Kapitalismus in Osteuropa

Der Übergang zum Kapitalismus in der Tschechischen Republik

von Ilona Švihlíková
September 2014

Der kapitalistische Transformationsprozess in der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik nach 1990 kann auf verschiedene Art und Weise beschrieben werden. In diesem Artikel werde ich mich folgenden Punkten ausführlicher widmen:

- Durchsetzung der „Marktwirtschaft“, Charakter des privaten Eigentums und des Privatisierungsprozesses.

- Integration des Landes in das System der kapitalistischen Welt-Wirtschaft.

Es ist ziemlich eindeutig, dass der Untergang des Staatssozialismus dem Kapitalismus geholfen, ihn vielleicht sogar (zumindest vorübergehend) gerettet hat. Es muss aber genauer analysiert werden, um welche Phase des Kapitalismus in den 1990er Jahren es sich handelte und wie und mit welchen Konsequenzen Tschechien in dieses System integriert wurde.

Der Transformationsprozess in Tschechien wurde von vielen Faktoren beeinflusst, u.a. der geographischen Lage, der ökonomischen Struktur der Tschechoslowakei und der Fähigkeit des Staates, den Prozess zu kontrollieren. Nicht zu vergessen sind die internationalen Aspekte, vor allem die Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Die Wirtschaft der Tschechoslowakei

Im Vergleich zu den anderen Mitgliedern des RGW kann man davon ausgehen, dass die Tschechoslowakei über ein relativ gut entwickeltes Wirtschaftssystem verfügte. Dies zeigen die Struktur des Exports und das Niveau der Wirtschaftsleistung (BIP pro Kopf) (vgl. Tab. 1 und 2).

Hervorzuheben ist, dass beide Systeme – das sozialistische (Planwirtschaft) und das kapitalistische – in den 1970er Jahren eine tiefe Krise durchmachten und eine bedeutende Verlangsamung des Wirtschaftswachstums erlebten. In der Tschechoslowakei hatte diese Krise auch einen politischen Hintergrund. Nach der kurzen Hoffnung des Prager Frühlings setzte sich mit der so genannten „Normalisierung“ ein Prozess durch, der die Erstarrung der herrschenden Partei vertiefte und alle Bemühungen um Reformen unmöglich machte.

Die Tschechoslowakei war das entwickeltste der mitteleuropäischen sozialistischen Länder und blieb es auch bis zum Jahr 1990. Allerdings erlitt auch sie nach 1989 einen starken Rückgang des BIP pro Kopf. Die Kombination von wirtschaftlicher und politischer Reformunwilligkeit der Kommunistischen Partei einerseits, die sich auch im Widerstand gegen die Perestrojka und die von Gorbatschow geförderten Reformen zeigte, und dem relativ guten Zustand der Wirtschaft (z.B. sehr niedrige Verschuldung im Vergleich zu Polen und Ungarn) andererseits, schuf eine besondere Konstellation, die nach 1990 in starkem Maße neoliberale Prozesse förderte, was nur auf den ersten Blick paradox ist.

Tab. 1: Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf (in Prozent des westlichen Niveaus)

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Myant/Drahokoupil 2011, S. 13 (BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität in Internationalen Dollars 1990)

Strukturell dominierte in der Wirtschaft der Tschechoslowakei die Industrie, speziell die Schwerindustrie. Vor allem der Dienstleistungssektor war unterentwickelt. Die Planwirtschaften zeichneten sich durch hohe Standards im sozialen Bereich aus: dies gilt für das Bildungs- und Gesundheitswesen, aber auch für die öffentliche Subventionierung von Lebensmitteln, für hohe Renten/Pensionen usw. Vor allem hatte die Tschechoslowakei ein sehr geringes Niveau sozialer Ungleichheit.

Die starke Außenwirtschaftsorientierung der tschechoslowakischen Wirtschaft spielte beim Übergang zum Kapitalismus eine wichtige Rolle. Tab. 2 gibt eine Übersicht zur territorialen Struktur des Exports. Im Vergleich mit Nachbarländern wie Polen und Ungarn zeigt sich die starke Außenwirtschaftsverflechtung mit der Sowjetunion (und anderen sozialistischen Ländern). Daher war der durch den Kollaps der östlichen Märkte ausgelöste Schock groß.

Tab. 2: Die wichtigsten Export-Märkte der Tschechoslowakei, Polens und Ungarns 1989 (in Prozent des Gesamtexports)

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Myant/Drahokoupil 2011, S. 43.

„Marktwirtschaft ohne Adjektive”

Der Transformationsprozess der tschechoslowakischen Wirtschaft fand in den 1990er Jahren in der Dekade des so genannten „Washington-Konsensus“ statt. Dessen marktradikale Prinzipien lassen sich vereinfacht mit den drei Worten Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung zusammenfassen. Die an diesen Zielen ausgerichtete Wirtschaftspolitik bestimmte ebenso wie die inneren Bedingungen die spezifische Form des Übergangs zum Kapitalismus in der Tschechischen Republik. Theoretische Alternativen zur neoliberalen Variante kapitalistischer Entwicklung, wie z.B. die Institutionelle Ökonomie (die die Wichtigkeit der mikroökonomischen Aspekte – die Struktur der Unternehmen, deren Größe und Position auf dem Weltmarkt etc. – betont), oder die Möglichkeit der Erweiterung der „Arbeitnehmerbeteiligung“ (in der Form von Genossenschaften oder selbst in milderer Form wie ESOP [employee stock ownership plan] in den USA), all das wurde sofort als „altes Denken“ etikettiert. Der gegenwärtige Präsident der tschechischen Republik, Miloš Zeman, war und ist Anhänger einer solchen „Arbeitnehmerbeteiligung“, blieb aber mit diesen Ideen Anfang der 1990er Jahre weitgehend allein.

Neben den internationalen Einflüssen – vor allem dem Engagement des IWF – haben vor allem die inländischen Präferenzen, die durch die Figur von Václav Klaus repräsentiert wurden, die Lage geprägt. Der IWF hatte in der Tschechoslowakei und später in der Tschechischen Republik keinen so großen Einfluss wie in Polen oder Ungarn, weil die Verschuldung des Staates fast bei Null lag und der Druck daher wesentlich schwächer war. Auf der anderen Seite gelang es Václav Klaus, seine Ideen einer „Marktwirtschaft ohne Adjektive“ auch mit Hilfe seines starken Charismas in der tschechischen Gesellschaft rasch durchzusetzen. Die strukturell schwächere Slowakei war sich bewusst, dass sie eine solche Form der Transformation nicht aushalten würde, und das war dann auch einer der Gründe für den Zerfall der Tschechoslowakei in die beiden selbständigen Staaten Tschechische Republik und Slowakische Republik (1993).

In der Tschechischen Republik wurde der Weg des Neoliberalismus schon Anfang der 1990er Jahre beschritten, aber die Tendenz vertiefte sich nach der Spaltung der Tschechoslowakei und nachdem Václav Klaus 2003 die Wahlen gewonnen hatte. Heute mag dies unglaublich erscheinen angesichts der Erfahrungen, die die meisten Tschechen mit seinen „Reformen“ gesammelt haben. Aber damals gelang es Václav Klaus mit seinen Ideen eines „reinen Kapitalismus“ und der raschen Transformation und angesichts der Beliebtheit von Maggy Thatcher und Milton Friedman den Eindruck zu erwecken, er kenne „den Weg“ und nach ein paar Jahren des Leidens würden die Tschechen so reich wie die Deutschen sein. Allerdings hüteten sich in den ersten Jahren fast alle Politiker, das Wort „Kapitalismus“ zu benutzen. Stattdessen sprachen sie nur von der „Marktwirtschaft“.

Das hatte seine guten Gründe. Ende 1989 und 1990 verlangte die Majorität der Bevölkerung nach größeren Freiheiten (z.B. Reisefreiheit oder die Freiheit, selbstständig erwerbstätig sein zu können), aber fast alle nahmen es als selbstverständlich an, dass die sozialen Rechte erhalten bleiben würden. Mit Bitternis erinnert man sich heute an die Erklärungen von Václav Havel, der Ende 1989 zum Präsidenten gewählt wurde, in denen er den Hinweis auf die Risiken von Arbeitslosigkeit und weitere Probleme als ein Argument ablehnte, das „von den Kommunisten missbraucht“ werde. Es gab kaum eine öffentliche Debatte über die zukünftige Richtung. Wer andere Meinungen vertrat – z.B. Vorschläge für größere „Arbeitnehmerbeteiligung“ oder eine stärkere Betonung der Rolle des Rechtes, wie in der Institutionellen Ökonomie –, wurde einfach als gefährlicher Bolschewik bezeichnet, der die Rückkehr zu den Verhältnissen von vor 1989 wolle.

Staat und Privatisierung

Der Übergang zum Kapitalismus erwies sich als ein vielschichtiger Prozess. Die Tschechoslowakei war schon damals eine gegenüber dem Weltmarkt geöffnete Wirtschaft mit einer – zumindest im Vergleich zu anderen sozialistischen Staaten – höheren Exportquote, gemessen am BIP. Die Exporte gingen jedoch in höherem Maße in sozialistische Länder als dies z.B. für Polen oder Ungarn der Fall war (vgl. Tab. 2). Daher kam der Außenwirtschafts-Politik große Bedeutung zu. Hier hatte der IWF großes Gewicht, vor allem in der Währungspolitik. Der IWF übte massiven Druck aus zugunsten einer mehrfachen starken Abwertung der Krone, was seiner Politik des „Washington-Konsensus“ entsprach. Die Tschechoslowakei wurde damit „billig“; diese Maßnahmen beeinflussten massiv die spätere Integration beider Länder in die Weltökonomie. Die geschwächte Krone verteuerte die Importe nicht nur von Verbrauchs-, sondern auch von Investitionsgütern, die für die Modernisierung der Betriebe wichtig waren. Die Exportwirtschaft gewann auf der anderen Seite einen beachtlichen Preisvorteil, der sie vom Zwang befreite, ihre ökonomische Struktur zu ändern. Die Tschechoslowakei setzte sich folglich auf den Weltmärkten nur durch Preisfaktoren durch und ihre Exportstruktur begann sich der Struktur der Entwicklungsländer anzugleichen. Der rasche Zerfall des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) bedeutete zugleich den Verlust der östlichen Märkte, so dass sich die Betriebe schnell auf die Westmärkte umorientieren mussten. Hier spielten sie natürlich nur eine zweitklassige Rolle.

Dazu kam der Umstand, dass im Zuge der Kouponprivatisierung ab Anfang 1992 nicht nur viele Betriebe geschlossen, sondern auch zerlegt wurden. Ein typisches Beispiel sind die „Betriebe für Außenhandel“ (PZO – podniky zahraničního obchodu). Während im Westen die Tendenz in Richtung auf maximale Konzentration in Form von transnationalen Unternehmen lief, verbunden mit Fusionen und Akquisitionen, wurde in den ehemaligen RGW-Länder die Unternehmens-Struktur in einem gegenläufigen Prozess zersplittert, was völlig im Interesse des westlichen Kapitals lag.

Für den Transformationsprozess spielte der Staat eine entscheidende Rolle. Die Regierung lehnte zwar aus ideologischen Gründen staatliche Eingriffe als „soziales Ingenieurwesen“ strikt ab, führte aber gleichzeitig massive Eingriffe durch. Die Form und Geschwindigkeit des Privatisierungsprozesses und der Eigentumsübertragungen veränderten die ökonomische und soziale Struktur des Landes radikal. Die Privatisierung wurde nicht als Instrument, sondern als Ziel an sich präsentiert: Je schneller alles privatisiert wurde, desto besser für die Wirtschaft. Dabei war die so genannte „Kleine Privatisierung“ eigentlich keine Privatisierung, da die Interessenten nur die Berechtigung erwerben konnten, z. B. ein kleines Ladengeschäft zu betreiben. Die Form dieser Privatisierung war so „erfolgreich“, dass sie die Voraussetzungen für das systematische Eindringen der ausländischen Handelsketten schuf.

Den wichtigsten Schritt stellte die Kuponprivatisierung dar. Die – zumindest offiziell propagierte – Idee bestand darin, einen „Volkskapitalismus“ zu schaffen, in dem jeder Bürger Aktionär werden sollte.[1] Václav Klaus zeigte sich gegenüber ausländischen Investoren abgeneigt und widersetzte sich dem Verkauf von Škoda an den deutschen Volkswagen-Konzern. Die aus der Kuponprivatisierung hervorgegangenen Kleinaktionäre hatten keinerlei Einfluss auf das Handeln der Betriebe. Sie verfügten weder über die notwendigen Informationen noch hatten sie entsprechende Erfahrung. Zudem waren sie unglaublich zersplittert. Die Rolle der Privatisierung wurde im Übrigen verzerrt. Ihr Sinn sollte eigentlich nicht darin bestehen, so schnell wie möglich neue Eigentümer zu finden, sondern das Verhalten der Betriebe zu ändern. Vorteile hatten natürlich jene Personen, die besser als die normalen Bürger über den wirklichen Stand der Betriebe informiert waren, und die so genannten Investitionsfonds, die zumeist von Banken gegründet worden waren. Die Banken befanden sich aber (noch) im Staatseigentum. Der Konzentrationsprozess vollzog sich schnell, da die meisten Bürger Bargeld bevorzugten und der Ausverkauf des nationalen Reichtums der sozialen „Abfederung“ diente. Miloš Pick konstatierte, dass sich sehr schnell eine neue Machtpyramide herausgebildet hatte: etwa 500 Familien kontrollieren die ganze Wirtschaft, ohne sie zu besitzen. Damit ist eigentlich ein neues „ökonomisches Politbüro“ entstanden, das nie gewählt wurde. „Extreme Konzentration der ökonomischen Macht, extrem abgehoben von hochgradig zersplittertem Streubesitz – das ist das Ergebnis der Kuponprivatisierung.“[2]

Jan Stráský, ein ehemaliger Mitarbeiter von Václav Klaus, hat 2013 in einem sehr kritischen Interview nach all den Jahren offen zugegeben, dass die Privatisierung als Prozess organisiert wurde, bei dem man „das Licht ausschaltete“, damit die „Fähigsten“ den Reichtum unter sich verteilen konnten. Er beschreibt in dem Interview[3] die Methoden, mit denen das gemacht wurde. Andere Kritiker betonen die Bedeutung der Amnestie, die Václav Klaus kurz vor Ende seiner Amtszeit als Präsident Anfang 2013 erließ: Diejenigen, die sich durch die Privatisierung bereichert hatten und die die Politik und Medien beherrschen bzw. besitzen, sollten nie juristisch belangt werden. Die Geschwindigkeit, mit der die Privatisierung durchgesetzt wurde, war entscheidend: Es ging darum, möglichst schnell eine „Elite“ zu schaffen, die den Prozess der neoliberalen Politik tragen würde.

Die Tschechische Republik wurde gelegentlich als „der osteuropäische Tiger“ beschrieben. Seit der zweiten Hälfte der 1990er ist damit aber Schluss. Die Wirtschaft ging in Stagnation über und zeigte starke innere Ungleichgewichte, die sich dann auch in der Zahlungsbilanz widerspiegelten. Die Tschechische Republik wurde bei fixiertem Wechselkurskurs[4] attraktiv für Währungs-Spekulanten; 1997 kam es zu einer kleinen Finanz-Krise und unter dem Druck der Spekulationsattacke musste die Wechselkursbindung aufgegeben werden. Die erzwungene Abwertung war eigentlich das reale Ergebnis des Transformationsprozesses. Diese Entwicklung hatte auch politische Konsequenzen: 1997 kam es zu vorzeitigen Wahlen, die die Sozialdemokraten gewannen. Sie konnten nach langwierigen Verhandlungen eine Minoritätsregierung bilden.

Die frustrierten und verärgerten Bürger hatten inzwischen realisiert, was Sinn und Ergebnis der Kuponprivatisierung war. Es häuften sich insbesondere in den Jahren 1993 bis 2003 Probleme bei den Banken, die vom Staat unter unglaublichen Kosten (Schätzungen reichen bis zu einer Billion Kronen) gerettet wurden. Die Sozialdemokraten initiierten verschiedene Maßnahmen zur Unterstützung der Exportwirtschaft. Ihre Wirtschaftspolitik zielte auf die Anwerbung von ausländischen Direktinvestitionen, vor allem im Bereich industrieller Montage-Tätigkeiten; so sollte die rapide steigende Arbeitslosigkeit bekämpft werden. Das größte Paradoxon besteht wohl darin, dass die Sozialdemokraten die Banken privatisierten, eine Maßnahme, vor der Václav Klaus immer zurückschreckte. Auf diese Weise begannen die transnationalen Unternehmen in Tschechien eine bedeutende Rolle zu spielen, was auch heute für die Tschechische Republik symptomatisch ist.

Fassen wir zusammen: Die rechts-orientierten Parteien mit Václav Klaus als „Vater des Transformationsprozesses“ an der Spitze haben versucht, schnell und ohne öffentliche Diskussion eine neue Elite und damit zugleich neue nationale Strukturen zu schaffen. Die Privatisierung war ihr Instrument zur Neuverteilung des Eigentums. Da die Privatisierungsmethoden in den Augen der Öffentlichkeit versagten und der ökonomische Zustand sich verschlechterte, kamen die Sozialdemokraten an die Macht. Ihre Politik führte zu wachsendem Einfluss des ausländischen Kapitals, vor allem über Direktinvestitionen. Niemandem ist es gelungen, starke tschechische und wirtschaftsdemokratische Strukturen zu schaffen. Die war auch niemandes Priorität in den neoliberalen 1990er Jahren.

Weltmarktintegration

Die Integration Tschechiens in die Weltwirtschaft vollzog sich wie bei den anderen ehemaligen RGW-Ländern in den 1990er Jahren, also in der Zeit des „Washington-Konsensus“ oder generell in der neoliberalen Ära. Der Einfluss der EU auf den Transformationsprozess war nicht so intensiv wie der der Weltbank und des IWF. Aus mikroökonomischer Sicht war dies die Integration in eine Welt von Oligopolen – von mächtigen transnationalen Unternehmen. Infolge der Destruktion der binnenwirtschaftlichen Strukturen in den ehemaligen RGW-Ländern bestand deren einzige „Chance“ darin, billige Zulieferer zu werden und über den Preis zu konkurrieren. Ihre Weltmarkt-Integration vollzog sich mithin – in Tschechien wurde diese Tendenz dominant seit Ende der 1990er Jahre – in der Rolle von „Quasi-Kolonien“. Das war mit ernsten makroökonomischen Konsequenzen verbunden. Ganz anders der Transformationsprozess in China, bei dem der chinesische Staat immer die Kontrolle über die Wirtschaftsstrukturen des Landes behalten hat. Die vom Staat kontrollierten chinesischen Betriebe sollten fähig sein, sich der Konkurrenz der großen westlichen Unternehmen zu stellen.

Das System des Kapitalismus befand sich seit den 1970er Jahren in einer strukturellen Krise. Dass die staatssozialistischen Systeme kollabierten, bedeutete für den Kapitalismus nicht nur einen ideologischen Sieg, sondern gab ihm auch die so dringend benötigte Möglichkeit, weiter zu expandieren, neue Märkte zu öffnen, die neue Länder auszubeuten und so auch Druck auf die „alten“ westlichen Länder[5] auszuüben. Für das kapitalistische System bedeutete der Zerfall der staatssozialistischen Länder wirklich eine Rettung. Es konnte sich als der ideologische Sieger präsentieren: der (neoliberale) Kapitalismus als das beste aller Systeme, zu dem es keine Alternative gibt. Das könnte auch eine Erklärung sein für die Abneigung gegen einen Marshall-Plan II für die „Transformationsländer“.

Anfang der 1990er Jahre wurde die Tschechoslowakei wieder Mitglied des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen (GATT), zu dessen Gründungsmitgliedern sie 1947 gehört hatte; nach dem Zerfall der Tschechoslowakei Ende 1992 wurde die Mitgliedschaft für beide Staaten (Tschechien und Slowakei) akzeptiert. 1991 wurden die Assoziierungsabkommen mit der EG unterzeichnet. Sie wurden nicht nur auf Handelsfragen beschränkt. 1993 entstand das Mitteleuropäische Freihandelsabkommen (Central European Free Trade Agreement, CEFTA) mit den Mitgliedsstaaten Tschechien, Slowakei, Polen und Ungarn. Deren Mitgliedschaft erlosch 2004 mit ihrem Beitritt zur EU; dies gilt auch für Tschechien, das 2004 zusammen mit weiteren neun Staaten EU-Mitglied wurde.

Es war schon erwähnt worden, dass erst nach Regierungsantritt der Sozialdemokraten Einrichtungen für die Förderung von Export und ausländischen Investitionen gestärkt oder neu gegründet wurden. Das betrifft die Tschechische Exportbank, die Exportversicherungsgesellschaft EGAP, die Handelsförderungsagentur Czechtrade und die Investitionsagentur Czechinvest. Unter der sozialdemokratischen Regierung wurden auch Investitionsanreize eingeführt.

Als positive Seiten der tschechischen Wirtschaft werden meistens genannt: relativ hoher Modernisierungsstand der Produktionsstätten, niedrige Arbeitslosigkeit (vor allem bei Montagebetrieben), zunehmender Export und damit positive Entwicklung der Handelsbilanz, die ab 2005 einen positiven Saldo zeigte. Allerdings investieren die transnationalen Unternehmen nicht aus altruistischen Gründen. Wenn die Investitionen „reif“ werden, kommt es zu Abflüssen der Profite aus dem Land. Seit 2006 übersteigt der Abfluss von Dividenden und Zinsen die re-investierten Profite. Diese Abflüsse zeigen sich in der Einkommensbilanz, die sehr stark negativ ist. Der Abfluss aus der Tschechischen Republik beträgt mehr als sieben Prozent des BIP. Das unterstreicht die strukturelle Schwäche der tschechischen Wirtschaft. Diese 7 Prozent fehlen dann beim Sparen und Investieren.

Tabelle 3: Reinvestierte Profite, Dividenden- und Zins-Abfluss (in Mrd. Kronen und Prozent)

Tabelle siehe PDF!

Quelle: Tschechische Nationalbank, lange Zeitreihen – sh. www.cnb.cz, www.czso.cz.

„Misslungene Transformation“

Die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung Tschechiens zeigt, dass Tschechien wie auch andere ehemalige RGW-Länder einem Transformationsschock unterlagen. Auf die eher kleine Währungskrise 1997 folgte wenig später eine Bankenkrise. Das wirtschaftliche Ausgangsniveau (das Niveau vor der Transformation) wurde im Vergleich zu EU15 erst im Jahre 2004 wieder erreicht. Die Konvergenz im Rahmen der EU fiel in den letzten Jahren einer übertriebenen Politik der Haushaltskonsolidierung zum Opfer. Tschechien bleibt also gemessen am pro-Kopf-Einkommen auf dem Niveau von 80 Prozent des EU-Durchschnittes, allerdings mit großen regionalen Unterschieden.[6] Dazu kommt eine ungewöhnlich hohe Differenz zwischen dem Niveau der Produktivität (es beträgt in Tschechien etwa zwei Drittel von Deutschland) und dem Niveau von Löhnen und Gehältern (sie liegen im Vergleich zu Deutschland bei etwa 40 Prozent). Einige Ökonomen vertreten die Ansicht, dieser Unterschied gehe auf den Beginn der Transformation zurück (Abwertung der Krone) und entspreche dem Abfluss der Profite aus dem Land.

Miloš Pick[7] konstatierte im Jahre 2011: „Im Vergleich zu anderen sich transformierenden Ländern in Zentraleuropa hatte Tschechien einen bemerkenswerten Vorsprung bei der Arbeitsproduktivität. Es hatte auch eine niedrige Auslands-Verschuldung, nur geringe Ungleichgewichte auf dem Binnenmarkt und eine sehr niedrige Inflationsrate. Das in der Gesellschaft verfügbare ‚Zivilisationspotential’ – das Niveau von Bildung und Qualifizierung mit hohem Anpassungsfaktor – war der komparative Vorteil der tschechischen Wirtschaft für viele Jahre. Diese vorteilhaften Ausgangsbedingungen Tschechiens wurden nicht nur falsch genutzt, sondern sie wurden zum großen Teil verschwendet.“

Insofern kann von einer „misslungenen Transformation“ gesprochen werden. Sie hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Politik, die von Skandalen und einem hohen Maß an Korruption und mafiösen Praktiken auf allen Ebenen der Staatsverwaltung geprägt ist.[8] All das fördert Angst und Apathie bei den Menschen, Angst, öffentlich aufzutreten und sich zu engagieren. Stattdessen sehen wir eine neue Welle von Privatismus, den Rückzug „ins traute Heim“ zum Fernsehen, auf die Datschen und ins Hobby mit der naiven Hoffnung, dass hier die Politik keine Rolle spielt. Die Verdrossenheit über die „traditionellen“ Parteien führt, wie auch in anderen Ländern, zur Unterstützung von Personen und Institutionen, die eindeutig populistisch sind bzw. von reichen Oligarchen gegründet wurden.[9]

Literatur

Bureš, J., Charvát, J., Just, P., Štefek, M.: Česká demokracie po roce 1989, Institucionální základy českého politického systému, Grada 2012.

Dale, G (ed.): First the transition, then the cash, Eastern Europe in the 2000s, London 2011.

Dubská, D.: Ekonomika ČR v trendech: byl rok 2011 opět zlomový?, ČSÚ, 2012

Dubská, D.: Firmy se zahraniční majetkovou účastí v ekonomice ČR: oslabily nebo dále sílí?, ČSÚ, 2012.

Klvačová, E., Malý, J., Mráček, K., Dostálová, I., Chlumský, J.: Státní pomoc, nebo dobývání renty? Praha 2005.

Kolektiv CES VŠEM, NOZV NVF: Konkurenční schopnost České republiky 2010-2011, Praha 2011.

Kubišta, V. a kol.: Mezinárodní ekonomické vztahy, Praha 1999.

Myant, M., Drahokoupil, J.: Transition economies. Political economy in Russia, Eastern Europe and Central Asia, Wiley, 2011.

Pick, M.: Stát blahobytu, nebo kapitalismus? My a svět v éře neoliberalismu 1989-2006, Grimmus, Všeň 2009.

Prorok, V.: Tvorba rozhodování a analýza v politice, Grada 2012.

Štouračová, J. a kol.: Proměny ekonomické diplomacie v ČR a ve světě, Praha 2012.

Švihlíková, I., Zechowska, S., Terem, P.: Political and economic features of transformation processes in the Czech Republic, Poland and Hungary, Praha 2013.

[1] Der tschechische Wirtschaftswissenschaftler Miloš Pick, der sich als einer der Wenigen mit einer systematischen Kritik des Transformationsprozesses befasst hat, kommentierte ironisch, dass die Kuponprivatisierung den Beifall der kommunistischen Partei hätte finden können: alle Betriebe gehören allen. Er stellte in seiner Analyse fest, dass die Betriebe, die durch die Kuponmethode (die übrigens auch mit Nachdruck von J. Stiglitz kritisiert wurde) privatisiert wurden, wirtschaftlich die schlechtesten Ergebnisse erreichten.

[2] M. Pick, Stát blahobytu, nebo kapitalismus? My a svět v éře neoliberalismu 1989-2006, Grimmus, Všeň, 2009, S. 42

[3] Rozkradená republika?, Ekonom, č. 14, 2013, str. 6-7. Das ganze Interview findet sich unter: http://dialog.ihned.cz/sidlo/c1-59481620-jan-strasky-co-klaus-sam-neciti-nikdy-neposlechne.

[4] Der Wechselkurs war kurzfristig an fünf Währungen, seit Mai 1993 nur noch an US Dollar und Deutsche Mark gebunden.

[5] Typisch z.B. die Drohung der Firma Bosch in Frankreich, bei Verweigerung der Zustimmung zu längerer Arbeitszeit ohne Lohnausgleich alle Produktionsstätten nach Tschechien zu verlagern.

[6] Prag, das politisch sehr rechts orientiert ist und konservative Parteien bevorzugt, erreicht 172 Prozent des EU-Durchschnitts, die anderen Regionen nur 67 Prozent.

[7] Pick, M.: Stát blahobytu, nebo kapitalismus? S. 72.

[8] Vgl. Auch Bureš, J. a kol.: Česká demokracie po roce 1989. Institucionální základy českého politického systému, S. 468-469.

[9] Der heutige Finanzminister Andrej Babiš gehört zu den reichsten „Tschechen“ (er ist eigentlich Slowake), seine Firma Agrofert zählt zu den Giganten der Landwirtschaft. Seine Bewegung ANO („Ja“) hätte fast die Wahlen 2013 gewonnen und hat momentan den höchsten Zuspruch.

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