I.
Die Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – und in ihr die der Klassenkämpfe und der Arbeiterbewegung – verläuft keineswegs linear. Der Fortschrittsoptimismus eines Karl Kautsky, der (am Ende des 19. Jahrhunderts) den Historischen Materialismus in die Lehre vom gesetzmäßigen Aufsteigen der Menschheit von der Urgesellschaft bis zum Sozialismus/Kommunismus verwandelte, wurde immer wieder durch reale historische Erfahrungen, nicht nur durch Niederlagen, infrage gestellt. Es gibt im Kapitalismus „lange Wellen“ der Konjunktur und des Wachstum; längerfristige Perioden eines beschleunigten Wachstums lösen sich mit Stagnationsperioden ab. Dabei verändern sich auch die Intensität der Klassenauseinandersetzungen, das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, die Beziehung zwischen Ökonomie und Politik/Staat, das Verhältnis von Nationalstaatlichkeit und Internationalisierung. In diesem Zusammenhang lassen sich Kampfzyklen der Arbeiterbewegung und von sozialen Bewegungen rekonstruieren: Auf Perioden heftiger Bewegungen und Kämpfe folgen oft längere Perioden der relativen Ruhe, in denen Niederlagen verarbeitet werden und die sozialen und politischen Kräfte der Linken sich neu organisieren. Allerdings formieren sich auf der Basis der Widersprüche und Krisen, die der Kapitalismus ökonomisch, politisch, kulturell reproduziert, auch immer wieder neue Kampfzyklen mit neuen Allianzen der subalternen Klassenkräfte.
Schon im späten 19. Jahrhundert wurde erkannt, dass es in diesen Prozessen auch regionale Verschiebungen der Zentren des Klassenkampfes gibt: War bis 1871 („Kommune“) Frankreich – genauer: Paris – das Zentrum politischer Revolutionen, auf das die ganze Welt schaute, verschob sich bis zum Ende des Jahrhunderts das Zentrum der sozialistischen Arbeiterbewegung der II. Internationale zum Deutschen Reich mit seinen starken sozialdemokratischen Massenorganisationen, die nicht nur das Sozialistengesetz siegreich überstanden hatten, sondern auch in Theoriefragen („Neue Zeit“) als legitime Erbin des Marx’schen Werkes anerkannt wurden. Bis zum Ende des ersten Weltkrieges hatte sich das Zentrum – in der Folge der Oktoberrevolution und der Gründung der Kommunistischen Internationale – nach Osten verschoben. Im Verlaufe des 20. Jahrhunderts schließlich – vor allem nach 1945 in der Periode des Kalten Krieges und der Systemauseinandersetzung – konzentrierten sich revolutionäre Bewegungen – allen voran die chinesische Revolution, die 1949 siegte – an der kolonialen und semikolonialen Peripherie des kapitalistischen Weltsystems. Das heißt, „daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus“ ist – so Karl Marx im Vorwort zur ersten Auflage des „Kapital“.[1]
Schon früh waren marxistische Theoretiker z. B. mit der Frage konfrontiert, warum gerade in denjenigen Ländern, in denen die kapitalistische Produktionsweise das höchste Entwicklungsniveau erreicht hatte (also: zuerst England, dann die USA), die revolutionären Kräfte in der Arbeiterklasse relativ schwach blieben. Kapitalakkumulation – als historischer Prozess – bedeutet die beständige Transformation der Arbeiterklasse und der Formen des Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit, auch als Reaktion auf die Kämpfe der Arbeiter. In den Klassenkämpfen seit dem 19. Jahrhundert spielen in den verschiedenen Entwicklungsperioden nicht nur verschiedene Fraktionen der Arbeiterklasse (z.B. Textilarbeiter, Eisenbahner, Metallarbeiter, Automobilarbeiter) eine führende Rolle; auch die lokalen und regionalen Zentren der Kämpfe verändern sich – im internationalen Maßstab.[2] Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts hat der Kapitalexport in die sich neu industrialisierenden Länder Ostasiens – auch in die Volksrepublik China[3] – oder nach Brasilien, wo frühkapitalistische Ausbeutungsmethoden praktiziert werden, ein Ansteigen der Klassenauseinandersetzungen, oft um elementare Fragen (wie das Recht auf Gewerkschaftsgründungen, Arbeitsschutz, Mindestlöhne, Anerkennung von betrieblichen Interessenvertretungen usw.) hervorgerufen.
II.
Seit Mitte der 1970er Jahre setzte – natürlich ungleichmäßig in den verschiedenen Regionen und Ländern – der Siegeszug des Neoliberalismus (als Kriegserklärung an die politische und gewerkschaftliche Linke) ein und erreichte in den 90er Jahren – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Lagers – seinen Höhepunkt. Fukuyama feierte das „Ende der Geschichte“, d.h. den totalen Sieg des „Westens“, von Kapitalismus und repräsentativer Demokratie nach US-Vorbild. Zunächst schien diese Politik, die eindeutig auf die Stärkung der Klassenmacht der Bourgeoisie ausgerichtet war, eine Reaktion auf die Welle der Klassenkämpfe in den Zentren des Kapitalismus und die Siege antiimperialistischer Bewegungen an der Peripherie zwischen 1965 und 1975 zu sein. Die Große Transformation beschränkte sich jedoch keineswegs auf Politik und Ideologie, sondern war nur der Ausdruck tiefgreifender Veränderungen: in der Entwicklung der Produktivkräfte („digitale Revolution“), in den ökonomischen Strukturen (Dominanz des Finanzkapitals, neue Stufe der Internationalisierung), in der Sozial- und Klassenstruktur (Schwächung des industriellen Kerns der Arbeiterklasse), in der Durchkapitalisierung des Informations- und Kommunikationswesens und der Kultur und der Wissenschaft. Die Theoretiker der sog. „Regulationsschule“ hatten schon früh von einem Formationswechsel gesprochen, ohne schon den Charakter der neuen Formation („Postfordismus“) genauer bestimmen zu können. In der Folge wurde insbesondere der Zusammenhang zwischen zivilgesellschaftlicher Klassenmacht und Klassenpolitik aufgesprengt. Die Linke und die Arbeiterklasse erlitten nicht nur politische Niederlagen; ihre Klassenmacht im System der Produktion und in der Gesellschaft – aber auch in der internationalen Politik – wurde zerstört. Das sozialistische Staatensystem löste sich auf; kommunistische Massenparteien im Westen (wie PCI und PCF) verschwanden von der Bildfläche oder wurden marginalisiert; betriebliche Bastionen des Klassenkampfes – vor allem in der Automobilindustrie (Fiat, Renault, Ford Dagenham u.a.) – wurden „geschliffen“, militante Gewerkschaften gerieten in eine tiefe Krise. Die sozialdemokratischen Parteien passten sich mit „New Labour“ an die Hegemonie des Neoliberalismus und Finanzmarktkapitalismus an. Die Entwicklungen seit Mitte der 70er Jahre sind aus der Perspektive einer Klassengeschichte ein wirklicher „Erdrutsch“, wie es Eric Hobsbawm schon Anfang der 90er Jahre in seinem großen „Zeitalter der Extreme“ auf den Begriff brachte.[4]
Mit dem Übergang ins neue Jahrhundert wurde klar, dass die neoliberale „Gegenrevolution“ (wie sie sich selbst gerne bezeichnete) auf die Revision jenes Klassenkompromisses zielte, der das „Golden Age“ des Nachkriegskapitalismus (1945 – 1975) bestimmt hatte: das Modell eines sozialstaatlich regulierten Kapitalismus, der mit den Methoden keynesianischer Politik – aber auch aufgrund der starken Position einer überwiegend sozialdemokratisch orientierten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung – nicht nur für Vollbeschäftigung und soziale Sicherungen, sondern auch für steigende Realeinkommen der Lohnabhängigen sorgte. Die Beseitigung der Systemkonkurrenz mit den staatssozialistischen Systemen (in Deutschland mit der DDR) war – neben den veränderten Verwertungsbedingungen des Kapitals, die sich in den 70er Jahren abzeichneten – Voraussetzung für die Aufkündigung dieses Kompromisses. Kritische Wirtschafts- und Gesellschaftshistoriker hatten bald begriffen, dass diese Zäsur in den Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit und die damit verbundene Freisetzung der Marktkräfte, die in den 70er Jahren einsetzte, in der Geschichte des Kapitalismus seit dem frühen 20. Jahrhundert ganz außergewöhnlich war. Deshalb wurde mehr und mehr auf den von Polanyi verwendeten Begriff der „Großen Transformation“ zurückgegriffen.[5] Erst jüngst hat der Soziologe Wolfgang Streeck unter dem Titel „Gekaufte Zeit“ die Zerstörung des (wie er es nennt) „demokratischen Kapitalismus“ der Nachkriegszeit in drei Schritten rekonstruiert[6]. Seine Zeitdiagnose bleibt jedoch pessimistisch: der Kapitalismus löst seine Krisen nicht, während die sozialen und politischen Gegenkräfte, die ihn dazu zwingen könnten, zu schwach sind.
III.
Die parteipolitische Linke (links von der Sozialdemokratie) hat sich in Europa bislang von diesen verheerenden Rückschlägen nicht erholt.[7] Nur in Griechenland hat Syriza die Chance, demnächst eine Regierung zu führen; die Wahlergebnisse der Linken in Deutschland – bis hin zur möglichen Führung einer Landesregierung in Thüringen – sind im europäischen Vergleich ebenfalls singulär. Die Gewerkschaften stehen in einigen Ländern in einem „Comeback“.[8] Die Zahl von Streiks und Generalstreiks, teilweise auch die Mitgliederzahlen, haben zugenommen. Gleichwohl ist die tiefe Krise der Gewerkschaften in den Zentren des Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts noch längst nicht überwunden.[9] Ihre Durchsetzungsmacht ist nach wie vor äußerst begrenzt. Große Teile der Gewerkschaftsbewegung, die die eher privilegierten „Stammbelegschaften“ im „Normalarbeitsverhältnis“ repräsentieren, suchen die sozialpartnerschaftliche Kooperation mit Kapital und Staat, um den bereits erreichten Standard abzusichern. Die hohe Arbeitslosigkeit in den Krisenstaaten der EU – vor allem unter Jugendlichen – hat gewerkschaftliche Positionen weiter geschwächt. In anderen Bereichen – vor allem im Dienstleistungssektor und im Bereich der prekären Arbeit – werden neue Formen eines „social-movement-unionism“ praktiziert, der neue Formen des Arbeitskampfes und der Solidarität mit dem Aufbau von Strukturen der Organisation und der Interessenvertretung verbindet. Innerhalb der Gewerkschaftsbünde entwickeln sich die verschiedenen Sektoren (Industrie – Dienstleistungen; Normalarbeitsverhältnisse – prekärer Sektor, industrielle Produktion – Care Sektor usw.) auseinander. Vertretung allgemeiner Klasseninteressen wird auf diese Weise unterminiert.
Die sozialen Bewegungen der 70er Jahre (Feminismus, Ökologiebewegung) haben mit der Übernahme von Teilen ihrer Forderungen durch regierende Parteien an außerparlamentarischer Kraft verloren; gleichzeitig hat seit den späten 90er Jahren die globalisierungskritische Bewegung (attac, Weltsozialforum u.a.) kapitalismuskritische Positionen vertreten („Die Welt ist keine Ware“), die auch in den neuen Demokratiebewegungen seit 2011 fortgeführt werden – vor allem in der europäischen und amerikanischen Bewegungen gegen das TTIP, das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA. Dennoch: in den Zentren des „alten Kapitalismus“ (Nordamerika und Westeuropa) spielt die Linke – vor allem derjenige Zweig, der Arbeiterklasseninteressen in einer sozialistischen Perspektive der Überwindung des Kapitalismus vertritt – machtpolitisch nur eine marginale Rolle. Marxistische Intellektuelle sind über Zeitschriften, Verlage, internationale Konferenzen etc. nach wie vor kreativ und aktiv; dennoch ist ihr Einfluss auf das Wissenschaftssystem sowie auf das Bewusstsein der nachfolgenden Generationen seit den 70er Jahren deutlich zurückgegangen.
Gegen den herrschenden globalen Trend freilich hat sich seit den 90er Jahren in Lateinamerika eine Linkswende vollzogen, die sich gerade dort, wo das Ziel eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ verfolgt wird (vor allem in Venezuela, Ecuador und Bolivien), als relativ stabil erweist.[10] Innerhalb der Weltordnung hat sich mit dem Aufstieg Chinas zur ökonomischen und politischen Weltmacht eine Machtverschiebung ergeben, die von den alten Zentren als Herausforderung begriffen wird. Linke Regierungen in Lateinamerika werden durch die wirtschaftliche Kooperation mit China gegenüber den USA und Westeuropa gestärkt. Welche Rolle allerdings China für den Sozialismus des 21. Jahrhundert spielen wird, entscheidet sich letztlich in China selbst, wo die Widersprüche zwischen einem aus der Geschichte der KP (seit Mao) abgeleiteten politischen Herrschaftsanspruch der Partei und den Widersprüchen einer höchst dynamischen kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung (und der ihr eigenen sozialen Polarisierung) ausgetragen werden müssen.
IV.
Der Zyklus der neoliberalen Hegemonie hat seit der Jahrtausendwende seinen Höhepunkt überschritten. Mit der Entfaltung der inneren Widersprüche wird Hegemonie, die auf Konsens beruht, mehr und mehr durch Elemente des Zwangs ersetzt. In der Großen Krise nach 2008 haben die spekulativen Exzesse der Finanzmärkte und die blockierte Akkumulationsdynamik in der Realökonomie ineinander gegriffen. Offensichtlich sind die alten Zentren des Kapitalismus in eine Periode mit starken Stagnationstendenzen und erneuten konjunkturellen Einbrüchen übergegangen, während die Wachstumsimpulse der Weltwirtschaft nach wie vor von den Schwellenländern, insbesondere von China, ausgehen. Das Krisenmanagement in den Zentren, das auf die Rettung des Bankensektors sowie auf einen weiteren Abbau des Sozialstaates und von Machtpositionen der Arbeiter und der Gewerkschaften gerichtet ist, verstärkte die Spaltung zwischen Krisenländern, die immer mehr nach unten rutschen, großen Ländern (wie Frankreich und Italien), die nicht aus der Krise herauskommen, und einigen wenigen Ländern (wie Deutschland), die aufgrund ihres starken exportorientieren Industriesektors von ihrer Position auf dem US-amerikanischen und dem EU-Markt sowie von den Wachstumsimpulsen aus den Schwellenländern profitieren. Dazu verdichten sich Widersprüche, die auf globaler Ebene mit der Wachstumslogik des Industriekapitalismus sowie mit den Folgen der Finanzkrisen verbunden sind: die Störung natürlicher Kreisläufe wirkt als systematische Überbelastung (z. B. Klimakrise und ihre Folgen), die Massen der Flüchtlingsströme aus den Armutsregionen der Welt in die „reichen“ Metropolen, die Zunahme militärischer Gewalt in und zwischen Staaten.
Die Transformation von Hegemonie in Zwang – als Ausdruck dieser inneren Widerspruchsdynamik – realisiert sich vor allem in drei Dimensionen, in denen sich Strukturprozesse (in der Tiefe der Gesellschaft und der Wirtschaft) mit aktuellen politischen und sozialen Konflikten an der Oberfläche verbinden:
- Die zugespitzte soziale Spaltung in den Kapitalmetropolen und zwischen den armen und den „reichen“ Regionen der Weltgesellschaft erzeugt vielfältige Formen der strukturellen und der unmittelbaren Gewalt: in den Elendsbezirken der großen Städte, auf den informellen Arbeitsmärkten ebenso wie im Umgang mit den Flüchtlingen, die die Grenzen zu überwinden suchen. Das Ansteigen der Kriminalität, Drogenhandel und -konsum, die Gewalt, die von der Polizei in den Ghettos gegen Jugendliche ausgeübt wird, all das fördert Gewaltkulturen, in denen Machismus, Rassismus und religiöser Fundamentalismus (bis zur Todesbereitschaft in göttlicher Mission) aufblühen.
- Inzwischen wird die Krise der Demokratie (Post-Demokratie, Demokratie ohne Demos usw.) vielfach konstatiert und diskutiert.[11] Die Krise der repräsentativen Demokratie (z. B. Rückgang der Wahlbeteiligung, Ausschluss großer Teile der Subalternen aus der politischen Willensbildung, Verachtung gegenüber der politischen Klasse, negatives Ansehen der Regierenden usw.) wird ergänzt durch den Ausbau des Sicherheits- und Überwachungsstaates sowie durch autoritäre Formen der Durchsetzung der Austeritätspolitik in der EU. Diese Austeritätspolitik setzt demokratische Verfassungsrechte (z. B. die der Parlamente) außer Kraft, Sozialleistungen werden abgebaut, Rechte der Lohnabhängigen wie der Gewerkschaften suspendiert.
- In der internationalen Politik nehmen die Gewaltverhältnisse signifikant zu. Kriege des Westens – unter der Führung der USA und der NATO - gegen sog. „Störenfriede“ oder gegen fundamentalistischen Terrorismus (Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien, jetzt wieder Irak/ISIS) dienen der Sicherung der westlichen Interessen (z. B. am Öl oder auch von geopolitischen Zielen). Die inneren Verhältnisse in diesen Ländern – Armut der breiten Volksmassen, Diktaturen – stärken fundamentalistische Oppositionsbewegungen ebenso wie terroristische Gruppen und Aktivitäten, die nicht nur ihre religiösen Feinde bekämpfen, sondern auch auf die Kriegsführung der USA und ihrer Verbündeten – sowie die damit verbundenen Gräuel – reagieren. Gleichzeitig spitzen sich geopolitische Interessenkonflikte zwischen neuen Großmachtkonstellationen zu: in Ostasien, wo die USA an der „Eindämmung“ Chinas (u.a. durch die Aufrüstung von Japan, Indien oder Vietnam) arbeiten oder in Ost und Südosteuropa, wo der „Westen“ zuerst die Zerschlagung Jugoslawiens militärisch unterstützt, danach die NATO und die EU nach Osten ausgeweitet und seit Ende 2013 den Ukraine-Konflikt angeheizt hat, um den Einfluss Russlands zurückzudrängen.
V.
Aus diesen Konfliktkonstellationen erwachsen politische Auseinandersetzungen, in denen die Linke sich positionieren muss, um aus der Defensive herauszukommen. Auf der einen Seite vollzieht sich auf der Basis sozialer Spaltungen, von Demokratieabbau und wachsender Kriegsgefahr eine Wendung nach rechts, die sowohl von rechtspopulistischen (oder neofaschistischen) als auch von religiös fundamentalistischen Kräften getragen wird. Bei den herrschenden Eliten verstärkt sich die Bereitschaft, Sicherheitsinteressen – unter Einschluss der Anwendung militärischer Gewalt – höchste Priorität einzuräumen.[12] Das Modell eines „autoritären Kapitalismus“ gewinnt weltweit immer mehr Anhänger im Block an der Macht. Für die Linke steht die Auseinandersetzung mit solchen reaktionären Entwicklungstendenzen an erster Stelle. Im Nachgang zur großen Krise von 2008 haben sich in vielen Teilen der Welt soziale und politische Bewegungen entwickelt, die für Sturz von Diktaturen kämpften oder – in den alten Kapitalmetropolen – den Verfall der Demokratie und die mit der sozialen Ungleichheit verbundene Vernichtung von Lebenschancen (vor allem der jungen Generation) kritisieren. Diese neuen Formen „sozialer Unruhe“ sind gelegentlich nur von kurzer Dauer oder sie werden mit Gewalt unterdrückt. Sie inspirieren aber auch soziale Bewegungen, die weniger spektakulär agieren, sondern in der Zivilgesellschaft (z. B. bei Kämpfen um Wohnraum oder gegen die Privatisierung von Institutionen der öffentlichen Infrastruktur und Daseinsvorsorge) antikapitalistische und demokratische (autonome und selbstbestimmte) Politikformen praktizieren. Dass sie – an verschiedenen Orten – immer wieder aufbrechen und – trotz der unterschiedlichen Bedingungen in den verschiedenen Ländern – immer wieder zentrale Defizite des autoritären Kapitalismus und der Verselbständigung der Staatsmacht (in verschiedenen Formen) thematisieren, deutet darauf hin, dass sich diese Kämpfe gegen Klassenspaltung, Abbau der Demokratie und gegen Kriege mit der Verstärkung der Gewaltelemente kapitalistischer Herrschaft durchaus erweitern und vertiefen können. In solchen Prozessen eine – zur radikalen Kritik – weitertreibende, aufklärende Rolle zu spielen, ist in der gegenwärtigen Periode eine Hauptaufgabe der politischen, sozialen und kulturellen Linken. Dabei gibt es viele offene Fragen. Der Zusammenhang von Klasse und Partei – mit der Fixierung auf den Gegensatz von Kapital und Arbeit im zentralen Bereich der industriellen Produktion – hat sich zumindest in entwickelten kapitalistischen Systemen weitgehend aufgelöst. Die Debatte der Rolle der „Mittelklassen“, die sowohl durch die Krise des Finanzmarktkapitalismus durch sozialen Abstieg bedroht werden als auch – vor allem in den Schwellenländern – enorm ausgeweitet wurden, hat gerade erst begonnen.[13] Angesichts der zunehmenden Fragmentierung der Erfahrung von Herrschaft und Ungleichheit in den subalternen Klassen und Schichten der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften des frühen 21. Jahrhunderts ist es eine zentrale strategische Aufgabe der Linken geworden, die Auseinandersetzungen mit den verschiedenen Formen dieser Herrschaft – Klassenherrschaft und Ausbeutung in der Produktion und der Gesellschaft, patriarchalische Herrschaft und rassistische Diskriminierung – zusammenzuführen. Diese theoretische und praktische Arbeit sollte durch die kommenden 100 Ausgaben der Zeitschrift Marxistische Erneuerung (Z) befördert werden.
[1] Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: MEW 23, S. 16.
[2] Vgl. die Studie von Beverly J. Silver, Forces of Labor. Workers‘ Movements and Globalization Since 1870, Cambridge 2003 (dt. Ausgabe unter dem Titel: Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870, Berlin-Hamburg 2005).
[3] Vgl. u.a. Georg Egger u.a., Arbeitskämpfe in China, Berichte von der Werkbank der Welt , Wien 2013.
[4] Eric Hobsbawm, Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts (1994), München 1998, S. 503 ff..
[5] Vgl. Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Frankfurt/Main1978.
[6] Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013.
[7] Vgl. dazu Birgit Daiber u.a., Von Revolution bis Koalition. Linke Parteien in Europa, Berlin 2010.
[8] Vgl. dazu Hans-Jürgen Urban, Zwischen Defensive und Revitalisierung. Über die Bedingungen gewerkschaftlicher Solidarität im Gegenwartskapitalismus, in: Sozialismus, 11/2014, S. 35 - 41; Klaus Dörre und Stefan Schmalz, Comeback der Gewerkschaften? Eine machtsoziologische Forschungsperspektive, in: dies. (Hrsg.), Comeback der Gewerkschaften? Frankfurt/New York 2013, S. 13 - 38
[9] Vgl. u.a. Andrew Martin/George Ross (Eds.), The Brave New World of European Labor. European Trade Unions at the Millennium, New York/Oxford 1999.
[10] Vgl. Dieter Boris, Bolivars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika, Köln 2014.
[11] Vgl. Frank Deppe, Autoritärer Kapitalismus. Demokratie auf dem Prüfstand, Hamburg 2013.
[12] Vgl. Frank Deppe, Imperialer Realismus? Deutsche Außenpolitik: Führungsmacht in „neuer Verantwortung“, Hamburg 2014.
[13] Vgl. z. B. Göran Therborn: Class in the 21st Century, in: New Left Review, 78, November/December 2012; verschiedene Beiträge in Z 96 (Dezember 2013): Klassenanalyse und Intelligenz..