ihrer Ziele setzen, absolut unakzeptabel sind.
Dies gilt in besonderem Maße für die aktuell mit äußerst brachialer Gewalt gegen Andersdenkende wütende Terrorgruppierung „Islamischer Staat“. Sie bedient sich dabei Methoden, die aus islamischer Sicht verwerflich sind und deshalb auch in der arabisch-islamischen Welt nahezu unisono verurteilt werden. Genau genommen handelt es sich bei ihr um ein Hybrid zwischen Terrorgruppe und regulärer Armee mit Staatsattitüde. Auch ist sie insofern eine neuartige Erscheinung, als ihre Aktivitäten auf die Erodierung bisheriger Nationalstaatsgrenzen gerichtet sind und sie auf erobertem Gebiet bereits einen Kalifatsstaat mit einem selbst ernannten Kalifen ausgerufen hat, womit sie bereits Kontrolle über beträchtliche Territorien ausübt, die als Operationsbasis für weitere Vormärsche dienen. Zudem verfügt sie über immense Finanzmittel, ist militärisch modern ausgerüstet und zieht nach wie vor in erschreckender Zahl tötungswillige Kämpfer aus allen Teilen der Welt an.
Insgesamt ist die Terrorgruppierung IS unmittelbares Produkt einer verfehlten Politik des Westens gegenüber der arabisch-islamischen Welt wie auch das Resultat der Politik rivalisierender regionaler Hauptmächte um die Vormachtstellung in der Region. Der Westen reagiert lediglich mit Waffengewalt auf ein quasi selbst geschaffenes Feindbild.[10]. Auffällig ist, dass sich islamistisch-terroristische Aktivitäten gerade seit dem Ende des systemaren Ost-West-Gegensatzes besonders zu häufen scheinen. Dies begann schon in den 1990er Jahren, als es in Algerien zu teilweise fürchterlichen Gewaltexzessen mit 120.000 Toten und weiteren ungezählten Versehrten kam; im selben Zeitraum wurde Ägypten von einer regelrechten Terrorwelle erschüttert[11], nachdem schon Al-Sadat 1981 einem Terroranschlag zum Opfer gefallen war.
Erst der völkerrechtswidrige Krieg der USA im Bunde mit der westlichen „Koalition der Willigen“ 2003 gegen Irak und die damit einhergehenden zerstörerischen Folgewirkungen für die territorial-staatliche Verfasstheit dieses Landes haben den IS überhaupt entstehen lassen. Die Umwandlung des syrischen Bürgerkrieges in einen Stellvertreterkrieg sunnitischer regionaler Hauptmächte zur Schwächung Irans im Wege des Sturzes von Bashar Al-Asad und das Ausbleiben einer politischen Lösung des dortigen Konflikts hat dann noch die Blütenträume von einem IS-geführten Kalifat reifen lassen.
Dem Treiben von IS jedoch allein mit Luftschlägen zu begegnen – ohne, dass jene Staaten, die ihn zuvor gepäppelt haben, darunter an erster Stelle die Türkei, ihre Haltung grundsätzlich revidieren –, wird kaum signifikante Wirkung haben. Die es dann letztlich trifft, sind allein die vom IS bedrohten Kurden. Vor allem aber bedürfte es einer erkennbaren Strategie, wie der mit dem IS entstandenen sicherheitspolitischen wie menschenrechtlichen Bedrohung nachhaltig begegnet werden soll. Wenn dem islamistischen Terrorismus wirklich beigekommen werden soll, dann setzt dies zuerst einmal ein prinzipiell verändertes Herangehen des Westens an diesen Teil der Welt voraus, so wie dies US-Präsident Obama in seiner zwar historischen, aber leider nur bloßes Wort gebliebenen Kairoer Rede 2009 versprochen hatte. Allein nur auf Waffengewalt, in welcher Form auch immer, zu setzen führt ganz bestimmt in die Irre. Damit werden, wie durch den bislang geführten Anti-Terror-Kampf nachgewiesen, letztlich nur noch schlimmere Tragödien ausgelöst.
Solange sich westliche Staaten anmaßen, willkürlich über Krieg und Frieden gemäß ihrer eigenen Interessenlagen zu entscheiden, solange sie völkerrechtswidrige Kriege bzw. Waffengänge wie 2003 gegen Irak oder 2011 gegen Libyen vom Zaune brechen allein mit dem Ziel, dortige – aus westlicher Sicht missliebige – Regimes zu Fall zu bringen und die gesamte Region damit in ein sicherheitspolitisches Chaos stürzen, solange sie Drohnen zu „gezielten Tötungen“ einsetzen und sich dabei um Souveränitätsrechte eines Staates oder mögliche Menschenrechtsverletzungen an unbeteiligten Zivilisten in keiner Weise scheren – solange werden selbst terroristische Gruppierungen Widerhall in den jeweiligen Bevölkerungen finden. Denn Terrorismus wächst und gedeiht gerade im Ergebnis willkürlicher Gewaltanwendung und unter den Bedingungen von Armut, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Den Terrorismus bekämpfen zu wollen, aber gleichzeitig die Rüstungsspirale vor allem durch den Export von Rüstungsgütern in diese Spannungsregion beständig weiterhin kräftig anzuziehen, ist schlicht verbrecherisch.
Wenn sich wirklich etwas ändern soll, so ist dies – insbesondere unter den Bedingungen der Globalisierung – ohne ein grundsätzlich verändertes Paradigma nicht vorstellbar: Die als Hegemonie betriebene bisherige Machtpolitik muss durch eine Verantwortungspolitik ersetzt werden, die auf die Durchsetzung einer komplexen, auf Kooperation beruhenden Sicherheits- und Entwicklungspolitik und fairen Interessenausgleich ausgerichtet ist und die sich auf die in der UN-Charta festgeschriebenen Grundprinzipien rückbesinnt.[12]
[1] Dementsprechend besteht eine unbedingte Notwendigkeit zu terminologischer Klarheit; zur begrifflich wie inhaltlich exakten Unterscheidung zwischen Islam und politischem Islamismus. Das heißt, zwischen dem Islam als Religion einerseits und jenen politischen Gruppierungen andererseits, die sich zwar auf ihn berufen, jedoch in ihren ideologischen Grundprämissen und dem gewaltfanatischen Eifer bestimmter Teile ihrer Verfechter in diametralem Gegensatz zu ihm stehen. Wie schon in der frühen arabisch-islamischen Geschichte, so gibt es auch heute in Bezug auf die Islamisten mindestens zwei große Ausrichtungen. Nämlich eine gemäßigte, die hauptsächlich auf intensive religiöse Erziehung zugunsten von Gleichheit der Menschen und Gerechtigkeit setzt, sowie eine extremistische, die ihre Ziele mit Blut und „Schwert“ durchzusetzen sucht.
[2] Unterschiede bestehen beispielsweise in der Zugehörigkeit entweder zu den Sunniten oder den Schiiten, in der innenpolitischen Machtstellung und den politischen Wirkungsbedingungen, im Organisationsgrad – weniger als Partei denn als Front oder gar nur einer Art Elitekampftruppe, ob neu formiert, abgespalten bzw. schon in längerer historischer Tradition – sowie vor allem in der Wahl ihrer Kampfmittel.
[3] Gemäß dem in Al-Bannas Kairoer Schrift „Islamuna“ (Unser Islam) begründeten theoretisch-integristischen Ansatz besitzen Lehren und Lebensregeln des Islam umfassenden Charakter, sind sie gültig sowohl für das Diesseits wie das Jenseits, verkörpern sie Dogma und Gottesdienst, Heimat und Nationalität, Religion und Staat, Geist und Tat, Schrift und Schwert. Damit distanzierte Al-Banna sich deutlich von dem 1905 verstorbenen und als islamischer Reformer geltenden ägyptischen Theologen Muhammed Abdu, der den Islam von innen wiederbeleben wollte, um ihn zu einem Fortschrittsfaktor in den islamischen Gesellschaften zu machen.
[4] So hatte interessanterweise Ende der 1940er Jahre Muhammed Al-Ghazzali die These vom „islamischen Sozialismus“ in Umlauf gebracht.
[5] Darin eingeschlossen war damals mit an vorderster Stelle die sich Ende der 1930er Jahre formierende überkonfessionelle Baath-Bewegung – seit 1947 dann auch als Partei organisiert – mit ihrem Konzept eines panarabischen Nationalismus, bei dem als gemeinsame Klammer der weltliche Nationalismus Vorrang erhielt gegenüber dem Islam. Diesem wurde lediglich die Rolle eines prägenden Momentums nationaler Geschichte und Kultur zugemessen. Zusammengefasst in der bis heute von den Baathisten vorangetragenen Losung: „Einheitliche arabische Nation – Träger einer ewigen Sendung“ (Umma arabiya wahida dhatu risala chalida).
[6] Israel hält diese Territorien bekanntlich bis heute nicht nur besetzt, sondern versucht sie (zumindest Westbank und Ost-Jerusalem), per strategisch geplantem Siedlungswesen völlig zu vereinnahmen.
[7] Nicht zufällig geschah dies mit zuerst im palästinensischen Bereich. So formierte sich 1973 in Gaza unter Scheich Ahmed Yasin die Muslimbruderschaft zur Islamischen Sammlung um, aus der dann an der Wende des Jahres 1988 zu 1989 die Hamas entstand. Nachdem sich 1980 als Abspaltung die noch radikalere Gruppierung Jihad Islami (Islamischer Heiliger Krieg) gebildet hatte, deren Entstehen wiederum nachweislich durch die islamische Revolution in Iran stimuliert worden ist.
[8] Vgl. dazu das überaus aufschlussreiche Buch des Schweizer Kapitalismuskritikers Jean Ziegler „Wir lassen sie verhungern: Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“, München 2012.
[9] So wurden beispielsweise Usama Bin Ladin und dessen Al-Qaida zumindest so lange als willfährige Instrumente angesehen, wie es gegen die sowjetische Militärpräsenz in Afghanistan ging. Als Bin Ladin danach die Präsenz der US-amerikanischen Truppen in Saudi-Arabien ins Visier nahm, wurde er zur Persona non grata erklärt und verlor 1994 seine saudische Staatsbürgerschaft.
[10] Siehe dazu Werner Ruf, Der Islam – Schrecken des Abendlands. Wie sich der Westen sein Feindbild konstruiert, Köln 2012.
[11] Die Anschläge richteten sich sowohl gegen nationalistisch oder vornehmlich säkular orientierte, also „andersdenkende“ Landsleute als auch gegen Einrichtungen des erklärten Feindes, des Westens. Sie zielten auf Touristen aus dem westlichen Ausland ebenso wie auf Polizeiangehörige. Oft dienten dabei Fatwas einzelner islamischer Theologen als Freibrief, wie im Falle des berühmten ägyptischen Literaten und Nobelpreisträgers Nagib Mahfuz, der ein 1994 auf ihn verübtes islamistisches Attentat nur knapp überlebte. Derartige Geistliche tragen einen wesentlichen Teil Verantwortung daran, dass gerade extremistische Islamisten sich in ihrer kompromisslosen, alles Neue verketzernden Position bestätigt fühlen und das Heil allein in der Rückwärtsgewandtheit erblicken.
[12] Siehe dazu die umfassende Untersuchung von Dieter Klein, Krisenkapitalismus. Wohin es geht, wenn es so weitergeht, Berlin 2008.