Lange Zeit war es ein Gemeinplatz in der öffentlichen Debatte, dass die deutschen Gewerkschaften sich in einer Phase des Niedergangs befinden. Es bestand weitgehende Einigkeit darüber, dass sie verschiedenen gesellschaftlichen Großtrends recht ratlos ausgeliefert sind. Der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft führe mit der Tertiärisierung zu einer Veränderung der Sozialstruktur, sodass die Gewerkschaften mit ihrer sozialen Basis von (Industrie-)Arbeitern wie „Dinosaurier“ (Ebbinghaus 2002) anmuten. Der Trend zur Individualisierung zersetze die traditionellen Arbeitermilieus, verhindere effektive Klassensolidarität und trage ebenfalls zur Schwächung der Gewerkschaften bei (Beck 1986: 121ff.). Ferner führe der Globalisierungsprozess mit Standortverlagerungen und der Deregulierung der Finanzmärkte zu einem race to the bottom um Arbeits- und Sozialstandards, in dem Niedriglohnländer in einen Unterbietungswettbewerb mit den entwickelten Industriestaaten treten.
Die weithin pessimistische Einschätzung zur Lage der Gewerkschaften wurde anhand verschiedener Indikatoren – sinkender Organisationsgrad, abnehmende betriebliche Verankerung, Erosion von Flächentarifverträgen, stagnierende Reallohnentwicklung oder Rückgang des politischen Einflusses – empirisch untermauert (Haipeter 2011: 13). Heute bietet sich indes ein anderes Bild. Ausgerechnet im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 feiern die deutschen Gewerkschaften ein unerwartetes Comeback: Verschiedene DGB-Einzelgewerkschaften, darunter mit der IG Metall und jüngst auch ver.di die beiden größten, verzeichnen Mitgliedergewinne. Das negative Image der DGB-Gewerkschaften als Neinsager und Reformbremser wich dem eines kompetenten Krisenmanagers und Verteidigers von Beschäftigteninteressen. Beim gesetzlichen Mindestlohn war das Agenda-Setting erfolgreich: Der Mindestlohn fand Eingang in den Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Regierung und soll ab Anfang 2015 (mit Ausnahmen) flächendeckend Geltung haben. All dies deutet darauf hin, dass die Gewerkschaften ein Comeback erleben – im Betrieb, in den Tarifverhandlungen und im politischen Tagesgeschäft.
Im Folgenden wird knapp und thesenartig die Geschichte dieser Trendwende skizziert; zunächst wird der historische Niedergang der deutschen Gewerkschaften im europäischen Kontext seit der Fordismuskrise 1973/74 beschrieben; danach folgt eine Untersuchung der aktuellen Revitalisierungsprozesse im Kontext der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09.
Der Erdrutsch: Gewerkschaften im Neoliberalismus
Das „Goldene Zeitalter des Kapitalismus“ (Marglin/Schor 2000) nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnete sich in den westeuropäischen Staaten nicht nur durch ein sich über ein Vierteljahrhundert hinweg erstreckendes rasantes Wirtschaftswachstum, regelmäßige Reallohnsteigerungen, Vollbeschäftigung und einen Ausbau des Sozialstaats aus (Hobsbawm 2009: Kap. 9). Auch die Lohnabhängigenmacht war gefestigt, ja, hatte zum Zeitpunkt der Fordismuskrise 1973/74 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Die niedrige Arbeitslosigkeit ermöglichte eine gute Position in Tarifverhandlungen. Die Fließbandarbeit und die tayloristische Arbeitsorganisation steigerten die Produktionsmacht in den großen Industriebetrieben (Silver 2005: 74f.). In einigen Staaten wie Großbritannien oder Italien konnten über 40 Prozent der Erwerbstätigen gewerkschaftlich organisiert werden. In allen westeuropäischen Ländern spielten Arbeiterparteien eine bedeutende Rolle und ihre Forderungen konnten – allein schon aufgrund des Systemkonflikts – nicht völlig übergangen werden. Auch war die institutionelle Macht der Lohnabhängigen durch den Dreieckskompromiss zwischen Unternehmen, Gewerkschaften und Staat gewachsen (Buci-Glucksmann u.a. 1982). Sie drückte sich in Gesetzen zum Kündigungsschutz, im Tarifvertragsrecht und auch in Mitbestimmungsmöglichkeiten auf betrieblicher Ebene aus. Auch waren die Anliegen der Gewerkschaften gesellschaftlich weithin akzeptiert.
Das neoliberale „Rollback“ seit den 1980er Jahren, durch das die westeuropäischen Volkswirtschaften eine tiefgehende Restrukturierung erfuhren, war jedoch mit einer Veränderung der Machtposition der Lohnabhängigen verbunden. Diese Entwicklung wurde erst in der spezifischen Krisenperiode seit 1973 und den darin stattfindenden politischen Konflikten möglich. Verschiedene Faktoren wirkten hier zusammen:
1. Zunächst gelang es, konservativ-liberalen gesellschaftlichen Koalitionen in verschiedenen Staaten Westeuropas ein politisches Projekt gegen den Widerstand gewerkschafts-affiner Kräfte durchzusetzen, das weitgehende ökonomische Restrukturierungen (Privatisierungen, Liberalisierungen, Finanzialisierung, etc.), und auch institutionelle Reformen (Aushöhlung des Streikrechts, etc.) umfasste. Hierfür war die Liberalisierungspolitik der Regierung Thatcher (1979-1980) das radikalste Beispiel, aber auch die bundesdeutsche Regierung Kohl (1982-1998) setzte auf eine graduelle konservative Modernisierungsstrategie. Die Programmatik wurde auch von sozialdemokratischen Regierungen, etwa mit der angebotsorientierten Wende der französischen Regierung Mitterand im Jahr 1983, übernommen. Im bundesdeutschen Kontext wurden die schärfsten Arbeitsmarktreformen und Finanzmarktliberalisierungen erst sehr viel später durch die Regierung Schröder (1998-2005) umgesetzt.
2. Durch die Krisenprozesse seit 1973-1975 und später 1981-82 hatten sich zudem auch einige wichtige ökonomische Rahmenbedingungen verändert. Mit dem Kriseneinbruch verfestigte sich die Massenarbeitslosigkeit und beschleunigte sich in vielen Ländern die Entstehung von prekären Arbeitsverhältnissen. Auf diese Weise wurde die Marktmacht bzw. die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen unterhöhlt und dauerhaft Druck auf die gewerkschaftliche Tarifpolitik ausgeübt (Streeck 2011: 13ff.). Niedrige Wachstumsraten und eine angebotsorientierte Wirtschafspolitik – auch im europäischen Rahmen mit den Konvergenzkriterien zur Einführung des Euros – und eine „aktivierende“ Arbeitsmarktpolitik verschärften diese Entwicklung zusehends.
3. Die rasche Transnationalisierung der Unternehmen seit den 1990er Jahren trug zudem dazu bei, dass die Produktionsmacht, d.h. die Durchsetzungsfähigkeit durch Arbeitsniederlegungen, der Arbeiter in den großen Industriekonzernen erodierte. Die Drohung der Standortverlagerung zwang viele Belegschaften zu Konzessionen; gerade da mit dem Ende des Ostblocks und der Außenöffnung von Schwellenländern wie China und Indien eine Situation eines globalen „labor supply shock“ entstanden war, durch den die Anzahl der auf dem Weltmarkt verfügbaren Arbeitskräfte verdoppelt worden war (Freeman 2010). Folglich konnte so auch die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften in vielen weltmarktorientierten Branchen auf betrieblicher Ebene eingeschränkt werden.
4. Auch im institutionellen Gefüge der industriellen Beziehungen kam es zu Verschiebungen. Hierbei war nicht nur der direkte Angriff auf die institutionelle Macht der Gewerkschaften, d.h. deren Möglichkeit auf feste institutionelle Spielregeln zurückgreifen zu können, wie im Fall des britischen Thatcherismus von Bedeutung. Vielmehr trugen die Rahmenbedingungen indirekt zur Schwächung der institutionellen Macht bei: So untergruben „Shareholder-Value“-Orientierung und Standortverlagerungen die Produktionsmacht der Arbeiter und trugen dazu bei, dass Betriebsräte in diesem Umfeld oftmals primär über Kürzungen und Stellenabbau verhandeln müssen (Massa-Wirth 2007). Auch zogen sich viele Arbeitgeber seit den 1990er Jahren aus wichtigen Institutionen der Arbeitsbeziehungen, insbesondere den Tarifverhandlungen zum Flächentarifvertrag zurück. Ein Beispiel war hierfür die Entstehung von Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung, für die die allgemeinen Tarifnormen nicht gültig sind.
5. Auch gesellschaftlich sahen sich die meisten westeuropäischen Gewerkschaften seit den 1980er Jahren einem stärkeren Gegenwind gegenüber. Die Gewerkschaften verloren zum einen ihren Ruf als kompetenter Anwalt des „kleinen Mannes“; zum anderen wurde nach dem Ende des Systemkonflikts eine gesellschaftliche Transformation, für die viele sozialistische oder kommunistische Gewerkschaftsverbände einstanden, von der Bevölkerung meist als unrealistisch angesehen. Vielmehr galten Gewerkschaften nun oftmals als strukturkonservativ und klientelistisch, ja, wurden als überalterte Reformbremser und Neinsager wahrgenommen, die in Zeiten der Globalisierung und des IT-Booms keine Konzepte anzubieten hatten. Ferner taten sich die Gewerkschaften schwer, neue Kooperationspartner zu finden: Nicht nur bröckelten die eigenen sozialen Milieus, auch hatten neue soziale Bewegungen wie Umwelt-, Stadtteil-, Frauen- und Menschenrechtsbewegungen nur wenige Anknüpfungspunkte zur Gewerkschaftsarbeit bzw. standen ihnen teilweise sogar distanziert gegenüber. Gesellschaftlich war dieser Imagewandel Teil der Erzählung einer gesellschaftlichen Alternativlosigkeit, die sich viele neoliberale Regierung zu Eigen machten, um weitere Strukturreformen zu veranlassen.
6. Letztlich trugen all die genannten Trends zur Verringerung der gewerkschaftlichen Organisationsmacht bei. Am deutlichsten war dies beim Organisationsgrad, der seit Ende der 1970er Jahre in vielen bedeutenden westeuropäischen Ländern kontinuierlich zurückging. Aber auch in der Mitgliederbasis spiegelte sich dieser Prozess wider. Die Gewerkschaften hatten weiterhin eine Mitgliederbasis, die eher der Berufsstruktur der 1950er und 1960er Jahre entsprach (Müller-Jentsch 2007: 38). Sie wiesen nun deutliche Repräsentationsdefizite gegenüber Frauen, Angestellten und prekär Beschäftigen auf. Außerdem war die Organisationsstruktur der meisten Gewerkschaften ineffizient, um eine gezielte Organisierung dieser „neuen“ Beschäftigtengruppen voranzutreiben.
Deutschland galt vielen Beobachtern lange Zeit als ein Sonderfall. Denn das deutsche Modell industrieller Beziehungen war bis in die 1980er Jahre hinein vergleichsweise stabil geblieben. Die Institutionen des dualen Systems (Flächentarifvertrag und Betriebsräte) waren weitgehend intakt. Die Gewerkschaften blieben handlungsfähig, wie die IG Metall und die IG Druck und Papier 1984 beim Streik in der Metall- und Druckindustrie um die 35 Stunde-Woche bewiesen. Auch der deutsche Arbeitsmarkt war nicht so stark gespalten wie anderswo in Europa: Der „selektive Korporatismus“ (Esser 1982: 261ff.) der späten 1970er Jahre schloss zwar Teile der Belegschaften aus, aber insgesamt war die Lohnstruktur im europäischen Vergleich relativ egalitär geblieben. Zudem blieb die deutsche Industrie in der Standortkonkurrenz wettbewerbsfähig. Das „Modell Deutschland“ zeigte erst nach der Wiedervereinigung 1990 deutliche Risse (Lehndorff 2011: 650ff.): Die betriebsratsfreien Unternehmen und die niedrige Tarifbindung in Ostdeutschland schlugen Löcher in das duale System der Interessenrepräsentation. Die Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen sowie Privatisierungen verstärkten diesen Trend. Die rot-grüne Regierung (1998–2005) trieb mit der Agenda 2010 den Ausbau des Niedriglohnsektors voran, untergrub durch Regelungen wie die Hartz-Gesetze die Marktmacht der Stammbelegschaften und förderte die Finanzialisierung des deutschen Kapitalismus. Die Niederlage der IG Metall im Sommer 2003 im Kampf um die Ausweitung der 35-Stunden-Woche auf Ostdeutschland zeugte von einem veränderten Kräfteverhältnis zuungunsten der Gewerkschaften.
Letztlich herrschte gegen Ende der 1990er Jahre weitgehend Einigkeit darüber, dass die westeuropäischen Gewerkschaften in einer strukturellen Defensivposition waren. Diese Situation wurde mitunter als ein quasi natürlicher, beinahe unumkehrbarer Großtrend dargestellt, Gewerkschaften wurden aus dieser Sichtweise nicht als strategiefähige Akteure, sondern als bloße passive Opfer der Entwicklungen seit den 1970er Jahren wahrgenommen.
Comeback in der Krise?
Die Niedergangserzählung hatte in Deutschland bis zur nächsten großen Krise 2008/09 Gültigkeit. Die absolute Zahl der Gewerkschaftsmitglieder war in Gesamtdeutschland Mitte der 2000er Jahre auf ein Niveau gesunken, das der DGB 1979 allein in Westdeutschland erreicht hatte. Zwischen 1995/96 und 2010 war der Anteil der tarifgebundenen Betriebe in Westdeutschland von 54 auf 34 Prozent gefallen; im Osten war der Wert im gleichen Zeitraum von 28 auf nur noch 17 Prozent gesunken (Ellguth/Kohaut 2011). In der Finanz- und Wirtschaftskrise kam es zu einer widersprüchlichen Veränderung. Die Auswirkungen des Crashs waren so tief, dass die politischen Eliten den Schulterschluss mit den Gewerkschaftsspitzen suchten. Unter Mitwirkung des DGB erfolgte – nachdem dieser spätestens seit dem Scheitern des Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit 2003 unter einem starken politischen Einflussverlust gelitten hatte – ein „Revival der Sozialpartnerschaft“ (Haipeter 2012: 118; vgl. auch Tullius/Wolf 2012: 374ff.). Dieser „Krisenkorporatismus“ (Urban 2013: 198) äußerte sich auf verschiedenen Ebenen (Haipeter 2012: 119ff.): Die Gewerkschaften wurden von der großen Koalition (2005-2009) mit den Konjunkturgipfeln kurzfristig politisch eingebunden, Maßnahmen wie die Ausweitung der Kurzarbeit oder die Abwrackprämie sollten Beschäftigung fördern. In der Tarifpolitik gab es einen Deal: Beschäftigungssicherung gegen Lohnmoderation. Auf betrieblicher Ebene wurden durch den Abbau von Arbeitszeitkonten und Kurzarbeit Arbeitsplätze gesichert (Schwarz-Kocher 2014). Das Ergebnis war eine Abfederung der Krisenauswirkungen auf dem Arbeitsmarkt – zum Preis von Leistungsverdichtung und einer Entlassungswelle von Leiharbeitern. Der Gewinn an institutioneller Macht war dabei eher temporär. Allerdings hielt selbst die schwarz-gelbe Regierung die Beziehungen zu den Gewerkschaftsspitzen aufrecht. Außerdem gab es Anzeichen dafür, dass die Anerkennung der Betriebsräte durch die Geschäftsführung in vielen Unternehmen gewachsen war (Tullius/Wolf 2012: 375; vgl. auch Hinz/Woschnack 2013).
Die Krise 2008/09 trug auch zu einer Trendwende in der öffentlichen Diskussion bei. Die deutschen Gewerkschaften hatten zwar die wachsende Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt bereits vor der Kriseverstärkt thematisiert und konnten mit einem aktiven Agenda-Setting (Mindestlohn, Gute Arbeit, etc.) wieder höheren gesellschaftlichen Zuspruch erreichen. Das kooperative Krisenmanagement half allerdings dabei, die Gewerkschaften als geschickte Problemlöser darzustellen (Haipeter 2012: 406). Als Folge des Imagewandels und des aktiven Agenda-Setting spürten sie wieder Rückenwind in den Belegschaften, was zu den Organisationserfolgen der vergangenen Jahre beitrug (zur IGM: Schmalz u.a. 2013). Unabhängig von den direkten Krisenauswirkungen hatte die wachsende Marktmacht vieler Beschäftigter – der demografische Wandel hatte zu Engpässen bei der Rekrutierung von Fachkräften in verschiedenen Sektoren (Metallverarbeitung, Altenpflege, etc.) beigetragen – die Spielräume der Gewerkschaften in Tarifverhandlungen vergrößert.
Zusammengenommen produzierten diese Prozesse ein „window of opportunity“ für die gewerkschaftlichen Interessenvertretungen, das sie ausnutzten. Der organisatorische Wandel der Einzelgewerkschaften war neben den veränderten Rahmenbedingungen ein zentraler Faktor. So schuf die IG Metall im Rahmen einer umfangreichen Organisationsreform einen Fonds über rund 20 Mio. Euro jährlich für die Mitgliederwerbung und Kampagnen. Auf diese Weise wurden Erschließungs- und Organizingprojekte wie im Windenergiesektor und Kampagnen wie die Leiharbeitskampagne „Gleiche Arbeit, Gleiches Geld“ ermöglicht. Als wichtiges Medium zur Rückkoppelung für das „German Organizing“ (Wetzel 2013: 22) dienten umfangreiche Beschäftigtenbefragungen, aus denen viele Themen in die strategische Planung einflossen. Auch konnte die IG Metall in der Krise in einigen traditionell gewerkschaftsfeindlichen Konzernen wie Schaeffler Organisationsmacht aufbauen (Hinz/Woschnack 2013; Schmalz u.a. 2013). Viele Verwaltungsstellen verzeichneten Erfolge in organisatorischen „weißen Flecken“, darunter z.B. Betriebsratsgründungen, gerade auch in Ostdeutschland. So gelang es der IG Metall ab 2011 ein Mitgliederplus zu verbuchen und Repräsentationslücken im prekären Sektor gegenzusteuern.
Auch bei ver.di waren – neben wichtigen Impulsen aus der Bundesverwaltung wie einer innovativen Kampagnenarbeit – in den einzelnen Fachbereichen Reformprozesse vorangetrieben worden. Die Zersplitterung des Tarifsystems hatte dazu geführt, dass durch das „Organisieren am Konflikt“ (Dribbusch 2013) in verschiedenen (oftmals kleineren) Tarifauseinandersetzungen Mitglieder gewonnen wurden und mit neuen Formen der Beteiligung (z.B. bedingungsgebundene Tarifarbeit) experimentiert wurde (Kocsis u.a. 2013). In diesen Kämpfen wirkten auch andere Themen wie Leistungsverdichtung mobilisierend: Erstmals wurde z.B. im Rahmen der Kampagne „Der Druck muss raus“ eine Personalbemessungsgrenze im Krankenhaussektor gefordert und im Fall der Charité in einem Tarifvertrag verankert. Doch auch hier zeigte sich die Ambivalenz: Ausgerechnet wegen der großen Auseinandersetzung im Einzelhandel, bei der die Unternehmerseite die Tarifbindung verlassen wollte, gewann ver.di im Jahr 2013 erstmals seit der Gründung 2001 Mitglieder. Insgesamt verzeichneten im Jahr 2013 fünf verschiedene Einzelgewerkschaften (IG Metall, ver.di, NGG, GdP und GEW) wieder Mitgliederzuwachs.
Das gewerkschaftliche Comeback im Kontext der Krise ist jedoch kein selbsttragender Trend: Gerade die mediale Inszenierung als pragmatische Krisenmanager kann rasch beschädigt werden, falls es zu erneuten Kriseneinbrüchen oder verstärkten Konflikten kommen sollte. Mit Blick auf die Handlungs- und Einflussfähigkeit der Gewerkschaften ist die entscheidende Frage, ob die deutschen Gewerkschaften ihre Zugewinne an Lohnabhängigenmacht dauerhaft stabilisieren und ausbauen können. Denn trotz ihrer Offensive in der Defensive bleiben sie – im Vergleich zur Hochphase der entfalteten Intermediarität in den 1970er Jahren – geschwächte Akteure mit einem Organisationsgrad von unter einem Fünftel, großen Lücken in der Tarifbindung und betrieblichen Verankerung, die in einem weitgehend gespaltenen Arbeitsmarkt agieren und starkem Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind. Auch wenn eine weithin positive Bilanz über die Ergebnisse der letzten Jahre gezogen werden kann, stehen die Gewerkschaften nach wie vor erheblichen Herausforderungen gegenüber (vgl. hierzu auch Urban 2013: 221ff.). An dieser Stelle sollen abschließend zwei Probleme benannt werden.
Ungelöste Probleme
Zunächst besteht die Gefahr, dass mit dem sinkenden Deckungsgrad von Flächentarifverträgen und Betriebsräten zwei der Basisinstitutionen der deutschen industriellen Beziehungen weiter erodieren. Zwar scheint mit dem Regierungswechsel nach der Bundestagswahl 2013 ein neuer Schub des institutionellen Machtgewinns einher zu gehen. Mit den Plänen für einen gesetzlichen Mindestlohn wurden erste Anzeichen einer Wende in der Arbeitsmarktpolitik sichtbar, die sich auch in verschiedenen Tarifvereinbarungen über die Zuschläge für Leiharbeit oder die Mindestentgelte im Friseur- und Fleischergewerbe widerspiegeln. Dennoch weisen die Zahlen des IAB-Betriebspanels darauf hin, dass noch 2012 die Tarifbindung und die Vertretung durch Betriebsräte abgenommen hat (Ellguth/Kohaut 2013: 284ff.). Es wird also für die deutschen Gewerkschaften von zentraler Bedeutung sein, ihre Mitgliederzuwächse auch in institutionelle Landgewinne umzusetzen, da sonst ein Einflussverlust der Gewerkschaften auf wichtige Politikfelder, insbesondere das Kerngeschäft der Lohnpolitik, droht.
Zweitens wurden auf europäischer Ebene mit der New Economic Governance Regeln verankert, die die institutionelle Macht der europäischen Lohnabhängigen schwächen. So wurden mit dem „Six-Pack“, dem Europlus-Pakt und dem „Fiskalpakt“ seit 2011 ein ganzes Bündel von Maßnahmen verabschiedet, mit denen unter anderem der haushaltspolitische Spielraum der Mitgliedstaaten eingeengt wird und systematisch in die Tarifautonomie eingegriffen werden kann (Schulten/Müller 2013: 291ff.). Die deutsche gewerkschaftliche Revitalisierung erscheint aus einem europäischen Blickwinkel darum als eine Art Abweichung von der Norm. Denn auch die südeuropäischen Gewerkschaften, die z.T. mit eindrucksvollen Mobilisierungen auf die Sozialreformen reagierten, sehen sich heute einer schwindenden Marktmacht, institutionellen Macht und mitunter auch weiteren Mitgliederverlusten ausgesetzt.
Folglich ist die gewerkschaftliche Erneuerung – gerade in einer europäischen Perspektive – noch fragil. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieser Prozess mittelfristig verstetigt und vertieft.
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[1] Der folgende Text fasst einige Ergebnisse aus dem Buch „Comeback der Gewerkschaften“ zusammen (Schmalz/Dörre 2013); zu den theoretischen Aspekten des „Machtressourcenansatzes“, auf den hier Bezug genommen wird, siehe Schmalz/Dörre 2014.