1. Problem
„Die Marxsche Werttheorie hat sich als nicht haltbar erwiesen.“ Dies glauben keineswegs nur Gegner des Kritikers der Politischen Ökonomie. Keine Geringeren als die neuen Herausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) fällen dieses Urteil. In ihrer von Bertram Schefold verfassten Einführung zum dritten Band des „Kapital“ bekennen sie, ihnen sei „rätselhaft, wie man an der Vorstellung, die Arbeit als abstrakte bestimme den Wert der Waren, festhalten will.“ Das Beharren auf der Wertlehre habe Marx an analytischen Fortschritten gehindert. (MEGA II/15: 898 f., 910). Auch den Editoren ist klar: Wer das arbeitswerttheoretische Fundament für unbrauchbar hält, bringt das darauf errichtete Gesamtgebäude ins Wanken. Wer die Arbeitswerttheorie ablehnt, beraubt die marxistische Ökonomie nicht nur ihres kritischen Gehalts. Er schlägt ihr den Boden unter den Füßen weg. Alle ökonomischen Kategorien sind vom Arbeitswert abgeleitet. Was dann von Marx bleibt, ist wenig: Man attestiert ihm, zwar ein origineller, aber nur ein theoretisierender Denker gewesen zu sein. Sein Theoriensystem tauge nicht zur Analyse und zum Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise. Was für ein Treppenwitz der Geschichte, dass die Herausgeber der Marx-Engels-Werke, die eine herausragende editorische Leistung erbringen, eine solche Position einnehmen. Wie kommen sie dazu? Woraus mag die Zurückweisung des zentralen Bausteins der Marxschen ökonomischen Lehre resultieren? Vermutlich haben ihre Protagonisten und Protagonistinnen den Unterschied zwischen der konkreten und der abstrakten Arbeit – Springpunkt für das Verständnis der Politischen Ökonomie – nicht verstanden. Wie kann man meinen, „das Gleichsetzen von einer Stunde Nähen und einer Stunde Hämmern ist ebenso rätselhaft wie die Gleichsetzung eines Hemds und angenagelter Hufeisen als Ergebnis des Beschlagens eines Pferds?“ (Schefold 2008: 41 f.) Es ist belustigend, Marx zu unterstellen, ihm sei der Unterschied zwischen Hemd und Hufeisen nicht klar gewesen. Wer nicht verstanden hat, was bei unterschiedlichen konkreten Tätigkeiten verglichen und gleichgesetzt wird, hat zwangsläufig Probleme mit der Arbeitswerttheorie. Derartige Interpretationen laufen immer wieder auf das Verwechseln von Gebrauchswert und Wert, von konkret-nützlicher und allgemein-menschlicher Arbeit hinaus. So auch bei den Wortführern der inzwischen in die Jahre gekommenen „Neuen Marx-Lektüre“, wie Dieter Wolf am Beispiel der Thesen von Helmut Reichelt nachweist. (Wolf 2004: 66 ff.; Reichelt 2002: 172 ff.) Es ist wichtig, dass man die beiden Bestimmungen der Ware – Gebrauchswert, Wert – und der Arbeit (konkrete, abstrakte) säuberlich auseinander hält, obwohl sie nie getrennt vorkommen. Bei der abstrakten Arbeit wird „abstrahiert“, d.h. abgesehen vom konkret-nützlichen Charakter der Gebrauchswerte produzierenden Arbeit (vgl. Haug 1974: 96 f., 109 f.).
„Dass alle Wertschöpfung auf menschliche Arbeit zurückgeht, kann schwerlich in Zweifel gezogen werden“, schrieb Werner Hofmann. „Völker, die ... durch Krieg verarmt sind oder die den Weg der Industrie noch vor sich haben, wissen recht wohl, dass jede Vermehrung des Realprodukts nur durch menschliche Arbeitsleistung zu erreichen ist. Die moderne Theorie des Volkseinkommens deckt sich mit der von Marx, wonach der Neuwert einer Periode gleich ist der Summe aller Lohn- und Gewinneinkommen (in der Sprache von Marx: Größe des variablen Kapitals plus Größe des Mehrwerts). Auch vermag nur eine umfassende Theorie der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung, die von den Bedingungen des menschlichen Arbeitens ausgeht, zu erklären, wie es nicht nur zu verkaufbaren Waren kommt, sondern gleichzeitig auch zu den kaufkräftigen Einkommen, die den Waren nachfragend gegenübertreten – ein Aspekt, der in der gängigen Lehre von der Einzelpreisbildung gänzlich fehlt. Als Ausgangspunkt aller Theorie der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung ist die Arbeitswertlehre niemals widerlegt worden.“ (Hofmann 1971: 109) Selbst Georg Simmel (1858-1918), weit entfernt davon, ein Epigone von Marx oder gar Marxist zu sein (Busch 2000: 115), bekennt: „Ohne von den angedeuteten Vereinheitlichungen des Wertes eine als die allein legitime zu verkünden, möchte ich die Arbeitstheorie wenigstens für die philosophisch interessanteste halten.“ (Simmel 2009: 654)
Die Arbeitswerttheorie ist der Schlüssel zum Verständnis der kapitalistischen Reproduktion. Der Wert ist ein Verhältnis der Warenproduzenten, verborgen unter dinglichen Hüllen. Seine Substanz ist die abstrakte Arbeit und seine Größe die Arbeitszeit, die gesellschaftlich (nicht individuell) nötig ist, um eine Ware herzustellen.
Doch welche Arbeitszeit ist das? Wodurch werden die „gesellschaftlichen Notwendigkeiten“ festgelegt, und vor allem, wie? Viele glauben, diese Frage könne niemand beantworten. Es dennoch zu versuchen, sei sinnlos, weil Produktivitäten und Werte sich unentwegt änderten. Im Kapitalismus berechnet tatsächlich niemand den Wert. Er ist das Gesetz des Preises, das sich im Verborgenen durchsetzt. Eine gemeinschaftliche Produktion, die von vornherein die Arbeit in gesellschaftlich notwendigen Proportionen verteilt, muss ihn berechnen. Und prinzipiell ist das möglich. Dass die Größe sich ändert, ist kein Grund, ihre Ermittlung zu unterlassen, sondern diese in bestimmten Abständen zu wiederholen.
Marx zeigt, dass der Wert „von einem Prozess bestimmt wird, den wir nicht verstehen und der nicht gerade unserer bewussten Entscheidung entspringt, und dass die Art, wie sich diese Werte uns aufzwingen, erst noch entschlüsselt werden muss ... Ich denke, bis heute ist das für uns eine große Frage.“ (Harvey 2011: 32) Diese Frage ist von eminent praktischer Bedeutung. Über sie haben sich Ökonomen Jahrhunderte lang den Kopf zerbrochen: Wie kommen Tauschrelationen zustande? Warum bekommt man für manche Güter viele, für andere nur wenige Güter im Austausch? „Was die Produktenaustauscher zunächst praktisch interessirt, ist die Frage, wieviel fremde Produkte sie für das eigene Produkt erhalten, in welchen Proportionen sich also die Produkte austauschen.“ (MEGA II/10: 74; MEW 23: 89)
Trivial ist, dass die Tauschrelationen bestimmt werden durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage. Das ist der Tummelplatz der Neoklassik. Mit ihren mathematischen Spielchen gelangt sie zu manch brauchbaren, praktikablen Einsichten. Die Klassiker und Marx, interessierten sich wenig für derart Banales. Ihre Aufmerksamkeit galt der Frage, wie Tauschrelationen zustande kommen und erklärt werden müssen, wenn Angebot und Nachfrage „ausgespielt“ haben, d.h. sich im Gleichgewicht befinden. Die Waren tauschen sich dann auf der Grundlage ihrer Wertgrößen, der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeiten. Die Preise schwanken um die Wertgrößen in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage, wenn sie nicht, wie gegenwärtig üblich, durch monopolistische und oligopolistische Kräfte daran gehindert werden. „Es ist nichts leichter, als die Ungleichmäßigkeiten von Nachfrage und Zufuhr einzusehn und die daraus folgende Abweichung der Marktpreise von den Marktwerthen...Wenn Nachfrage und Zufuhr sich gegenseitig aufheben, hören sie auf irgend etwas zu erklären (...) und lassen uns erst recht im Dunkeln darüber, weßhalb der Marktwerth sich gerade in dieser Summe Geld ausdrückt und in keiner andern. Die wirklichen innern Gesetze der kapitalistischen Produktion können offenbar nicht aus der Wechselwirkung von Nachfrage und Zufuhr erklärt werden ..., da diese Gesetze nur dann rein verwirklicht erscheinen, sobald Nachfrage und Zufuhr aufhören zu wirken, d.h. sich decken.“ (MEGA II/15: 189; MEW 25:199)
Zur Beantwortung der Frage, wie die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit bestimmt wird, sollen einige Anregungen erfolgen. Sie knüpfen an zwei Hinweisen an, die Marx gab. Der Vorwurf ist unbegründet, dass, wer die Wertgröße untersucht, nur die Quantität, nicht aber die gesellschaftliche Qualität im Auge habe (Harbach 2011: 43). Die Arbeitszeit, die die Wertgröße bestimmt, ist nicht diejenige eines isolierten Individuums, sondern ergibt sich aus den gesamtgesellschaftlich gegebenen Produktionsbedingungen. Sie ist die gesellschaftlich durchschnittliche oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Deshalb erfasst, wer die Wertgröße untersucht, zwangsläufig deren gesellschaftliche Qualität.
Nach Marx müssen der Wert und dessen Größe aus der Sicht des Gesamtsystems abgeleitet werden. Die Bedürfnisse der Menschen und technisch-organisatorische Beziehungen zwischen den Zweigen und Bereichen der Güterproduktion erzwingen eine proportionale Verteilung der Gesamtarbeitszeit. Unabhängig davon, ob und wem dies bewusst ist. Der Wert hat etwas mit der Proportionalität einer Volkswirtschaft zu tun. „Es ist in der That das Gesetz des Werths, wie es sich geltend macht, nicht in Bezug auf die einzelnen Waaren oder Artikel, sondern auf die jedesmaligen Gesammtprodukte der besondren, durch die Theilung der Arbeit verselbständigten gesellschaftlichen Produktionssphären, so daß nicht nur auf jede einzelne Waare nur die nothwendige Arbeitszeit verwandt ist, sondern daß von der gesellschaftlichen Gesammtarbeitszeit nur das nöthige proportionelle Quantum in den verschiednen Gruppen verwandt ist. Denn Bedingung bleibt der Gebrauchswerth.“ (MEGA II/15: 623; MEW 25: 648) „Das Ganze verkauft sich daher nur, als ob es in der nothwendigen Proportion producirt wäre.“ (MEGA II/15: 624; MEW 25: 649) Eine wichtige Schlussfolgerung ergibt sich daraus: Wer Werte begründen will, muss Proportionen begründen. Diesen Gedanken äußert Marx auch im ersten Band des „Kapital“. Dort spricht er von der „wissenschaftliche(n) Einsicht ... , daß die unabhängig von einander betriebenen, aber als naturwüchsige Glieder der gesellschaftlichen Theilung der Arbeit allseitig von einander abhängigen Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Maß reducirt werden, weil sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über den Kopf zusammenpurzelt. Die Bestimmung der Werthgröße durch die Arbeitszeit ist daher ein unter den erscheinenden Bewegungen der relativen Warenwerthe verstecktes Geheimniß.“ (MEGA II/10: 74; MEW 23: 89) In einem Brief an Ludwig Kugelmann betont Marx die „Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen“, die formationsübergreifende Bedeutung hat, d.h. durch bestimmte Formen der gesellschaftlichen Produktion nicht aufgehoben werden könne. (MEW 32: 552f) Befremdlich, wenn Helmut Reichelt behauptet, dass Marx „jenen Aspekt ins Spiel bringen, ..., aber nicht mehr benennen kann, weil nicht mehr mit diesem Wertbegriff vereinbar: die gesamtgesellschaftliche Dimension, die er über den nicht explizierten Geltungsbegriff hineinschmuggelt.“ (Reichelt 2008: 251) Die gesellschaftliche Dimension ist nicht nur mit dem Wertbegriff vereinbar. Sie ist eines seiner Wesensmerkmale. Ohne jene kann man diesen gar nicht begreifen. Akzeptieren Käufer den Wert – Reichelt nennt dies Geltung –, dann ist das Ausdruck dafür, dass die Ware entsprechend den gesellschaftlichen Proportionalitätserfordernissen produziert worden ist. Tatsächlich geht es beim Wert um objektive Proportionen zwischen den Güterproduktionen. Zum anderen kommt aus der Sicht der einzelnen Ware ein Aspekt hinzu: Gesellschaftlich notwendig ist die „Arbeitszeit, erheischt, um irgend einen Gebrauchswerth mit den vorhandenen gesellschaftlich- normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen.“ (MEGA II/10: 41; MEW 23: 53) Der Hinweis, dass die durchschnittliche Arbeitszeitdauer die Wertgrößen bestimmt, überzeugt aus zwei Gründen: Wäre es anders, gäbe es so viele Werte wie individuell unterschiedliche Arbeitszeiten für ein und dieselbe Ware. Die Frage nach den Bestimmungsgründen der Tauschrelation im Gleichgewicht bliebe so unbeantwortet. Hinzu käme, dass die Ware umso wertvoller wäre, „je fauler oder ungeschickter ein Mann ..., weil er desto mehr Zeit zu ihrer Verfertigung braucht.“ (MEGA II/10: 41; MEW 23: 53)
Eine Ware wird nur dann zum Wert verkauft, wenn das Gesamtquantum gesellschaftlicher Arbeit für diese Warenart dem Quantum des zahlungsfähigen gesellschaftlichen Bedürfnisses entspricht. Wird zu viel gesellschaftliche Arbeitszeit aufgewendet und werden zu viele Produkte dieser Art hergestellt, ist ein Teil davon nutz- und wertlos, selbst wenn die einzelne Ware in der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit erzeugt wird. „Gesetzt endlich jedes auf dem Markt vorhandne Stück Leinwand enthalte nur gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit. Trotzdem kann die Gesammtsumme dieser Stücke überflüssig verausgabte Arbeitszeit enthalten... Die Wirkung ist dieselbe, als hätte jeder einzelne Leinweber mehr als die gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit auf sein individuelles Produkt verwandt.“ (MEGA II/10: 101; MEW 23: 121 f)
Dies gilt nicht nur für die kapitalistische Produktion: „Gemeinschaftliche Produktion vorausgesetzt, bleibt die Zeitbestimmung natürlich wesentlich ... Ebenso muss die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen ... Ökonomie der Zeit, sowohl wie planmäßige Verteilung der Arbeitszeit auf die verschiednen Zweige der Produktion, bleibt also erstes ökonomisches Gesetz auf Grundlage der gemeinschaftlichen Produktion. Es wird sogar in viel höherem Grade Gesetz.“ (Marx Grundrisse 1974: 89)
2. Direkter und indirekter Arbeitszeitaufwand
Ein Gut entsteht, indem Arbeitskräfte in einer bestimmten Arbeitszeit mit Hilfe von Arbeitsmitteln (Maschinen, Anlagen, Werkzeuge usw.) Arbeitsgegenstände (Rohstoffe, Hilfsstoffe, Betriebsstoffe ver- oder- bearbeiten. Zur Herstellung der benötigten Arbeitsmittel (AM) und der Arbeitsgegenstände (AG) ist wiederum Arbeit oder Arbeitszeit erforderlich. „Der Werth der Waare ist bestimmt durch die Gesammt-Arbeitszeit, vergangne und lebendige, die in sie eingeht.“ (MEGA II/15: 257; MEW 25: 271) Man muss deshalb zwischen direktem und indirektem Arbeitszeitaufwand unterscheiden. Der englische Philosoph John Locke (1632 – 1704) drückt das so aus: „In das Brot, das wir brechen, sind nicht allein die Mühe des Pflügenden, die Anstrengungen des Schneidenden und Dreschers und der Schweiß des Bäckers einzurechnen; der Beitrag all derer, die die Ochsen zähmten, die das Eisen schmiedeten und die Steine gruben, die das Holz fällten und zimmerten, damit man den Pflug, die Mühle, den Ofen oder all die zahlreichen Gerätschaften herstellen konnte, deren das Korn von seiner Aussaat bis zu seiner Verwandlung in Brot bedurfte, muss ja auch auf das Konto der Arbeit gesetzt und als deren Werk gewertet werden ...“. (Locke: 127)
Unter marxistischen und nichtmarxistischen Ökonomen ist unter dem Eindruck, dass der Wert den individuellen Produzenten unbekannt ist, die Ansicht verbreitet, dass man den Wert bzw. den Gleichgewichtspreis nicht berechnen könne. Als Beispiel sei Wilhelm Röpke genannt: „... diesen Preis nun wirklich auszurechnen ... ist ein Rechenkunststück, dass immer nur der Rechenmeister Markt vollbringen kann. Es gibt keine andere Methode, den richtigen, d.h. der Gleichgewichtslage entsprechenden Preis ... zu bestimmen als die marktwirtschaftliche; wir können diese Größen nicht irgendwie mathematisch-statistisch im voraus berechnen, sondern nur hinterher konstatieren, nachdem der ‚Markt’ seine Schuldigkeit getan hat.“ (Röpke 1944: 59)
Doch der volle volkswirtschaftliche Arbeitsaufwand, der zur Herstellung eines Gutes gesellschaftlich notwendig ist und im Gleichgewichtspreis erscheint, kann ermittelt werden mit Hilfe eines Gleichungssystems. Die Zeit hat eine Dimension: Sekunde, Minute, Stunde... Man kann sie messen, das heißt, ihre Quantität angeben. Für die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit – die Marxsche Wertgröße – trifft dies genauso zu. Diese Ansicht stößt manchmal auf den Einwand, derartige Rechnungen würden in der Regel nur ihre implizierten Voraussetzungen „beweisen“. Sie bewiesen, dass man ein Beispiel konstruieren kann, das gerechnet werden kann. Richtig ist, dass Modellergebnisse auch durch die Modellprämissen bestimmt werden. Aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist, ob die Prämissen stimmen. Und da verdanken wir Marx die entscheidenden Hinweise: Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist die volle Arbeitszeit – die Summe aus direkter und indirekter Arbeitszeit –, die unter „normalen“ Bedingungen zur Herstellung einer Bedarfseinheit notwendig ist. Zur exakten Lösung kommt man über ein Gleichungssystem. An einem Modell wird im Folgenden gezeigt, wie man prinzipiell die Wertgröße berechnen muss.
Derartige Überlegungen sind auch für eine sozialistische Wirtschaft von Bedeutung. Für eine sozialistische Marktwirtschaft ohnehin, weil es da definitionsgemäß Waren und Wert gibt. Aber auch für den Sozialismus ohne Markt und Wertformen. Deren wichtigstes Merkmal besteht darin, dass die individuelle Arbeitszeit zugleich von vornherein gesellschaftlich notwendig ist. Im Sozialismus muss die gesellschaftlich Arbeitszeit auf der Grundlage des Bedarfs und der Produktivität proportional auf die Produktherstellung verteilt werden. Um dies tun zu können, muss man sie kennen. Um sie zu kennen, muss man sie berechnen. Um sie zu berechnen, muss man wissen, wie. Das ist die Logik! Dabei sind die technischen Voraussetzungen, um das Problem auch praktisch zu lösen, heute so gut wie noch nie zuvor: modernste Informations- und Kommunikationstechnik, Stücklisten, Rezepturen, Geschwindigkeiten technischer Prozesse usw. sind bekannt. Riesige Datenmengen können in großen komplexen Software-Programmen verarbeitet werden. Mit zentralistischen Vorgaben und der Festlegung willkürlicher Planpreise, die angeblich dem Wert entsprechen sollen, ist es nicht getan. Es ist klar: Nur wenn wir die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit vor der Produktion ermitteln können, entfällt die Notwendigkeit, sie nachträglich durch spontane Marktprozesse suchen zu lassen. Ein Gleichungssystem zeigt, wie der Weg prinzipiell aussehen muss, um das Problem zu lösen. Dabei ist so manches ungelöst: Reduktion komplizierter auf einfache Arbeit, Festlegung gesellschaftlicher Normen bei unterschiedlicher Ausstattung mit Produktionsmitteln u.ä. Darauf wird hier nicht eingegangen. Interessant ist, dass die Mehrheit der sowjetischen Ökonomen in den 1920er Jahren mit Stanislav Strumilin und Eugen Varga an der Spitze vorschlug, den Arbeitsaufwand nicht in Geld, sondern in Arbeitszeiteinheiten zu erfassen. Man glaubte, dass das Geld in der Sowjetunion den Arbeitswertmarken schon sehr nahe komme. (Autorenkollektiv 1973: 146, 165)
Bis zum Finalerzeugnis durchläuft der zu bearbeitende Gegenstand mehrere Stufen der Produktion. Der Arbeiter schafft einen konkreten nützlichen Gegenstand (Gebrauchswert). Er überträgt zugleich die in den verbrauchten Produktionsmitteln (AG und AM) enthaltenen vergegenständlichten Werte auf das neue Produkt. Durch den Verbrauch (bzw. Gebrauch) von Konsumgütern reproduziert er sich selbst. Der Müller fügt durch seine konkrete Arbeit dem Mehl den Wert des Korns, Teile des Wertes der Mühle und diverser Produktionsgegenstände zu. Zugleich produziert er einen neuen, zusätzlichen Wert. Das nennt man Wertschöpfung. Der Wert des Mehls setzt sich aus dem übertragenen Wert des verbrauchten konstanten Kapitals c (Vorleistungen, Abschreibungen) und dem neu geschöpften Wert v m zusammen. Das variable Kapital v ist der bezahlte, m, der Mehrwert, der unbezahlte Teil der lebendigen Arbeit. Das Verhältnis zwischen m (Mehrarbeitszeit) und v (notwendige Arbeitszeit) interessiert uns in diesem Beitrag nicht.
Auf der nächsten Stufe überträgt die konkrete Arbeit des Bäckers den im Mehl, im Backofen und anderen Bäckereiausrüstungen vergegenständlichten Wert auf das Brot. Zugleich fügt auch die Arbeit des Bäckers dem Wert der verbrauchten AG und AM neuen Wert hinzu. Die Wertgrößen des Mehls und des Brotes setzen sich wie die Wertgröße einer jeden beliebigen Ware aus zwei Wertbestandteilen zusammen. Erstens aus dem in früheren Produktionsstufen erzeugten und in den Produktionsmitteln vergegenständlichten alten Wert (indirekte Arbeitszeit), zweitens aus dem auf der jeweiligen Stufe geschöpften neuen Wert (direkte Arbeitszeit). Der „alte“ Wert erscheint im neuen Produkt in jener Größe, mit der er in die Produktion eingegangen war. Deshalb nennt Marx ihn konstantes Kapital. Während der Arbeitszeit wird dem Wert der verbrauchten AM (Maschinen, Gebäude, Werkzeuge, Transportmittel u.ä.) und dem der AG (Material) neuer Wert hinzugefügt. Dieser neue Wert erscheint in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als die Summe aus dem Einkommen aus unselbständiger Arbeit und aus Unternehmertätigkeit und Vermögen. Der Wert einer Ware, der als Gleichgewichtspreis erscheint, setzt sich zusammen aus vergangener Arbeitszeit, die in AG und AM verkörpert ist, und aus Arbeitszeit, die im jeweiligen Produktionsprozess direkt geleistet wird. Jeder Produktionsprozess ist einerseits Wertübertragung und andererseits Wertschöpfung. Diese Dialektik von Wertübertragung und Verwertung hält Reichelt für Metaphorik und behauptet, es würden „keine substanzialistisch vorgestellten Werte übertragen, sondern gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit hinzugefügt.“ (Reichelt 2008: 251) Dazu ist zu sagen: Jede Ware enthält direkte Arbeitszeit (lebendige Arbeit) und zugleich enthält sie indirekte Arbeitszeit (vergangene Arbeit). Indirekte Arbeit ist die, welche sich in den Produktionsmitteln bereits vergegenständlicht hat, die man zur Produktion der betreffenden Waren benötigt. Die Wertgröße einer Ware kann daher vollends in Arbeitszeit aufgelöst werden. Sie setzt sich aus dem direkten und aus dem indirekten Arbeitszeitaufwand zusammen. Direkte und indirekte Arbeitszeit ergeben zusammen die volle Arbeitszeit, die zur Herstellung einer Ware im volkswirtschaftlichen Maßstab benötigt wird. Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist die volle Arbeitszeit, die zur Herstellung einer Ware erforderlich ist. Sie enthält, anders ausgedrückt, die vorhandenen und zu übertragenden sowie die neu entstehenden Werte. Hinzugefügt (wozu hinzu?) wird also nicht, wie Reichelt meint, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, sondern die direkte Arbeitszeit zur indirekten Arbeitszeit. Die Summe aus beiden Teilzeiten ist dann die volle oder, wie Marx sagt, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit.
Wie ermittelt man den vollen Arbeitsaufwand, den wir in Arbeitszeiteinheiten ausdrücken?
Die Antwort wollen wir an einem einfachen Modell zeigen.
3. Ein Modell zur Ermittlung der vollen Arbeitszeit
Wir stellen uns vor, die Volkswirtschaft bestehe aus drei Sektoren. Im ersten Sektor werden AG, im zweiten Sektor AM und im dritten Sektor Konsumgüter (KG) hergestellt. Wir nehmen ferner an, das den Arbeitern und Unternehmern zufließende Einkommen werde vollständig konsumiert. Mit anderen Worten: Es gibt keine Neuinvestitionen. Wir unterstellen einfache Reproduktion. Der nächste Produktionsprozess findet auf dem bisherigen Niveau statt. Hellsichtige Ökonomen sehen in der Ablösung der Wachstumswirtschaft durch eine „neue Ökonomie der sozial-ökologischen einfachen Reproduktion“ in hoch entwickelten Volkswirtschaften ein Gebot der Vernunft. (Haustein 2012: 141) Irreparable Umweltverknappung, die Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und die zunehmende Sättigung mit Konsumgütern in den reichen Industrieländern erzwingen die Abkehr von einem Wirtschaftsprinzip, das in der fortwährenden Steigerung des Bruttoinlandprodukts und vor allem der Profite besteht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Es spricht nichts dagegen, dass sich Neuerungen und Wandel innerhalb eines gegebenen volkswirtschaftlichen Produktionsniveaus, also bei konstantem realen Bruttoinlandprodukt, vollziehen können. Entwicklung, Verbesserung sind ohne Wachstum möglich. Neue Produkte ersetzen auch bei einfacher Reproduktion veraltete. Vorstellbar ist, dass durch den Anstieg der Produktivität die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit je Produkt sinkt und bei gleicher Gesamtarbeitszeit mehr Produkte als bisher hergestellt werden. Ein unveränderter Wert des Gesamtprodukts äußert sich in einer höheren Menge an Erzeugnissen. Einfache Reproduktion ist mit einer Zunahme der Produktionsmenge vereinbar. Der Produktivitätsanstieg muss aber weniger für Wachstum, sondern mehr für die Verkürzung der Arbeitszeit genutzt werden.
Unser Modell (vgl. Übers. 1) stellt ein physisches Produktionssystem dar. AG, AM und KG werden jeweils durch Einsatz von AG, AM und direkter Arbeit (A) hergestellt.
Übers. 1: Modell eines Produktionssystems
Produktionssektor
Input
Output
I (AG)
150 A 60 AM 750 AG
3.750 AG
II (AM)
300 A 120 AM 1.500 AG
300 AM
III (KG)
450 A 120 AM 1.500 AG
900 KG
AG: Arbeitsgegenstände; AM: Arbeitsmittel; KG: Konsumgüter
Die willkürlich angenommenen Zahlen des Tableaus (Übers. 1) stellen Mengeneinheiten dar:
- 3.750 Mengeneinheiten AG werden erzeugt mit 750 Mengeneinheiten AG, 60 Mengeneinheiten AM, und 150 Einheiten an direkter Arbeit (Arbeitszeiteinheiten).
- 300 Mengeneinheiten AM werden erzeugt mit 1.500 Mengeneinheiten AG, 120 Mengeneinheiten AM und 300 Einheiten an direkter Arbeit.
- 900 Mengeneinheiten KG werden erzeugt mit 1.500 Mengeneinheiten AG, 120 Mengeneinheiten AM und 450 Mengeneinheiten an direkter Arbeit.
Diese physischen Beziehungen zwischen den Produktionszweigen beruhen auf technischen Annahmen. Für ein Kleid sind eine bestimmte Menge Stoff, eine Nähmaschine und eine bestimmte Arbeitszeit nötig.
Man kann nun mit Hilfe eines Gleichungssystems (vgl. Übers. 2) die vollen Arbeitszeitquanta λi berechnen, die jeweils in einer Einheit der Produkte AM, AG und KG enthalten sind.
Übers. 2: Gleichungssystem zur Berechnung der vollen Arbeitszeitquanta λi
Sektor
Input
Output
I (AG)
150 60 l2 750 l1
3.750 l1
II (AM)
300 120 l2 1.500 l1
300 l2
III (KG)
450 120 l2 1.500 l1
900 l3
AG: Arbeitsgegenstände; AM: Arbeitsmittel; KG: Konsumgüter
l1 : volles Arbeitsquantum, das in einer Einheit AG enthalten ist,
l2 : volles Arbeitsquantum, das in einer Einheit AM enthalten ist,
l3 : volles Arbeitsquantum, das in einer Einheit KG enthalten ist, wobei gilt:
li = Arbeitszeitmenge/Ausbringungsmenge = 1/Api, wobei APi = Arbeitsproduktivität des Sektors i (i = 1, 2, 3).
Die Koeffizienten λi entsprechen dem Reziprokum der Arbeitsproduktivität. Während in diesem System die Werte in Arbeitszeitquanten aufgelöst werden, ermittelt Marx in seinen Reproduktionsschemata das makroökonomische Gleichgewicht zwischen der Erzeugung von Produktions- und Konsumtionsmitteln, indem er den Wert der Waren in die Bestandteile c (Wert der Produktionsmittel), v (Wert der Ware Arbeitskraft) und m (Wertbestandteil der Waren, den sich der Kapitalist aneignet) einteilt. Diese Einteilung ermöglicht es ihm, die stofflichen Gleichgewichtsrelationen zwischen Produktions- und Konsumtionsmitteln wertmäßig auszudrücken. Er zeigt auf diese Weise, wie groß das in Werten ausgedrückte Angebot an Produktionsmitteln und Konsumtionsmitteln sein muss, um sowohl bei einfacher als auch bei erweiterter Reproduktion die Nachfrage nach ihnen zu decken. (MEW 24: 391-518)
Wir lösen jetzt das Gleichungssystem mit drei Unbekannten:
Ia 3.000 l1 = 60 l2 150
IIa 1.500 l1 = 180 l2 - 300
Ia - 2 x IIa
3.000 l1 = 60 l2 150
- 3.000 l1 = 360 l2 - 600
0 = -300 l2 750
l2 = 2,5
l2 = 2,5 in Ia eingesetzt ergibt: 3.000 l1 = 60 x 2,5 150 = 300
l1 = 0,1
l1 = 0,1 und l2 = 2,5 in III eingesetzt ergibt: 450 120 x 2,5 1.500 x 0,1 = 900 l3
900 l3 = 900; l3 = 1.
Ergebnis:
l1 = 0,1 ist die Arbeitsmenge, die in einer Einheit AG steckt;
l2 = 2,5 ist die Arbeitsmenge, die in einer Einheit AM steckt;
l3 = 1 ist die Arbeitsmenge, die in einer Einheit KG steckt.
Jetzt ermitteln wir die vollen Arbeitsmengen, indem wir li in das Gleichungssystem einsetzen:
Die volle Arbeitsmenge, die für 3.750 Mengeneinheiten (z. B. Stück) AG benötigt wird, ergibt sich aus dem
direkten Einsatz an Arbeit
+ indirekten Einsatz an Arbeit für 0,1 x 750 AG
+ indirekten Einsatz an Arbeit für 2,5 x 60 AM
150 Arbeitszeiteinheiten
75 Arbeitszeiteinheiten
150 Arbeitszeiteinheiten
Voller Aufwand für 3.750 Mengeneinheiten AG
375 Arbeitszeiteinheiten
Die volle Arbeitsmenge, die für 300 Mengeneinheiten (z. B. Stück) AM benötigt wird, ergibt sich aus dem
direkten Einsatz an Arbeit
+ indirekten Einsatz an Arbeit für 0,1 x 1.500 AG
+ indirekten Einsatz an Arbeit für 2,5 x 120 AM
300 Arbeitszeiteinheiten
150Arbeitszeiteinheiten
300 Arbeitszeiteinheiten
Voller Aufwand für 300 Mengeneinheiten AM
750 Arbeitszeiteinheiten
Die volle Arbeitsmenge, die für 900 Mengeneinheiten (z. B. Stück) KG benötigt wird, ergibt sich aus dem
direkten Einsatz an Arbeit
+ indirekten Einsatz an Arbeit für 0,1 x 1.500 AG
+ indirekten Einsatz an Arbeit für 2,5 x 120 AM
450 Arbeitszeiteinheiten
150Arbeitszeiteinheiten
300 Arbeitszeiteinheiten
Voller Aufwand für 900 Mengeneinheiten KG
750 Arbeitszeiteinheiten
So ergibt sich folgender Aufwand an gesamtgesellschaftlicher, direkter und indirekter (in AM und AG vergegenständlichter) Arbeit für die Produktion der AG, AM und KG (Übers. 3):
Übers. 3: Modellrechnung Gesamtgesellschaftlicher Arbeitsaufwand
Sektoren
Indirekte Arbeit, vergegenständlicht in
Direkte Arbeit
Voller Arbeitsaufwand
AG
AM
I (AG)
75
150
150
375
II (AM)
150
300
300
750
III (KG)
150
300
450
900
Gesamt
375
750
900
2.025
AG: Arbeitsgegenstände; AM: Arbeitsmittel; KG: Konsumgüter
Das Tableau (Übers. 3) zeigt die Verteilung der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsmenge (2.025 Einheiten) auf die drei Produktionssektoren. Die gesamtgesellschaftliche Arbeitsmenge von 2.025 Einheiten, von der sich 1.125 Einheiten in AG und AM vergegenständlicht haben (vergegenständlichte Arbeit) und 900 Arbeitseinheiten als aktuelle Arbeit verausgabt werden, wird so auf die Sektoren verteilt, dass in der Folgeperiode die Produktionsmittel ersetzt werden können und ein Nettoprodukt von 900 Mengeneinheiten KG entsteht. Hier wird deutlich, weshalb Marx vom gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand spricht. Die Wertgröße widerspiegelt die notwendigen Proportionen, die erfüllt sein müssen, damit in der Folgeperiode ein neuer Produktionsprozess stattfinden kann. Dazu müssen die verbrauchten Produktionsmittel ersetzt werden in den für die Fortsetzung der Produktion erforderlichen Proportionen. Der Neuwert muss so verteilt werden, dass die gesellschaftliche Arbeitskraft wieder eingesetzt werden kann. Daran wird noch ein weiterer wichtiger Aspekt deutlich: Die Wertgröße der Waren wird nicht bestimmt durch die Arbeitszeit, die tatsächlich notwendig gewesen war zu deren Herstellung. Sie wird bestimmt durch die Arbeitszeit, die gesellschaftlich notwendig ist, um sie erneut zu produzieren. Die Wertgröße ist die gesellschaftlich notwendige Reproduktionszeit. „Der Werth jeder Waare – also auch der Waaren, woraus das Kapital besteht – ist bedingt, nicht durch die in ihr selbst enthaltne nothwendige Arbeitszeit, sondern durch die gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit, die zu ihrer Reproduktion erheischt ist.“ (MEGA II/15: 143; MEW 25: 150) Unter dem Begriff Wertrevolution geht Marx im 6. Kapitel des ersten Bandes kurz auf das Problem ein. (MEW 23: 224 f; MEGA II/10: 189 f)
Man sieht, dass die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeitsmenge durch Höhe und Inhalt der gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse sowie durch technologische Bedingungen und Beziehungen zwischen den Produktionsbereichen bestimmt wird: Wenn 3.750 Mengeneinheiten AG erzeugt werden sollen, dann müssen, ob man das will oder nicht, 75 Arbeitseinheiten in Form von AG, 150 Arbeitseinheiten in Form von AM sowie 150 Arbeitseinheiten in direkter Form auf den Sektor AG-Erzeugung entfallen.
Man kann auch so sagen: Der erforderliche Arbeitsaufwand für die Herstellung der jeweiligen Mengeneinheiten (ME) von Arbeitsgegenständen, Arbeitsmitteln und Konsumgütern errechnet sich wie folgt:
Tabelle siehe PDF!
Die vollen, gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeitaufwendungen zur Herstellung einer Wareneinheit entsprechen den Koeffizienten li bzw. dem Reziprokum der Arbeitsproduktivität. Die privaten Warenproduzenten gehen, indem sie die gesellschaftliche Gesamtarbeit erbringen, objektive, quantitative Beziehungen untereinander ein, die sie nicht kennen. Marx zeigt im dritten Band des „Kapital“, dass sich diese gesellschaftliche Bestimmtheit der Produktion im Austausch hinter dem Rücken der Privateigentümer durchsetzt: „Soweit die Gesellschaft Bedürfnisse befriedigen, einen Artikel zu diesem Zweck producirt haben will, so muß sie ihn zahlen. In der That, da bei der Waarenproduktion Theilung der Arbeit vorausgesetzt ist, kauft die Gesellschaft diese Artikel, indem sie auf ihre Produktion einen Theil ihrer disponiblen Arbeitszeit verwendet, kauft sie sie also durch ein bestimmtes Quantum der Arbeitszeit, worüber diese Gesellschaft verfügen kann. Der Theil der Gesellschaft, dem es durch die Theilung der Arbeit zufällt, seine Arbeit in der Produktion dieser bestimmten Artikel zu verwenden, muß ein Äquivalent erhalten durch gesellschaftliche Arbeit, dargestellt in den Artikeln, die seine Bedürfnisse befriedigen.“ (MEGA II/15: 186 f; MEW 25: 196)
Auf Basis der in den Gütern enthaltenen Arbeitszeitquanten ergeben sich in unserem Beispiel folgende Tauschrelationen:
- 1 ME Arbeitsmittel = 2,5 ME Konsumgüter; 1 ME Konsumgut = 0,4 ME Arbeitsmittel;
- 1 ME Arbeitsmittel = 25 ME Arbeitsgegenstände; 1 ME Arbeitsgegenstand = 0,04 ME Arbeitsmittel;
- 1 ME Konsumgut = 10 ME Arbeitsgegenstände; 1 ME Arbeitsgegenstand = 0,1 ME Konsumgut.
- Sektor I liefert an Sektor II 1.500 Mengeneinheiten AG und erhält vom Sektor II 60 Mengeneinheiten AM. Diese unterschiedlichen Gebrauchswertmengen enthalten jeweils 150 volle Arbeitszeiteinheiten.
- Sektor I liefert an Sektor III 1.500 AG und erhält dafür äquivalent 150 Arbeitszeiteinheiten in Form von Konsumgütern, die benötigt werden von denen, die im Sektor I direkte Arbeit verausgaben. Sektor II liefert an Sektor III 120 Mengeneinheiten AM, die 300 Arbeitszeiteinheiten entsprechen. In dieser Höhe bezieht der Sektor II vom Sektor III Konsumgüter (direkte Arbeitszeiteinheiten).
Direkte Arbeit können nur Arbeiter leisten, die durch Verbrauch von KG ihre Arbeitskraft erhalten. Im Modell entsprechen 900 Mengeneinheiten KG 900 vollen Arbeitszeiteinheiten. Von diesen gehen 300 Arbeitszeiteinheiten in Form von KG in den Sektor II. Im Gegenzug erhält Sektor III die von ihm benötigten 120 Mengeneinheiten AM, die gleichfalls ein Arbeitszeitvolumen von 300 Einheiten darstellen. In den Sektor I gehen 150 Arbeitszeiteinheiten in Form von Konsumgütern, Voraussetzung dafür, dass dort direkte Arbeit geleistet werden kann. Dafür bekommt Sektor III 150 Arbeitszeiteinheiten zurück in Form der benötigten AG. Es findet also durchgängig Äquivalententausch statt auf Basis voller, d.h. gesellschaftlich notwendiger, Arbeitszeiteinheiten.
4. Zur Durchsetzung des Wertgesetzes
Das Wertgesetz besagt, dass sich die Waren tauschen im Verhältnis der in ihnen enthaltenen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeitquanten. Marx verstand unter der Wertgröße keinen Durchschnitt im strengen mathematischen Sinn. Für ihn sind die Marktwerte der Waren keine arithmetischen oder gewogenen Mittel, sondern die Arbeitszeiten, unter denen die Mehrheit der Waren hergestellt wird. (Der Marktwert ist nichts anderes als der Wert, aus der Sicht des Marktes, der Zirkulation, gesehen.) Das sind die „gesellschaftlich normalen“ Produktionsbedingungen. (Marx 1972: 203 f.) Wichtigster Ausgangspunkt: Alle Produktionsfaktoren sind beliebig vermehrbar. Für den Boden trifft dies zwar nicht zu. Doch der Boden ist außerhalb der Landwirtschaft nur als Standort wichtig, nicht als zu bearbeitender Gegenstand.
Ist die Nachfrage > als das Angebot, liegen die Preise über dem Wert. Dadurch steigt das Angebot, indem die dominierenden Produktionsbedingungen stärker genutzt werden, α) durch die bisherigen Produzenten mit dem größten Marktanteil und der dominierenden Produktivität oder/und β) durch hinzukommende Produzenten, die ebenfalls mit der dominierenden Produktivität produzieren. Das Angebot wird an die höhere Nachfrage herangeführt. Wird der Angebots-Zuwachs mit der bisherigen Produktivität erbracht, ändert sich die Wertgröße nicht. Der Preis sinkt auf den Wert zurück.
Ist die Nachfrage < als das Angebot, liegen die Preise unter dem Wert. Dadurch sinkt das Angebot. Das kann geschehen, indem ein Teil der den Wert bestimmenden Kapazitäten nicht mehr genutzt wird. Die gesunkene Menge wird aber mit der bisher dominierenden Produktivität hergestellt. Der Preis steigt durch die Angebotsreduktion wieder auf die unveränderte Wertgröße.
So ist Marxens Auffassung zu verstehen, dass die Marktpreise in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage um den (Markt)wert schwanken, von diesem abweichen und mit ihm nur zusammenfallen, wenn das Angebot gleich der Nachfrage ist. Dieser Äquivalentenaustausch ist das ökonomische Gesetz, das Rationelle, zu dem die kapitalistische Reproduktion immer wieder tendiert. Doch die kapitalistische Produktion verläuft anarchisch und spontan. „Der Austausch oder Verkauf der Waaren zu ihrem Werth ist das Rationelle, das natürliche Gesetz ihres Gleichgewichts; von ihm ausgehend, sind die Abweichungen zu erklären, nicht umgekehrt aus den Abweichungen das Gesetz selbst.“ (MEGA II/15: 187; MEW 25: 197) Die Abweichung der Preise vom Wert ist daher die Regel, deren Übereinstimmung ist kurzfristig eine zufällige Episode, langfristig aber sich das tendenziell Behauptende. Ein ewiges Auf und Ab, beständiges Entfernen der Preise vom Wert und ein fortwährendes Annähern, Schwankungen, die sich immer wieder spontan korrigieren, weil die Gegenkräfte umso stärker wirken, je größer die Abweichungen vom Gesetz sind. Die Übereinstimmung der Tauschraten mit den gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeitquanten kann immer nur annähernd gegeben sein. Das Prinzip der Äquivalenz setzt sich durch, indem es ständig verletzt wird. Nachträglich auf dem Markt wird festgestellt, ob und in welchem Maße die aufgewandte Arbeit gesellschaftlich notwendig ist. Individuelle und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeiten weichen voneinander ab, korrigieren und regulieren sich in einem nie endenden Prozess. Der Austausch zu Werten ist eine Tendenz, die sich durch trial and error nur langfristig durchsetzt. Es ist nicht leicht zu verstehen, aber so es ist: Das Wertgesetz setzt sich durch, indem es ständig verletzt wird. Unter Bedingungen der zwischenzweiglichen Konkurrenz verwandelt sich der Wert in den Produktionspreis. Dieser setzt sich aus dem Kostpreis und dem Durchschnittsprofit zusammen. Der Produktionspreis ist modifizierter Wert. Er ersetzt den klassischen Marktwert (c v m) als Schwankungszentrum der Marktpreise. Allerdings handelt es sich dabei um ein Modell, das an viele Prämissen gebunden ist, die in der Realität in der Regel nicht gegeben sind. (vgl. Müller 2010:50-52) Es verwundert nicht, dass die Herausbildung des Produktionspreises und einer allgemeinen Durchschnittsprofitrate empirisch bislang nicht gestützt werden konnten (vgl. Fröhlich 2009: 228ff, 234; Farjoun, Machover 1983).
Fazit
Der Austausch zu Werten sichert, dass die gesellschaftliche Gesamtarbeitszeit (vergangene, gegenwärtige, tote und lebendige, indirekte und direkte) so auf die Sektoren der Produktion aufgeteilt wird, dass die Reproduktion friktionslos gewährleistet wird. „Aber diese Verteilung erfolgt nicht ex ante, nicht bewußt und geplant, sondern ex post, als Reaktion auf Signale aus der Sphäre des Austauschs – des einzigen Punktes, wo die Warenakteure ... in Kontakt mit anderen Individuen treten.“ (Nyikos 2010: 91) Die Werte bestimmen die Relationen, in denen sich Produkte tauschen, hinter dem Rücken der Warenproduzenten. Denen erscheinen die Tauschverhältnisse auf den ersten Blick zufällig und rätselhaft.
Zur Bestimmung des vollen Arbeitszeitaufwandes, der in einer Volkswirtschaft zur Herstellung eines Gutes anfällt, können wir zusammenfassend sagen:
Grundlage zur Bestimmung der benötigten Arbeitszeitquanten ist einmal der Bedarf der Gesellschaft an unterschiedlichen Gebrauchswerten. Arbeitszeit und Gebrauchswert sind Kategorien, die wechselseitig voneinander abhängen. Damit Arbeit gesellschaftlich notwendig ist, muss ein bestimmtes Bedürfnis an der Ware vorhanden sein. Die Arbeitszeit zur Produktion eines Gutes wird von der Gesellschaft nicht als notwendig akzeptiert, wenn in ihr ein Produkt geschaffen wird, das für die Gesellschaft ohne Nutzen ist. Ihr Preis kann nicht realisiert werden. Die volle Arbeitszeit im Gleichgewicht ist die Summe an direkter und indirekter Arbeitszeit, die notwendig ist, genau die Mengen an Waren zu erzeugen, die die Gesellschaft braucht, um ihre Produktion fortzusetzen. Für ihre Höhe sind die technische Verflechtung der Sektoren und Bereiche, die Produktivität der Gütererzeugung und die Bedarfsstruktur bestimmend.
Die Arbeitswerttheorie liefert die bisher überzeugendste Begründung dafür, wie Tauschrelationen auf den Märkten zustande kommen. Gegen ihren Widerpart, die subjektive „Werttheorie“ in Form der Grenznutzentheorie, sind viele Einwände erhoben worden. Der Wichtigste: Diese Theorie scheitert daran, die Tauschrelationen zu erklären. Sie nimmt vielmehr die Preise – die in Geld ausgedrückten Tauschrelationen – als gegeben an und beschreibt, wie Nachfragende, die ihren Nutzen maximieren möchten, bei gegebenen Preisen ihre Kaufentscheidungen treffen. Das zu Erklärende – die Preisrelationen – bleibt so gerade ungeklärt.
Literatur
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