Wenn wir uns vergegenwärtigen, wie die Geschichte der Arbeiterbewegung und der politischen Akteure auf der Linken hierzulande, ausgehend vom Ende des 2. Weltkriegs und des deutschen faschistischen Staats, in Hinblick auf demokratische Prinzipien und Postulate seitdem verlaufen ist, so können wir durchaus zu einem positiven Urteil kommen. So konnte, um nur ein Beispiel zu nennen, Anfang der 1970er Jahre immerhin ein Sammelband mit dem Titel „BRD-DDR. Vergleich der Gesellschaftssysteme“ publiziert werden, ohne dass deswegen jemand vom Verfassungsschutz belästigt worden ist. Damals wurde noch häufig von „Spätkapitalismus“ gesprochen, ein Begriff, auf den man später freilich mehr und mehr verzichtete, um ihn durch andere Leerformeln, wie etwa Turbo-Kapitalismus, zu ersetzen. Dabei hat sich, nicht ohne Grund, bis heute die Auffassung durchgehalten und sogar über die traditionellen Organisationen und Zirkel der Linken hinaus ausgebreitet, dass die Gesellschaft der BRD eine ökonomische Basis besitzt, die irgendwie kapitalistisch ist, und dass es einer politischen Bewegung bedarf, um negative Effekte dieser Ökonomie zu verhindern bzw. diese ganz abzuschaffen. Das Denkmuster: einerseits eine kapitalistische Ökonomie und „ökonomische Bewegung der Arbeiterklasse“, andererseits („untrennbar“ damit verbunden) eine sozialistische Politik als „politische Betätigung“ dieser Klasse[1], ist seit nunmehr eineinhalb Jahrhunderten (wie Marcello Musto in Z 99 uns gezeigt hat) Grundzug des Gesellschaftsbildes einer nach Macht strebenden Arbeiterbewegung.
Es ist zu bezweifeln, dass ein so einfaches Konzept hinreicht, eine Gesellschaft – welchen Typs auch immer – zu begreifen und ihre Umwälzung zuwege zu bringen. Es könnte sein, dass die in dieser Hinsicht politische Erfolglosigkeit der hiesigen Arbeiterbewegung – seit mehr als vierzig Jahren eine Erfolglosigkeit, die mit bürgerlich-demokratischen Entwicklungen durchaus einhergehen konnte – mit jenem einfachen Konzept und unzureichenden Verständnis der Wirklichkeit kapitalistischer Gesellschaft zu tun hat. Bloße Gegenüberstellungen von „Ökonomie“ und „Politik“, wie auch immer sie gefasst sein mögen, geben wenig her. Sie sind abstrakte Dichotomien. Auch wenn man eine enge Verflechtung beider Arten gesellschaftlicher Gewalttätigkeit betont, wird diese (trotz wegweisender Ansätze z. B. in der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus) nicht wirklich begriffen, ganz zu schweigen von ihrem Zusammenspiel mit weiteren, insbesondere patriarchalen und ideokratischen gesellschaftlichen Gewalten und ihrer gemeinsamen Grundlegung durch die Interaktionen zwischen den Menschen und ihren Um- und Mitlebewelten überhaupt. Ist also das erste Essential einer sozialistischen Strategie der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse ein Verzicht auf ein derart abstraktes Gesellschaftsbild?
Dafür scheint einiges zu sprechen. Das erwähnte traditionell-sozialistische Denkmuster, „Ökonomie vs. Politik“, präsentiert ja die Menschen letztlich als Personifikationen ökonomischer Kategorien und politischer Potenzen und nicht als Lebewesen in ihrer Umwelt, die allerdings in (letztlich selbst gemachten) Zwangsverbänden ihrer jeweiligen Gesellschaft interagieren. Um sich dieser zwangsgewaltlichen Zusammenhänge – der ökonomischen Ausbeutungen, patriarchalen Dienstbarkeiten, staatsgewaltlichen Unterwerfungen und ideokratischen Verblendungen – zu entledigen, bedarf es anderer gesellschaftlicher Veränderungen als derjenigen, die das Nachdenken über Kapitalelemente, Wertrelationen, Krisendynamiken und Krisenpolitiken ins Auge fasst. Voraussetzung und/oder erster Schritt des Nachdenkens über eine sozialistische Strategie ist unseres Erachtens eine Revision des Gesellschaftsbildes der Sozialist/inn/en und zwar im Sinne einer gesellschaftswissenschaftlichen Mensch-Umwelt-Theorie.
Eine solche Theorie der Gesellschaft muss eine Theorie der Interaktionen von Menschen und ihrer jeweiligen, natürlichen wie selbstgemachten Umwelt sein, deren Begrifflichkeit versucht, den inhaltsleeren Ausdruck „Mensch-Natur-Beziehungen“ zu überwinden (was, bitte, ist „Natur“?). Allerdings ist auch der Begriff „Umwelt“ mit Vorsicht zu behandeln. Seit ihn Naturwissenschaftler gebildet haben, gab es durchaus auch fragwürdige Begriffsbestimmungen wie: Umwelt zu begreifen als subjektiv, d. h. aus der Sicht der jeweiligen Tierart konstituierte Umgebung (Uexküll), oder als Bündel limitierender chemisch-physikalischer Faktoren mit Blick auf alle Organismen in einem bestimmten Gebiet (Odum). Demgegenüber steht der Ansatz, Umwelt zu begreifen als jeweilige belebte und unbelebte Umgebung von Menschen, deren Mitmenschen (wie sie selber) als zur selben Umwelt gehörend gelten[2]. Dieser Umweltbegriff kann einer gesellschaftswissenschaftlichen Mensch-Umwelt-Theorie zugrunde gelegt werden. Seine Besonderheit ist die Mutualität der flexiblen Interaktionen zwischen geselligen Menschen sowie zwischen solchen Individuen und den Gegebenheiten ihrer übrigen Um- und Mitlebewelt, welche positive wie negative Dargebote sein können. Dabei ermöglicht und fördert die körperliche Verfassung der menschlichen Lebewesen vielfältige lokomotorische und manipulatorische Interaktionen in Bezug auf ihr jeweiliges Habitat. Dazu gehören auch die Verfertigung und der Transport selbstgemachter Gegenstände, von Artefakten.
Dass die umweltlich-menschlichen Interaktionen in den verschiedenen Gesellschaften, die es seit der Frühzeit der Hominiden in Afrika gegeben hat, unterschiedlich geprägt waren, ist klar. Hier nur ein Beispiel einer solchen Ausprägung, das für das Thema „Sozialistische Strategie“ interessant sein dürfte: die andauernde Massenerwerbslosigkeit in der kapitalistischen Wirtschaft hierzulande. Aufgrund der Ausstattung und der Dargebote, der Ausbildung und des Reichtums von Land und Leuten in dieser Gesellschaft sollte es eigentlich einfach zu machen sein, Werkstätten und Einrichtungen in genügender Zahl mithilfe von vollzeitbeschäftigten und angemessen bezahlten Erwerbstätigen in hierfür geeigneten Gebieten aufzubauen und zu betreiben, um nützliche ungiftige Dinge material- und energiesparend und abfallarm herzustellen und die Massenerwerbslosigkeit zu beenden. Dazu bedarf es der Erarbeitung und Verwirklichung eines Programms demokratischer Investitionslenkung im Sinne sozial und ökologisch orientierter Um- und Rückbauten der technischen Ressourcennutzung und der Fertigungs- und Transportanlagen mit entsprechenden Auflagen, das ausreichend finanziell ausgestattet ist. Statt solcher Art Überlegungen anzustellen wird das Denken mancher sozialistischen Fachleute von einem Wertfetischismus bürgerlicher Provenienz beherrscht: So wird etwa die ausgeleierte Forderung erhoben, das „Wirtschaftswachstum“ anzukurbeln, um dadurch „Beschäftigung“ zu schaffen. Gemeint ist ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), des in Geld ausgedrückten angenommenen Werts der in einem Gebiet jährlich hervorgebrachten Waren-Gesamtheit. Wachstum des BIP, das durchaus mit Arbeitsplatzvernichtung einhergehen kann, heißt in der Regel auch Wachstum der Unternehmensgewinne (die dann Kapitalakkumulation in irgendeiner Form ermöglichen) bei vermehrter Nutzung von Ausrüstungen, Bauten und Infrastrukturanlagen. Durch zunehmenden Verbrauch materialer und energetischer Vorleistungen und durch den gewachsenen Warenausstoß führt das BIP-Wachstum zu noch höheren Verbräuchen, Belastungen und zumeist auch Zerstörungen umweltlicher Dargebote aller Art. Daher sollte, im Gegenteil, die Eindämmung kapitalintensiven Wirtschaftswachstums und ein Rückbau bzw. eine Umgestaltung der darauf ausgerichteten Produktions- und Infrastrukturanlagen, in Verbindung mit der Schaffung genügend guter Arbeitsplätze, eine sozialistische Zielvorstellung ersten Ranges sein. Dass sozialistische Denker da oft blind sind, hat zwei Gründe: 1. ist der Wertfetischismus nicht nur ein fester Bestandteil kapitalistischer Realität, Wert ist vielmehr auch eine verfestigte Fiktion in den Köpfen mancher sozialistischen Theoretiker; 2. wird der irreführende Begriff des BIP seit Ende des 2. Weltkriegs als „must be“ Element des SNA-Systems der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in den kapitalistischen Ländern wissenschaft- und staatlicherseits propagiert. Ähnliches passiert auch auf anderen Gebieten: gefordert wird unter allgemeinem Gähnen eine weitergehende „Gleichstellung der Geschlechter“, anstelle einer Abschaffung der Ehe mit ihrer männlichen „Erzeuger“- und Familienvater-Fiktion; gefordert wird die Rückverwandlung einer „marktkonformen Fassadendemokratie in eine sozialstaatliche Bürgerdemokratie“ anstelle einer Überwindung der auf kriegerische Machtausdehnung und scheinheilige Bürgerüberwachung zielenden Staatsgewalt.
Fragt man, warum kritische Menschen ihre Kritik an der Gesellschaft oft derart beschränken, fällt die Antwort leicht: die zu kritisierenden zwangsverbandlichen Institutionen gibt es, mitsamt ihren Selbstrechtfertigungen, seit es „unsere“ Zivilisation gibt. Seit etwa 5000 Jahren gibt es ökonomische Ausbeutung, patriarchale Dienstbarkeit, staatliche Gewaltherrschaft und zu alledem die ideokratische Rechtfertigung zwangsverbandlicher gesellschaftlicher Interaktionsverhältnisse. In Indien sind die Heiligen Kühe Lebewesen; die Heiligen Kühe der westeurasischen Zivilisation sind dagegen gedanklich-begrifflicher Art, nämlich Fiktionen: das private wie staatliche „Eigentum“; der väterliche „Zeuger“; die staatliche „Hoheit“ und nicht zuletzt jenes „höhere Wesen, das wir alle verehren“ und das seit Newton auch von der neuzeitlichen Wissenschaft akkompagniert wird.
[1] Karl Marx/Friedrich Engels, Beschlüsse der Delegiertenkonferenz der Internationalen Arbeiterassoziation, abgehalten zu London vom 17. bis 23. September 1871, in: MEW 17, S.422.
[2] Vgl. James J. Gibson, The Ecological Approach to Visual Perception, 2. A. 1986 (dt. Ausg.: Wahrnehmung und Umwelt: der ökologische Ansatz in der visuellen Wahrnehmung, München 1982).