Der polnische Weg in den Kapitalismus hat sich als entschieden weniger revisionistisch erwiesen als der einstige polnische Weg in den Sozialismus. Władysław Gomułka, jener Politiker, der in der Volksrepublik Polen am längsten an den Machthebeln saß, hatte bereits in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg den Begriff vom polnischen Weg zum Sozialismus geprägt. Im Wesentlichen ging es darum, möglichst viele Abweichungen vom Vorbild der stalinschen Sowjetunion durchzubekommen. Gomułka war ein Anhänger der Beibehaltung des privaten Sektors (Bauernwirtschaften, kleinere Industrie- und Handelsunternehmen) sowie eines gewissen politischen Pluralismus, der politische Parteien zulässt, die etwa die Bauernschaft und die Privatwirtschaft vertreten sollten, ohne aber an der Hegemonie der kommunistischen Partei zu rütteln. In der innerparteilichen Diskussion verteidigte er leidenschaftlich seinen Standpunkt, ohne weiter auf die Kritik derjenigen zu achten, die die Rückendeckung Moskaus hatten. In diesem Kampf war er chancenlos. Bereits 1948 wurde er der nationalistischen und Rechtsabweichung bezichtigt, vom Amt des Parteivorsitzenden entfernt, überhaupt aus der Partei ausgeschlossen und obendrein festgenommen, sogar um sein Leben stand zeitweise zu fürchten.
Die Entwicklung nach 1956
1956 kehrte Gomułka in die Politik zurück, er übernahm das Amt des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der PVAP. Er hatte die Rückendeckung von Nikita Chruschtschow, dem damaligen KPdSU-Vorsitzenden, und initiierte grundlegende wirtschaftliche, politische und ideologische Änderungen. Auf die Kollektivierung des Dorfes wurde verzichtet, die Bauern erhielten eine Garantie für ihr Eigentum an Land und Boden. Die Rolle des Privatsektors außerhalb der Landwirtschaft wurde gestärkt (kleine Produktionsbetriebe, Reparaturwerkstätten, Kleinhandel, Touristik u. a.). Der Wohnungsbau wurde teilweise mit Marktelementen ausgestattet durch die Einführung neuer Wohnungstypen wie Genossenschaftswohnungen und selbst Wohneigentum. Es wurden Versuche unternommen, die Industrie zu modernisieren durch den Ankauf von Lizenzen aus dem Westen (z. B. für die Produktion von Pkw der Marke Fiat). Faktisch wurde auf die ideologische Vorherrschaft durch den Marxismus-Leninismus verzichtet, was zu einer höheren Autonomie von Gesellschaftswissenschaften und Kultur führte als in den anderen sozialistischen Ländern. Unter Gomułka erlangte die katholische Kirche in den 1960er Jahren entscheidende Freizügigkeit bei ihren Aktivitäten. So kam es, dass Polen aus der Sicht des Westens in den 1960er Jahren als das liberalste Land im sowjetischen Einflussbereich galt, wohingegen aus der Sicht Moskaus Polen umgekehrt das am weitesten zurückliegende Land beim sozialistischen Aufbau war, wurde hier doch „bürgerliche Ideologie“ toleriert, der katholischen Kirche große Freiräume zugestanden, in der Landwirtschaft der Privatsektor bevorzugt.
Edward Gierek, der Gomułka Ende 1970 als Erster Sekretär der PVAP nachfolgte, bog noch weiter vom sowjetischen Weg ab. Die Wirtschaft wurde mit Hilfe von Milliardenkrediten und Lizenzen aus dem Westen modernisiert. Als erster polnischer Parteichef nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte er, westliche Investitionen ins Land zu holen. In den 1970er Jahren wurde de facto eine zweite Währung zugelassen, die Bürger Polens konnten ein Devisenkonto eröffnen und in einem dicht verzweigten Netz von Devisenläden Waren kaufen. Der US-Dollar wurde zu einer allgemein anerkannten und verbreiteten Zweitwährung.
Allerdings erwies sich Polen als nur unzureichend vorbereitet auf die Konfrontation mit westlichen Finanz- und Warenmärkten. Viele Lizenzkäufe und Investitionen, die auf der Basis von westlichen Krediten getätigt wurden, erwiesen sich als Fehlentscheidungen. Die polnische Industrie war in vielen Bereichen nicht in der Lage, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Waren herzustellen, mit deren Erlös die drückenden Kredite hätten zurückgezahlt werden können. Die Industrie verschlang selbst immer mehr Devisen, denn um produzieren zu können, bedurfte es nun des Imports von immer mehr Einzelteilen aus dem Westen. Zum wichtigsten Exportprodukt in den Westen wurde in den 1970er Jahren die Steinkohle, das „schwarze Gold“ Polens.
Erstmals seit dem Ende des zweiten Weltkriegs sank 1979 das Bruttoinlandsprodukt. Die schnell anwachsenden Erwartungen in der Bevölkerung, die Nichterfüllung des durch die Regierung gegebenen Versprechens, die Lebensbedingungen schnell zu verbessern, sowie das zunehmende Bewusstsein vom Wohlstand im Westen stärkte die allgemeine Unzufriedenheit. Im Sommer 1980 zog eine Streikwelle über das Land, die zur Gründung der regierungsunabhängigen Gewerkschaft „Solidarność“ führte.
Innere Opposition und „zweite Reformetappe“
Namensgeber war Karol Modzelewski, der 1965 gemeinsam mit Jacek Kuroń einen offenen Brief an die Mitglieder der PVAP geschrieben hatte, wofür beide mit vielen Jahren Gefängnis büßten. Indem sie sich auf Marx beriefen, hielten sie in dem Brief fest, dass in den Ländern des Ostblocks nicht die Arbeiterklasse herrsche, sondern die Bürokratie, die ganz wie früher die Bourgeoisie die Arbeiter ausbeute und sich die Früchte der Arbeit aneigne. Die Verfasser der Streitschrift hielten eine Revolution für unvermeidlich, um das „bürokratische Eigentum“ zu beseitigen und den Arbeitern die Macht zu sichern, die dann über die Aufteilung und Nutzung des Nationalvermögens, über die Ausrichtung der Investitionen bestimmen sollten.
Jacek Kuroń war einer der Mitbegründer von KOR, dem 1976 entstandenen Komitee zur Verteidigung der Arbeiter. Die illegale Struktur war eine Antwort von Intellektuellen auf die Unterdrückung von streikenden Arbeitern durch die Regierung. Bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre entstanden an der Küste erste unabhängige Gewerkschaftsstrukturen, die später in die „Solidarność“-Bewegung mündeten. Deren Programm hatte einen egalitären und marktfeindlichen Zuschnitt.
Mit den 21 Forderungen der Arbeiter der Leninwerft in Gdańsk forderten die Arbeiter u. a. die Einführung von Fleischmarken, die einmalige und sofortige deutliche Lohnerhöhung für die Beschäftigten im Staatssektor, die Senkung des gesetzlichen Renteneintrittsalters bei Frauen von 60 auf 50 und bei Männern von 65 auf 55 Altersjahre nach 30 Jahren Arbeit, außerdem die Abschaffung des Warenhandels auf Devisenbasis. Unter dem Druck von „Solidarność“ verabschiedete der Sejm ein Gesetz, mit dem die Kompetenzen der Arbeiterselbstverwaltung in den Betrieben beträchtlich erweitert wurden; fortan waren sie ein wichtiger Faktor bei den Betriebsentscheidungen. Obwohl dieses Gesetz nach Ausrufung des Kriegsrechts 1981 beschnitten wurde, hatten die Strukturen der innerbetrieblichen Arbeiterselbstverwaltung während der gesamten 1980er Jahre eine starke Position inne, insbesondere in den Industriebetrieben und in den Einrichtungen mit Hochtechnologie (nach damaligen Stand).
Nach der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU im März 1985 verstärkte sich in der PVAP-Führung schnell die Überzeugung, dass der sowjetische Sozialismus nicht mehr reformierbar sei. Einige Monate später wurde 1985 die Regierung von Zbigniew Messner berufen. In ihr hatte der spätere Staatspräsident und Mitbegründer der polnischen Sozialdemokratie Aleksander Kwaśniewski sein erstes Ministeramt. Die Messner-Regierung bereitete ein Programm unter dem Namen „Zweite Reformetappe“ vor. Viele Branchenministerien wurden beseitigt, die Selbständigkeit der Betriebe erhöht, zehn kommerzielle Banken eröffnet. Messners Nachfolger, Mieczysław F. Rakowski, der nach dem Ausbruch neuer Streiks im Sommer 1988 das Amt übernahm, vollführte die erste liberale Revolution, indem er verkündete, das alles, was nicht verboten sei, auch erlaubt sei. Allen Bürgern wurde nun ermöglicht, wirtschaftlich tätig zu werden, der Devisenhandel wurde vollständig legalisiert, es wurden auch Wirtschaftseinrichtungen mit hundertprozentigem Auslandskapital erlaubt. Der Warenhandel wurde frei gegeben, alle bürokratischen Restriktionen aufgehoben, doch auch die Preise wurden größtenteils frei gegeben. Zugleich wurde ein Gesetz über die Beseitigung unrentabler Betriebe verabschiedet. Mehr als symbolische Bedeutung hatte, als Rakowski kraft dieses Gesetzes am 1. November 1988 den Konkurs der Leninwerft in Gdańsk verkündete. Einen Tag später kam Margaret Thatcher zu einem Besuch nach Polen und somit auch nach Gdańsk, denn mit Arbeiterführer Lech Wałesa wollte sich zu dieser Zeit jeder zeigen.
Die Rakowski-Regierung konnte ihre Vorhaben allerdings nicht umsetzen, denn parallel kam es zu den Absprachen zwischen Regierung und Opposition am Runden Tisch. Dort trafen die Wirtschaftsliberalen der PVAP mit den Vertretern der „Solidarność“ zusammen, die weiterhin auf ihre egalitären und sozialen Forderungen und Losungen pochten. Die Opposition war überzeugt, die in den Abmachungen enthaltenen Forderungen nach Erhöhung der Rolle von innerbetrieblicher Arbeiterselbstverwaltung, nach automatischen Lohnanpassungen, nach Erhöhung der Sozialausgaben würden von der bisherigen Regierung umgesetzt.
Schocktherapie: neoliberale Transformation
Doch es kam anders. Infolge der teils freien Parlamentswahlen vom 4. Juni 1989 ging die Regierung in die Hände der Opposition über; zum Ministerpräsidenten wurde mit Tadeusz Mazowiecki einer der wichtigsten „Solidarność“-Berater berufen. Zu keiner Zeit griff die Mazowiecki-Regierung zurück auf die Forderungen, die „Solidarność“ noch zu Oppositionszeiten für außerordentlich wichtig gehalten hatte. Die Vision einer Selbstverwaltungsrepublik, in der jedem Bürger Teilhabe an der Wirtschaftslenkung zugesichert werden sollte, wanderte auf den Müll. Ihr wichtigster Autor, Leszek Balcerowicz, wurde als neuer Vizepremier und Finanzminister zur Personifizierung von radikalen Wirtschaftsreformen, die als Schocktherapie in die Geschichtsbücher eingingen. Die eigentlichen Stichwortgeber saßen als Experten in Weltbank und Internationalem Währungsfond, allen voran Jeffrey Sachs. Die neoliberale Ideologie mit allen ihren Dogmen wurde in Polen die allein gültige. Ein Witz aus dieser Zeit illustriert das recht anschaulich: Wie viele Personen werden gebraucht, um eine Glühbirne herauszuschrauben? Im Sozialismus braucht es dazu fünf Personen, eine hält die Glühbirne fest, die anderen vier drehen die Leiter. Und jetzt? Jetzt ist niemand mehr nötig, denn die Glühbirne wird durch die unsichtbare Hand des Marktes herausgeschraubt.
In einem Interview, das Jeffrey Sachs kürzlich der Wirtschaftszeitung „Dziennik. Gazeta Prawna“ gab, distanzierte er sich vom Neoliberalismus. Er versicherte, dass er, als er die Empfehlungen für Polen geschrieben hatte, an eine gemischte Wirtschaft gedacht habe, zudem mit einem starken Staat, mit Mechanismen der Redistribution, mit einem funktionierenden Arbeitsmarkt. Immer, so Sachs heute, habe ihm die Sozialdemokratie am nächsten gestanden. Doch 25 Jahre zuvor war keinerlei Rede von irgendwelchem Projekt mit sozialdemokratischem Anstrich, sondern ausschließlich vom alternativlosen, zudem universellen neoliberalen Modell, in dem der Markt immer Recht und der Mensch sich dessen Anforderungen zu unterwerfen habe[1].
Der Balcerowicz-Plan, ein Paket aus mehreren Gesetzesvorhaben, wurde noch 1989 durch Sejm und Senat (Oberhaus) gewinkt, alle Abgeordneten der PVAP stimmten zu. Staatspräsident Wojciech Jaruzelski unterschrieb es schließlich, ohne es wohl gelesen zu haben. Die Gewerkschaft „Solidarność“ erklärte auf Betriebsversammlungen den Beschäftigten, der Balcerowicz-Plan sei der kürzeste Weg zum erhofften Wohlstand. Ähnlich dachte auch Jacek Kuroń, der nun Arbeits- und Sozialminister war. Anderer Meinung war allerdings sein langjähriger Kampf- und Leidensgefährte Karol Modzelewski, der stimmte als einziger Abgeordneter im Sejm gegen das Gesetzespaket.
Mit dem 1. Januar 1990 wurden diese Gesetze verbindlich. Von einem Tag auf den anderen schossen die Preise um ein Vielfaches in die Höhe, wurden die Einkünfte der Bevölkerung praktisch halbiert. Der Preis für die schnelle Herstellung eines Gleichgewichts der Ware-Geld-Beziehung war eine vehemente Verarmung großer Schichten der Bevölkerung. Eine neue Erscheinung war die Arbeitslosigkeit, die in Polen seit 1945 nicht mehr bekannt gewesen war. Bankkredite für Unternehmen verteuerten sich schlagartig von 8 auf 120 Prozent Zinsen. Es kam massenhaft zu Konkurserklärungen von Wirtschaftseinrichtungen, von den 1.615 neuen Industrieunternehmen, die nach 1988 gegründet wurden, erklärten 650 ihren Bankrott. Die neuen Wirtschaftsbedingungen stießen auf den Widerstand bei den Belegschaften in den großen Industriebetrieben, der Hauptbasis der „Solidarność“-Gewerkschaft. Die Arbeiterschaft in der Großindustrie stand vor einem Prozess, der innerhalb nur weniger Jahre neun von zehn Arbeitsplätzen vernichtete. Im Steinkohlenbergbau wurde die Beschäftigung von 450.000 auf 140.000 Bergarbeiter zurückgefahren. Auch Eisenhüttenindustrie und Schiffbau erlebten schwerste Zeiten. 1991 wurden die staatlichen Landwirtschaftsbetriebe aufgelöst, 330.000 Landarbeiter waren plötzlich beschäftigungslos und ohne bezahlte Arbeit.
Im Januar 1990 betrug die Arbeitslosenrate nur 0,3 Prozent, im Dezember 1990 bereits 6,5 Prozent, was 1,1 Millionen Menschen betraf, die in den Arbeitsämtern registriert waren. Ende 1992 betrug diese Zahl bereits 2,5 Millionen, die Arbeitslosenrate lag damit bei 16,5 Prozent. Das alles unter Bedingungen, die zudem anregten, frühzeitig in den Vorruhestand zu gehen oder Invalidität zu beantragen.
Der Anfang der 1990er Jahre erwies sich für Polen als katastrophal. Das Bruttoinlandsprodukt fiel 1990 um 11,7 Prozent, die Industrieproduktion schrumpfte fast um ein Viertel, auch 1992 zeigte die Tendenz nach unten, wieder sank das BIP um 7 Prozent. Die Privateinkünfte schrumpften 1990 um 24 Prozent, der Reallohn (nach Abzug der Inflation) um 28 Prozent, die Renten wurden um 14 Prozent gekürzt.
Die Wirtschaft erhielt einen gewaltigen Schlag. Viele Betriebe gingen in die Knie, nicht, weil sie ineffektiv waren, sondern in erster Linie wegen der astronomisch gestiegenen Kosten für die Kreditfinanzierung. Es setzte ein Prozess der Deindustrialisierung ein. Der Industrieminister in der Mazowiecki-Regierung, Tadeusz Syryjczyk, bekannte ganz offen: die beste Industriepolitik sei die, die man gar nicht bemerke. Zu Opfern dieser Denkweise wurden sogar moderne Firmen mit festen Märkten im Westen, die durch den Balcerowicz-Plan in die Kreditfalle gerieten. Zdzisław Sadowski, Stellvertretender Ministerpräsident in der Messner-Regierung, stellte kürzlich in der Wochenzeitung „Przegląd“ rückblickend und bitter fest, dass dort, wo zuvor komplexe Systeme hergestellt wurden, nun Lagerhallen für Damenunterwäsche und zum Nachreifen der Bananen entstanden.[2]
Die Privatisierung und ihre Folgen
Bis zum Ende der Volksrepublik Polen dominierte staatliches Eigentum. Um die Vorbehalte in der Bevölkerung gegen eine umfassende Privatisierung zu zerstreuen, wurde das Programm der allgemeinen Verleihung von Eigentumsrechten aufgelegt. Dieses Programm wurde von 1994 bis 1998 umgesetzt, es betraf über 500 große Betriebe. Miteigentümer konnten die Besitzer von so genannten Anteilsscheinen werden, die sich 27 Millionen Bürger mit geringen Kosten zulegten. Das Programm scheiterte allerdings, die Anteilsscheine wurden durch Investitionsfonds aufgekauft, die vom ausländischen Kapital kontrolliert wurden, so dass diese Fonds schließlich die Privatisierung der Unternehmen durchführten. Obwohl die Kapitalprivatisierung bessere Effekte zeitigte – so spülte sie 2012/13 3,3 Milliarden Euro in die Staatskassen – kam es auch hier zu vielen Ungereimtheiten und Unregelmäßigkeiten. Prof. Witold Kieżun, der diesen Verlauf untersucht hat, kann Beispiele aufzeigen, wo Unternehmen unter dem geschätzten Wert verkauft wurden. Seiner Ansicht nach wurde ein großer Teil des Wirtschafspotentials ganz einfach verschleudert. Auch seien die besten Unternehmen mit guten Aussichten auf anderen Märkten häufig durch westliche Eigentümer aufgekauft worden, nur um diese gleich anschließend zu schließen oder eher unbedeutende Produktion von irgendwelchen Teilen einzuführen.[3]
Der Privatisierungsprozess steht vor dem Abschluss. Im Jahre 1990 gab es noch mehr als 8.500 Staatsbetriebe, heute nur noch 249. Die Staatshand will die Kontrolle nur noch bei den Unternehmen behalten, die besondere Bedeutung für die Sicherheit des Staates haben (hauptsächlich im Brennstoff- und Energiesektor).
Das beispielsweise gegenüber Deutschland deutlich niedrigere Lohnniveau, die qualifizierten Arbeitskräfte sowie Steuervergünstigungen haben ausländische Investoren nach Polen gelockt. Sie wurden zu einer der grundlegenden Quellen für die Modernisierung und Entwicklung. Auslandskapital kontrolliert eine ganze Reihe von Industriebranchen (z. B. Autobranche, Elektrobranche, Haushaltsgeräte) und den größten Teil des Finanzsektors (darunter den Banksektor), außerdem den Handel mit großen Grundstücken und den Medienmarkt. Doch erst der Beitritt zur Europäischen Union 2004 und die damit einhergehenden Vorteile (milliardenschwere Förderprogramme, freier Zugang zum Gemeinsamen Markt) erbrachten eine spürbare Verbesserung der Situation. Die Wirtschaft nahm Fahrt auf, 2004 betrug das BIP pro Kopf der Bevölkerung in Polen nicht einmal 50 Prozent des EU-Durchschnitts, heute ist ein Wert von 67 Prozent erreicht. 2012 war der Gesamtumfang des BIP doppelt so groß wie 1989, dem letzten Jahr der Volksrepublik. Das Privatauto, in der Volksrepublik ein Ausdruck von Luxus, wurde allgegenwärtiges Transportmittel. Wasser, Luft und der Erdboden sind erheblich weniger geschädigt und belastet als vor 25 Jahren. Es wurden tausende Kilometer neuer Straßen, Wasser- und Abwasserkanäle gebaut, zahlreiche neue Sport- und Erholungseinrichtungen wären hier ebenfalls zu nennen. Das Freizeitverhalten vieler Polen hat sich grundlegend geändert. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist seit 1990 um sieben Jahre gestiegen. In einer Umfrage eines seriösen Meinungsforschungsinstituts aus Anlass des 25. Jahrestags der Wahlen vom 4. Juni 1989 meinten 71 Prozent der Befragten, dass sich der Systemwechsel gelohnt habe, 45 Prozent meinten, die Veränderungen nach 1989 hätten mehr Vorteile gebracht als Nachteile. Entgegengesetzter Meinung waren 15 Prozent der Befragten. Polens Bürger bewerten also den Systemwechsel viel positiver als die Bürger in Tschechien, in Ungarn oder der Slowakei.
Allerdings meinten bei dieser Umfrage nur 53 Prozent der Befragten, dass sich der Zustand der Wirtschaft verbessert habe, immerhin 28 Prozent waren der Meinung, die Wirtschaft habe vor 1989 besser funktioniert als jetzt. 46 Prozent der Befragten gaben an, dass die soziale Sicherheit in der Volksrepublik höher gewesen sei als jetzt. Und 62 Prozent der Befragten hielten das Gesundheitswesen in der Volksrepublik für das bessere im Vergleich zum heutigen.
Obwohl die Polen also immer länger leben, nimmt ihre Zahl beständig ab. Im letzten Jahrzehnt der Volksrepublik, von 1980 bis 1989, nahm die Bevölkerung um 2,2 Millionen auf insgesamt 38 Millionen zu, von 1990 bis heute nur noch um 400.000. Seit zwei Jahren gibt es ein negatives Wachstum und alle Prognosen gehen davon aus, dass sich die Bevölkerung weiter verringern wird. Für 2030 rechnet man nur noch mit 35 Millionen Einwohnern. Das hängt unmittelbar mit Problemen für die junge Generation zusammen, die bereits im kapitalistischen Polen aufgewachsen und groß geworden ist. Eine Zahl mag das verdeutlichen: Während in Polen auf eine Polin statistisch nur noch 1,3 Kinder kommen, sind es in Großbritannien, wohin seit 2004 viele junge Polen ausgewandert sind, immerhin 2,13. Dort, wo in Polen die höchste Arbeitslosenrate vorliegt, gibt es auch die niedrigsten Geburtenzahlen pro Kopf.
Selbst nachdem über 2 Millionen Menschen das Land verlassen haben, um anderswo Arbeit zu suchen, gibt es in Polen eine offizielle Arbeitslosenzahl, die über zwei Millionen Menschen betrifft. Bei den unter 27-Jährigen beträgt die Arbeitslosenrate 27 Prozent. Junge Menschen sind häufig in so genannten „elastischen“ Arbeitsverhältnissen beschäftigt, die nicht im Arbeitsrecht oder in Kollektiv- oder Tarifverträgen erfasst sind. Es gibt da häufig keinen Anspruch auf gesetzliche Rentenversicherung, auf gesetzlichen Mindestlohn, auf Arbeitszeitbegrenzung, auf bezahlten Urlaub usw. Die so Beschäftigten haben nicht nur geringe Einkünfte, sie sind zugleich für die Banken nicht kreditfähig, so dass sie – anders als in Polen sonst üblich, wo kreditbezahlter Wohnungskauf die Regel ist – teuer oder überteuert mieten müssen. Das alles führt vielfach dazu, erst spät Familien zu gründen.
Genauso schwierig ist die Situation für Menschen im Vorpensionsalter. 2013 wurde in Polen das gesetzliche Renteneinstiegsalter für Frauen und Männer auf einheitlich 67 Jahre angehoben. In Polen arbeitet von den über 50-Jährigen jeder zweite Mann und jede dritte Frau. Keine Arbeitstelle zu haben, ist der Hauptgrund für Armut. 7,4 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb des Existenzminimums. Jedes Jahr werden tausende Familien auf die Straße geworfen, weil sie die Miete nicht mehr zahlen können; Obdachlosigkeit gehört wieder zum Alltagsleben. Die Zahl der Selbstmorde hat zugenommen; im Jahre 2013 nahmen sich 6.100 Menschen das Leben, wobei Armut und das Fehlen eines bezahlten Arbeitsplatzes Hauptgründe sind. Im vorigen Jahr verbrannte sich vor dem Regierungssitz in Warschau ein Mann, der wegen Krankheit seinen Arbeitsplatz verloren hatte und sich nicht mehr in der Lage sah, seine Familie zu unterhalten.
Auf der anderen Seite gehört Polen zu jenen Ländern, in denen die Zahl der Reichen sprunghaft zunimmt. Derzeit gibt es 45.000 Polen mit einem Vermögen von mehr als einer Million US-Dollar. 2018 sollen es nach Schätzungen von Credit Suisse bereits 85.000 sein. In Hinsicht der sozialen Spaltung hat Polen, das bis 1989 ein egalitäres Land gewesen war, viele alte kapitalistische Länder in Europa überholt.
Eine Mehrheit der Polen, auch diejenigen, deren Lebensqualität sich nach 1989 deutlich verbessert hat, sorgt sich um den Arbeitsplatz und um die künftige Rente. Das Gefühl einer mangelnden Stabilität ist in Polen mittlerweile allgemein verbreitet. Zunehmend wird mit Besorgnis registriert, dass Polens Entwicklungsschübe immer noch von außen kommen, durch Auslandskapital und die Europäische Union. Immer häufiger wird auf das Jahr 2020 verwiesen, nach dem das heutige Förderniveau aus EU-Fonds drastisch zurückgehen wird. Es ist auch schwer auszumachen, ob das Auslandskapital sich dauerhaft in Polen festsetzt. Im letzten Jahr fuhren Auslandskonzerne in Polen einen Gewinn von 16,1 Milliarden Euro ein, wovon nur 2,3 Milliarden wieder in Polen investiert wurden, was die liberale Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ als das schlechteste Ergebnis seit 2008 wertete.
Übersetzung aus dem Polnischen von Holger Politt
[1] Ja tu tylko doradzałem. Z Jeffreyem Sachsem rozmawia Rafał Woś [Ich habe lediglich beraten. Mit Jeffrey Sachs spricht Rafał Woś], in: Dziennik. Gazeta Prawna, 6.–8. Juni 2014.
[2] Siehe Zdzisław Sadowski: Balcerowicz nie mógł odejść [Balcerowicz konnte nicht zurücktreten], in: Przegląd, Nr. 47/2013.
[3] Siehe Witold Kieżun: Polska Afryką Europy [Polen das Afrika Europas], in: Dziennik. Gazeta Prawna, 8.–11. November 2013.