1. Die Krise des Fordismus, d.h. der Massenproduktion auf der Grundlage im Inland steigender Masseneinkommen, war eine Krise der Profite und der ihnen entsprechenden Einkommen und Vermögen der Reichen. Von 1930 bis 1970 war der Anteil der obersten 10 Prozent am Gesamteinkommen in den USA kontinuierlich von 45 Prozent auf 33 Prozent gefallen. In Europa von 40 Prozent auf 30 Prozent. Bei den Vermögen ging der Anteil der obersten 10 Prozent im selben Zeitraum in den USA von 80 auf 64 Prozent zurück, in Europa von 82 auf 60 Prozent. Deshalb setzte das Kapital in den Siebziger Jahren den Übergang zum Neoliberalismus durch.
2. Die „Königsidee“ des Neoliberalismus bestand darin, dass man nicht mehr für einen nationalen Markt, sondern für den Weltmarkt produziere. Deshalb könne man die Entwicklung der Masseneinkommen in den Metropolen-Ländern vernachlässigen. Beschäftigteneinkommen waren nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Ausweitung der inländischen Nachfrage zu werten, sondern in erster Linie als Kostenfaktor, der unter den Bedingungen der globalen Konkurrenz möglichst gering zu halten war. Um einen Ausgleich für die wegbrechende Inlandsnachfrage zu schaffen, erhielten die Beschäftigten und Bedürftigen nun anstelle von Löhnen und Sozialleistungen Kredite (u.a. die berühmten „subprime credits“).
3. Dieses System der Kreditierung und Verschuldung von privaten Haushalten, Staaten und Unternehmen knickte ein, als sich die Zahlungsunfähigkeit von Privaten und Unternehmen vor allem der Finanzindustrie herausstellte. Nun hatten die Staaten als Kreditgeber der letzten Hand einzuspringen, die Billionen Euro bereitstellten, um Banken und andere Unternehmen herauszupauken. Der EZB-Chef Draghi erklärte medienwirksam, man werde „unbegrenzt“ Staatsanleihen von Euro-Ländern kaufen, die einen Hilfsantrag beim Rettungsfonds stellen. Auf die Krise des Fordismus war nun die Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus gefolgt, die man aber nicht etwa durch eine Erhöhung der Massenkaufkraft und die Entwicklung massiver öffentlicher Investitionsprogramme überwinden wollte, sondern durch eine Intensivierung des Konzepts, das für die Krise verantwortlich war: durch noch höhere Verschuldung, durch die weitere Finanzialisierung der Wirtschaft.
4. Warum riskiert man diesen offensichtlichen wirtschaftspolitischen Irrsinn? Überall in der Welt gehen die Wachstumsraten zurück, vor allem in den „westlichen“ Metropolen, den USA, der EU und Japan. In Deutschland ist im August 2014 die Industrieproduktion um 4 Prozent geschrumpft, die Auftragseingänge sind um 5,7 Prozent zurückgegangen. Es fehlt für jeden sichtbar an kaufkräftiger Nachfrage der „Massen“ und am produktiven Einsatz der Arbeitskräfte, die in immer höheren Millionenzahlen „arbeitslos“ sind.
Doch das kapitalistische System beharrt weiter auf dem Neoliberalismus, weil die Bezieher von Unternehmens- und Vermögenseinkommen mit ihm nach wie vor hervorragend fahren. Ihr Anteil am Volkseinkommen ist in Deutschland 2009 bis 2012 von 30,6 Prozent auf 33 Prozent gestiegen. Die Global 500, die 500 größten Unternehmen der Weltwirtschaft, haben von 2012 auf 2013 ein Profitplus von 27 Prozent verzeichnet. So ist die Lage: Wir haben eine Große Globale Krise, aber diese Krise hat die Hauptinstanzen der kapitalistischen Weltwirtschaft nicht erreicht. Die schauen höchst zufrieden auf das Anschwellen ihrer Profite und sagen: mehr von dieser Politik.
5. Die erste Schlussfolgerung: Es hat keinen Sinn, auf die Einsicht der Profiteure und Mächtigen dieses Systems zu warten. Dies gilt sowohl für die allgemeine neoliberale Profitwirtschaft wie auch für die Hoffnungen auf einen „grünen Kapitalismus“, der mit der Umweltkatastrophe zurecht kommen würde. Knapp ein Drittel des Gesamtumsatzes der Global 500 entfallen auf Unternehmen aus dem Bereich Öl/Auto/Luftfahrt. Im „schmutzigen Dutzend“, das die Liste anführt, beherrschen diese das Feld. Raum für eine Politik für Menschen und Natur wird nur in dem Maß geschaffen, in dem der überragende politische Einfluss der Transnationalen Konzerne (TNK) gestutzt wird, einschließlich der fossilistischen, die Umwelt verpestenden Unternehmen ebenso wie der Finanzunternehmen, die dieses System schmieren und gleichzeitig auspressen. Objektiv ist es ein Kampf, bei dem die große Mehrheit der Menschheit den TNK entgegensteht.
6. Es käme darauf an, aus dieser objektiven Mehrheit eine „subjektive“ zu machen, eine Allianz von Kräften, die in den TNK und ihrer wirtschaftlichen und politischen Macht die verheerenden Institutionen kapitalistischer Gier zu Lasten der Zukunft von Menschen und Natur erkennen. Die westlichen Metropolen USA und EU, wo die große Mehrzahl der TNK ihre „Homebase“ hat, dominieren immer noch die Weltwirtschaft. Sie erzielen über 46 Prozent der gesamten Weltwirtschaftsleistung, tätigen über 51 Prozent aller Direktinvestitionen. Doch ihre Dominanz bröckelt. Die fünf BRICS-Länder (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) haben ihren Anteil am Welt-BIP von 2000 bis 2013 von 8,6 Prozent auf 21,5 Prozent erhöht. Um sich gegen die aufkommende Konkurrenz weiter durchzusetzen, betreiben USA und EU das TTIP-Abkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership) wie die USA auf ihrer pazifischen Seite das TPP (Trans-Pacific-Partnership). Kämen sie zustande, würden die „westlichen“ Metropolen wieder über eine Homebase verfügen, die 61 Prozent des Welt-BIP erstellt. Schon allein deshalb ist der Kampf gegen die Abkommen wesentlich für die Auseinandersetzung um eine „andere Welt“, auch wenn man sich keine Illusionen über eine „antikapitalistische Qualität“ der BRICS-Konkurrenten machen sollte. Doch würden mit TTIP und TPP die TNK zu dominierenden Subjekten des Völkerrechts aufgewertet und etwaige demokratische Veränderungen würden, wenn sie Profite beeinträchtigen, schadenersatzpflichtig sein. Demokratischer Fortschritt soll unerschwinglich teuer werden.
7. Die neoliberale Globalisierung hat nicht nur zu neuen Block-Bildungen im internationalen Raum, sie hat auch in den Metropolen zur Herausbildung neuer Formationen geführt, die zum Teil die Klassenverhältnisse überlagern. Es sind Globalisierungsgewinner und -verlierer entstanden, die aus entgegengesetzten Gründen nicht in den Kampf gegen die Kapitalmacht eingreifen. Zu den Globalisierungsgewinnern zählen sich gerade in Deutschland Angehörige der Stammbelegschaften, die sich überwiegend positiv mit ihrem Unternehmen identifizieren. Die Krise verstärkt die Grunderfahrung der Beschäftigten, dass die Festanstellung und damit der eigene Status nicht unmittelbar gefährdet ist, „aber nur durch die überwiegend individuelle Bewältigung immer neuer Bewährungsproben dauerhaft zu gewährleisten ist“[1]. Diese ArbeitnehmerInnen suchen den Schulterschluss mit dem Unternehmen und grenzen sich nach unten ab.
Die offenkundigen Verlierer der Globalisierung, die neuen Unterschichten, die prekär Beschäftigten und die schon weitgehend von der Arbeitswelt Ausgeschlossenen haben am meisten Angst vor der Zukunft, bleiben aber dennoch weitgehend inaktiv, weil sie ihre Biografie des Scheiterns und der Misserfolge, das Nicht-Gelingen ihres Lebens sich selbst zuschreiben, auch hierin ein Opfer der neoliberalen Ideologie.[2]
Diese beiden Grundhaltungen sind wohl über die LohnarbeiterInnen hinaus festzustellen. Globalisierungsgewinner sehen sich genötigt, noch stärker den neoliberalen Imperativen zu folgen, die Verlierer suchen die Schuld vor allem bei sich selbst: Im Wettbewerb behaupten sich die Besten, zu denen wir eben nicht gehören.
8. Andererseits gibt es eine sogar wachsende Zahl von Bewegungen und Gruppen, die sich gegen die vom Kapitalismus ausgehenden Probleme wenden und auf eine Gesellschaftsveränderung drängen, sich aber im Ziel nicht einig sind.[3] Harvey nennt die NGOs; die autonome, basisorientierte Opposition; die organisierte Arbeiterbewegung und die politische Linke; die Vielzahl sozialer und ökologischer Bewegungen; und emanzipatorische Bewegungen zu Identitätsfragen (Frauen, Kinder, Schwule, rassische, ethnische und religiöse Minderheiten). Diese Strömungen liegen zum Teil erheblich auseinander, es gibt aber ein paar allgemeine Leitlinien, über die Einigkeit besteht oder relativ schnell hergestellt werden könnte. Harveys „ko-revolutionäre Theorie“, die dem Konzept der bei uns diskutierten Mosaik-Linken entspricht, hält sie so fest:
- der Respekt gegenüber der Natur;
- radikale Gleichheit in den gesellschaftlichen Beziehungen;
- institutionelle Arrangements, die auf einem gewissen Gespür für gemeinsame Interessen und auf Kollektiveigentum beruhen;
- demokratische Verwaltungserfahrungen (im Gegensatz zu den existierenden korrupten Betrügereien);
- von den unmittelbaren Produzenten organisierte Arbeitsprozesse;
- ein Alltagsleben als freiheitliche Erkundung neuer gesellschaftlicher Beziehungen und Lebensgestaltungen;
- geistige Vorstellungen, die sich auf die Selbstverwirklichung im Dienst am anderen konzentrieren,
- sowie technologische und organisatorische Erneuerungen, die dem Allgemeinwohl dienen, statt die militarisierte Macht, die Überwachung und die unternehmerische Gier zu unterstützen.
Die Aufgabe, die ansteht, ist, diese Strömungen, die um gesellschaftliche Veränderungen ringen, zusammenzuführen und zu einer in den Grundzügen einheitlichen antikapitalistischen Bewegung zu machen. Wir sind an einem Wendepunkt in der Geschichte des Kapitalismus angekommen. Jetzt muss es heißen: Der Kapitalismus selbst muss als vernünftiges Gesellschaftssystem in Frage gestellt, er muss überwunden werden. Das Privateigentum an Produktionsmitteln ist als die letzte Ursache der vielfältigen Probleme und Widersprüche herauszustellen, seine Überwindung ist die wesentliche Voraussetzung einer solidarischen, dem Menschen verpflichteten Gesellschaft.
[1] Klaus Dörre/Anja Happ/Ingo Matuschek (Hrg.), Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen, Hamburg 2013, S. 48.
[2] Conrad Schuhler, Widerstand. Kapitalismus oder Demokratie. ISW-Report Nr. 96, München 2014, S. 14.
[3] David Harvey, Das Rätsel des Kapitals entschlüsseln, Hamburg 2014, S. 209 ff.