Systemwechsel
Ungarn erlebte Ende der 1980er Jahre einen Systemwechsel. Schon ab 1985 hatte sich die Führungsebene von Partei und Regierung für einen Pfad der Liberalisierung und die Aufgabe des bestehenden politischen Systems entschieden. Die bürgerlich-demokratische Opposition wurde aktiver, organisierte sich zunehmend und gewann an Einfluss, ab 1987 konnte sie sogar öffentlich auftreten. Treffen wurden abgehalten, Publikationen herausgebracht und viele Menschen schlossen sich der oppositionellen Bewegung an. Schließlich gewann sie so viel Einfluss, dass der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) 1989 eine „Übereinkunft über einen nationalen runden Tisch” (NRA) abgerungen werden konnte. Die regierenden Sozialisten kamen zu dem Schluss, dass sie nur überleben könnten, wenn sie die Macht teilen würden. Die Übereinkunft sah vor, dass niemand wegen seiner kommunistischen Vergangenheit bestraft werden sollte. Ebenso sollte niemand enteignet oder vom politischen Leben ausgeschlossen werden. Zudem sollten, das bestimmte der zweite Teil, ohne Restriktionen Parteien gegründet und „freie Wahlen“ abgehalten werden. So gründeten sich von 1988 bis 1989 viele Parteien und 1990 konnten schließlich entsprechende Wahlen in Ungarn stattfinden.
Der politische Wandel in den Mittel- und Osteuropäischen (CEE) Ländern verdankte sich einer Kombination verschiedener Faktoren: Das System des Staatssozialismus wurde von einer Krise erfasst; politische und ökonomische Krisen verstärkten sich wechselseitig; die Reserven der Planwirtschaft waren erschöpft. Schon seit den 1970er Jahren war der Unterschied zwischen West und Ost – vor allem in Sachen Lebensstandard und -qualität – zunehmend sichtbar geworden. Dies führte zur Erosion, manchmal sogar zum Zusammenbruch staatsozialistischer Systeme. Auch andere Faktoren trugen zu den inneren Unzulänglichkeiten des Systems bei. Zu nennen wären hier der Kalte Krieg, die Rüstungslasten und militärischen Unternehmungen der Sowjetunion (Afghanistan), die Erschöpfung ihrer Ressourcen, der Fall des Ölpreises in den 1980er Jahren. Der Systemwechsel verlief in allen CEE-Ländern etwa nach dem gleichen Muster: Die Auflösung der Ein-Parteien-Systeme, eine zunehmende Dominanz von Privat- gegenüber Staatseigentum, die Öffnung zum Weltmarkt und die Schaffung wettbewerbsorientierter Märkte mit entsprechenden Einrichtungen (Konzerne, Banken und Börsen).
Nach dem Ende des Kalten Krieges sahen sich die Menschen der postsozialistischen Staaten plötzlich mit dem Phänomen der Globalisierung konfrontiert. Westeuropäische Unternehmen drängten auf die Märkte der CEE-Länder und trugen zum Entstehen eines Raubtierkapitalismus bei. Die schwachen antikapitalistischen Kräfte konnten diesem Prozess wenig Widerstand entgegensetzen. Zur gleichen Zeit wurde die Vorbereitung zur EU-Integration durchgesetzt. Da nimmt es nicht wunder, dass viele Menschen die Globalisierung als Überfall und die Integration als Diktat, als Kolonisierung empfanden, oder im besten Fall als Austausch der Sowjetunion durch die Europäische Union. Heute betrachten sich viele Menschen als Opfer der Entwicklung.
Der Zerfall des Staatssozialismus in den CEE-Ländern hinterließ ein ideologisches Vakuum. In diese Lücke stieß vielerorts ein brandgefährlicher Mix aus antisemitischem, antiziganistischem Rassismus und nationalistischen Vorurteilen. Hinzu kamen ein militanter Antikommunismus, revisionistische Zielsetzungen und ein rachedurstiger, antisowjetischer Fundamentalismus. Der aktuelle Vormarsch des Rechtsextremismus ist untrennbar mit der Krise des „Neuen Kapitalismus” in den CEE-Ländern verbunden. Unter dem Banner von „freedom and democracy” marschieren ungestört neonazistische Gruppen und Parteien. Der Neofaschismus wird dabei von heimischen und ausländischen kapitalistischen Gruppen und Individuen finanziert und von Repräsentanten lokaler Mächte unterstützt.
Die nationalistischen Staatskonzepte der neuen Machteliten in den CEE-Ländern werden immer extremer: Je mehr sich Vorstellungen und Praxis unabhängiger Nationalstaaten mit faschistischen, antikommunistischen Traditionen verbinden, desto mehr tendieren sie zu Formen des Nationalfaschismus. In dieser Beziehung sind die Ukraine, die baltischen Staaten, Ungarn und Kroatien die erschreckendsten Beispiele, also überall dort, wo Nazi-Kollaborateure während des zweiten Weltkrieges eine besondere Rolle gespielt hatten (z.B. die Glorifizierung des Ulmanis-Regimes in Lettland).
Elitengeführte Transformation
Über die Rolle der Eliten im Transformationsprozess schreibt Tökés: „Ungarns institutioneller Übergang und sozioökonomische Transformation waren interaktive Bestandteile eines eliten-geführten Langzeitprozesses institutioneller Anpassung, ökonomischer Modernisierung, sozialer Differenzierung und eines Wertewandels. Der Strasse vom institutionellen Protopluralismus zur parlamentarischen Demokratie, vom Mix aus erster und zweiter Ökonomie zur Marktwirtschaft, von neuer ‘Mittelschicht’ zur Zivilgesellschaft, also vom ‚Homo Kadaricus’ aus der ‚lustigsten Baracke’ zum frustrierten Kaufhausbummler der ‚traurigsten Einkaufsmeile’ ist in Ungarn immer noch im Bau. Politische Veränderungen wurden in den letzten 45 Jahren von kathartischen Ereignissen ausgelöst, wie der Revolution/Konterrevolution von 1956, strategischen Entscheidungen der politischen Führung wie der Einführung des Neuen Ökonomischen Mechanismus (NÖM) 1968 und von politischen Bündnissen wie dem NRA von 1989. In jedem Fall suchten die Eliten durch politische Vereinbarungen und neue legitimatorische Prinzipien einen neuen modus vivendi zwischen Regime und Öffentlichkeit zu erreichen. In jedem Fall ging es um eine institutionell abgesicherte Flucht vor der Vergangenheit, um Versuche, ein verändertes wirtschaftliches Gleichgewicht zu erreichen, die Gesellschaft neu zu formen und systemische Stabilität wiederherzustellen.“ (Tökés, in: Braun/Barany 1999, S. 126/127)
Der wichtigste Grund für den Systemwechsel war die Tatsache, dass die Modernisierung des staatssozialistischen Experiments an sozialem Rückhalt eingebüßt hatte und dass nach dem Aufschwung in den 1960er Jahren kein eigenständiger Weg eingeschlagen wurde, der den Möglichkeiten des Landes angepasst war. Im letzten Jahrzehnt des sozialistischen Systems zeigten die ökonomischen Kennziffern deutlich, dass sich die Lage verschlechterte; ab 1978 geriet Ungarn in die Schuldenfalle. Die letzte Dekade war in jeder Hinsicht ungünstiger als alle vorherigen, Investitionsquoten und Realeinkommen gingen zurück. Die ungünstige Wirtschaftsentwicklung untergrub die Legitimität des sozialistischen Systems. Es war dem Untergang geweiht, um – nicht zum ersten Mal – erneut den ersehnten Anschluss an die Entwicklung anderer Länder zu versuchen.
Der ambitionierteste Versuch, die zentral geplante Wirtschaft Ungarns zu reformieren, war die Einführung der Neuen Ökonomischen Mechanismen (NÖM) 1968. Durch die Aufgabe verbindlicher Planziele wurde bei unveränderten Eigentumsverhältnissen ein gewisser Grad von Dezentralisation erreicht. Die Periode wurde charakterisiert durch den Übergang zu selbständiger Landwirtschaft im Hofland und die Verbreitung intensivierter Landwirtschaft. In der Wirtschaftspolitik legte man besonderen Wert auf den Ausbau der Infrastruktur; die Handelsbeziehungen mit dem Westen nahmen rasch zu.
Die „zweite Welle” der Reformen in den 1980ern begannen in einem anderen weltwirtschaftlichen Umfeld, vor allem im Rahmen des Kampfes gegen Auslandsschulden. Wegen der hohen Energieabhängigkeit und der Verschuldung stand Ungarns Wirtschaft 1981 kurz vor dem Zusammenbruch. Um den Bankrott abzuwenden, wurde auf höchster politischer Ebene die Idee geboren, dem Internationalen Währungsfond und der Weltbank beizutreten; alsbald gab es auch grünes Licht von der Führung der USAP. Ungarn erhielt Beihilfe durch den IWF und Kredite der Weltbank, um zu überleben. Die Zahlungsbilanzkrise und der Anschluss an den IWF im Mai 1982 fielen mit den ersten größeren Veränderungen dieser Periode zusammen: dem Aufbau kleinerer Unternehmen und der Dezentralisierung großer Staatsbetriebe.
1987 band der IWF die Verlängerung der Kredite an harte Konditionalitäten. Dabei sollten direkte staatliche Eingriffe in die Ökonomie gestoppt und das Land privaten Märkten geöffnet werden, so dass wirtschaftliche Ressourcen effizienter eingesetzt würden. Im Geiste des „Washington Consensus” schlugen IWF und Weltbank Maßnahmen zur Dezentralisation, Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung vor.
Mit der Einführung eines Trennbankensystems, der Erneuerung der Steuergesetzgebung, mit der Vorbereitung radikaler Liberalisierung, Deregulierung und der Verwandlung von Staatseigentum in Aktiengesellschaften begann eine neue Phase der Reformen. Diese Veränderungen führten zu einer „sozialistischen Marktwirtschaft” noch vor dem politischen Zusammenbruch, so dass – abgesehen vom Eigentum – marktwirtschaftliche Institutionen in fast allen Bereichen etabliert wurden.
Indem Ungarn 1989 die Grenze zu Österreich öffnete und tausenden Ostdeutschen die Ausreise in den Westen ermöglichte, beschleunigte es den Kollaps des Staatssozialismus in den CEE-Ländern. Wenige Monate später fiel die Berliner Mauer.
Angesichts der mannigfachen internen sozioökonomischen, psychologischen, externen (größtenteils wirtschaftlichen) Hemmnisse verwundert es nicht, dass von einer schnellen Implementierung der ungarischen „Neuen Demokratie” in Form einer dreigleisigen Strategie von Demokratisierung, Marktwirtschaft und Einführung von Rechtsstaatlichkeit in den 1990er Jahren nicht die Rede sein konnte. Statt „perfekter Demokratie“, einer flexiblen Marktwirtschaft und funktionierenden Zivilgesellschaft mussten bis auf weiteres Lösungen zweiter Wahl herhalten. Das Missverhältnis zwischen dem institutionellen Erbe der Kadar-Ära und der neuen politischen Architektur, zwischen wirtschaftlicher Fehlentwicklung und Marktzwängen, zwischen moralischem Verfall und ziviler Redlichkeit konnte bis jetzt nicht überwunden werden – und wird es auf absehbare Zeit auch nicht. Insgesamt aber scheint das Glas mehr als halb voll: Institutionelle Veränderungen können nicht mehr rückgängig gemacht werden, die Privatwirtschaft hat Wurzeln geschlagen und wird dominieren, und die Menschen haben genug von ungeeigneten Politikern und unbeholfener Politik. Heute ist Ungarn das halb-fertige Haus zehn Millionen unzufriedener, desillusionierter Bürger.
Der Grund dafür, dass sich unter den Verlierern des Systemwechsels bis jetzt kein politischer Widerstand geregt hat, liegt im Erbe des Staatssozialismus. Im Gegensatz zu den Ländern des europäischen Südens konnten große Bevölkerungsteile der CEE-Region private Ressourcen mobilisieren, um harte Zeiten durchzustehen. Dies mag dazu beigetragen haben, die Risiken gewalttätigen und zerstörerischen sozialen Widerstandes gegen die ökonomischen Probleme im Osten zu minimieren. Eine andere Hypothek der sozialistischen Vergangenheit ist die Schwäche der Zivilgesellschaft. Durch den atomisierenden Effekt des Sozialismus zogen sich Bürger ins Private zurück und flohen in die „second economy”, anstatt kollektive Maßnahmen zu ergreifen. Als wichtiges Mittel, seinem Ärger Luft zu machen, erwies sich in den postsozialistischen Staaten die Protestwahl.
Früh setzte eine Ausdifferenzierung der politischen Parteien in Ungarn ein. Diejenigen Parteien, die es bei den ersten Wahlen 1990 ins Parlament schafften, bildeten drei Blöcke: die Konservativen, die Liberalen und die Sozialisten. 1990 bildete eine übergroße Koalition der Konservativen Parteien eine Regierung, geführt von Premierminister Jozsef Antall, die wichtige ökonomische Reformen einleitete.
Radikale Privatisierung, hohe soziale Kosten
Die frühe Transformation in Ungarn wird gemeinhin als schrittweiser Prozess charakterisiert. In Bezug auf die makroökonomische Stabilisierung mag das zutreffen, doch es erweist sich als falsch für den wirtschaftlichen Übergang im Ganzen. Die Antall-Regierung implementierte ein radikales marktwirtschaftliches Programm, wobei die Konkurrenz die Unternehmen zwang, sich ohne Übergang dem verändernden wirtschaftlichen Umfeld anzupassen. Innerhalb von vier Jahren war fast die Hälfte der Unternehmen im privaten Sektor organisiert. 1998 zog Ungarn fast die Hälfte aller ausländischen Direktinvestitionen der CEE-Länder an sich.
Trotz der Bemühungen der konservativen Regierung, negative wirtschaftliche Folgen der Transformation abzufedern, musste sie 1994 eine herbe Niederlage einstecken. Viele Protest- und Wechselwähler verwandelten den ehemals großen „Bund Freier Demokraten“ (MDF) zur Kleinpartei. Die sozialistische MSZP hingegen wurde von einer kleinen zu einer großen Partei und gewann die Parlamentswahlen. Die sozialistisch-liberale Koalition erhielt weitere finanzielle Hilfen von IWF und Weltbank, um die um sich greifenden katastrophischen Folgen von Liberalisierung und Privatisierung in den Griff zu bekommen und führte ein Stabilisierungs-Paket ein (das berüchtigte „Bokros Paket”). Das Horn-Kabinett setzte aber die Privatisierungspolitik der Vorgänger-Regierung fort und verkaufte das ungarische Handels- und Kreditbankensystem an ausländische, zumeist österreichische, Banken. Das „Bokros Paket“ sollte Ungarn vor dem finanziellen Kollaps retten und seine Ökonomie stabilisieren. Das Paket enthielt einige unüberlegte und in vielen Fällen unnötige Maßnahmen, welche die Bevölkerung wie ein Schock trafen. Mit diesen drakonischen Maßnahmen war aber auch für ein Jahrzehnt keine weitere IWF-Hilfe mehr nötig.
1998 verlor die MSZP die Wahl. Wieder hatten die Bürger sich auf die Protestwahl besonnen, da der Lohnzuwachs immer noch hinter dem wirtschaftlichen Wachstum hinterherhinkte und eine große Anzahl an Wählern keine Mehrung ihres Wohlstandes erfahren hatte. Ein anderer Grund für die Wahlniederlage der Sozialisten lag in dem Versprechen der rechtslastigen Fidesz, das Wirtschaftswachstum auf acht Prozent zu beschleunigen, gegenüber den lediglich fünf Prozent der Sozialisten.
Die Orban-Regierung wechselte mit einer Rhetorik des wirtschaftlichen Nationalismus den Fokus der Wirtschaftspolitik und betonte die Bedeutung des heimischen, ungarischen Unternehmertums. In der zweiten Hälfte der Legislatur, während einer internationalen Rezession, experimentierte die Regierung mit Maßnahmen zur Steigerung der Binnennachfrage, um eine relativ hohe Rate des Wirtschaftswachstums aufrechtzuerhalten: Sie verdoppelte den Mindestlohn, führte ein Wohnungsbauprogramm ein und entwarf ein Kreditprogramm für klein- und mittelständische Unternehmen mit subventionierten Krediten. Dennoch verlor die Fidesz 2002 die Wahl und wurde durch eine sozialistisch-liberale Regierung ersetzt.
Nach einer schmutzigen Wahlkampagne, welche die Glaubwürdigkeit der MSZP in Frage stellte, sah sich die sozialistische Medgyessy-Regierung gezwungen, ihre Wahlversprechen einzuhalten. Als Resultat stiegen die Reallöhne in Ungarn 2002/2003 um ca. 22 Prozent, während die Leistungsbilanz und Staatshaushalt große Defizite aufwiesen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft brach ein und die ausländischen Direktinvestitionen verlangsamten sich. Hektische Veränderungen beim Wechselkurs des Forint und Konflikte um den wirtschaftspolitischen Kurs zwischen Nationalbank und Finanzministerium vergrößerten die Unsicherheit. So musste die Medgyessy-Regierung unpopuläre Maßnahmen ergreifen, um die Wirtschaftspolitik an wirtschaftliche Zwänge anzupassen. Die Regierung musste das Staatsdefizit vermindern, den Anstieg der Löhne bremsen, den Wechselkurs des Forint auf einem für die Exportindustrie günstigen Niveau stabilisieren, die Privatisierung vorantreiben und neue Anreize für ausländische Investoren schaffen, sowie den Umbau der Sozialsysteme in Angriff nehmen.
Der Übergang war innerhalb von 15 Jahren geschafft und Ungarn wurde zu einer exportorientierten, von Auslandsinvestitionen abhängigen, offenen Wirtschaft. Das Land durchstand eine tiefe Transformation und eine damit einhergehende strukturelle Krise mit hohen sozialen Kosten. Der Übergang ging mit völlig überflüssigen sozialen Opfern einher, die der Großteil der Bevölkerung zu tragen hatte. Trotz dieser Belastungen gelang der wirtschaftliche Aufholprozess nicht. Es gelang nicht, zur Entwicklung in Westeuropa aufzuschließen; weder wurden die Lebensbedingungen nachhaltig verbessert noch die großen Einkommens- und Reichtumsunterschiede verringert. Auch die wirtschaftliche Entwicklung unterprivilegierter Regionen wurde nicht in Angriff genommen.
Die Konsequenzen des Systemwandels: 1,5 Millionen Arbeitslose, Rückgang des BIP um 20 Prozent, totale Öffnung für den internationalen Markt, für Güter und Kapital aus dem Westen, eine zerstörte industrielle und landwirtschaftliche Struktur, ein Verlust an nationalem Reichtum, der wahrscheinlich höher war als im Zweiten Weltkrieg, und eine hohe Abhängigkeit von ausländischem Kapital. Der Übergang bedeutete für Millionen von Menschen Jahrzehnte eines Lebens der Arbeit für Niedriglöhne und Leiden unter Problemen einer im Wandel begriffenen Wirtschaft, ohne dass dies einen Weg zu einem besseren Leben geebnet hätte.
„Außenmodell“ des Systemwechsels
Die CEE-Region stellt eine nach oben hin mobile Formation dar, die zu den europäischen Kernländern hinstrebt. In den CEE-Ländern, besonders in Ungarn (wenig später auch in der Tschechischen Republik, der Slovakei, Polen und den baltischen Staaten) „wurde der Kapitalismus von außen aufgebaut”, wobei dem Auslandskapital und den multinationalen Konzernen eine entscheidende Rolle zufiel. Ungarn als Musterschüler in den Jahren des Systemwandels hatte seine führende Rolle unter den CEE-Ländern eingebüßt. Ungarn erlebte eine doppelte Marginalisierung: Sowohl in der EU als auch in der CEE-Region fiel das Land zurück.
Das „Außenmodel” des Systemwechsels wurde durch eine neue politische Klasse implementiert, die im Besitz des Gewaltmonopols war: Der Wechsel wurde von den Staaten typischerweise top-down vollzogen, sein wirklicher sozio-ökonomischer Inhalt wurde in nationale und ethnische Formen gekleidet.
In Ungarn war der Systemwandel mit dem Sieg der „so genannten Kadar-Technokraten” verbunden, die deshalb als dominierende Kräfte innerhalb der Eliten wirken konnten, weil sie eng mit den Superstrukturen des globalen Kapitalismus (IWF, WTO, Weltbank, Rating-Agenturen, etc.) verbunden waren. 1989 konnten sie an ihre alten Beziehungen zum Westen anknüpfen. Das Konzept einer zentraleuropäischen Region bereitete in den 1980ern die Westorientierung Ungarns vor. Das Ausland machte vor, wie die Modernisierungs-Strategie auszusehen hatte: Entstaatlichung, Deregulierung, Privatisierung, Monetarismus, ganze Serien von sozialen, ökonomischen und politischen Akten, die auf dem neuen Individualismus basierten. Heute ist dem Großteil der Ungarn bewusst, dass die Gesellschaft durch importierte Ideen und Institutionen weder stimuliert werden kann, noch in die Lage versetzt wird, zum Westen aufzuschließen. Eine erfolgreiche Modernisierung manifestiert sich in einer ökonomischen und sozialen Struktur, die auf den Möglichkeiten des Landes beruht und die fähig ist, angesichts sich wandelnder externer und interner Umstände zu operieren und eine soziale Struktur hervorzubringen, die als Basis eines – in all seinen Komponenten – weitergehenden Modernisierungsprozesses dienen kann.
Tatsächlich aber ist historisch gesehen, basierend auf BIP und BSP-Berechnungen, die Wirtschaftsleistung Ungarns seit den 1860er Jahren im Vergleich zu anderen Ländern relativ konstant geblieben: Ungarn erreicht um die 60 Prozent der Wirtschaftsleistung des europäischen Zentrums, bei Abweichungen von vier bis sechs Prozent (ohne Berücksichtigung zyklischer Schwankungen und bei Gewichtung der Vergleichsräume). Wenn wir die Wirtschaftsleistung zu Beginn des 21. Jahrhunderts betrachten und sie mit derjenigen der EU-15 vergleichen (vor 2004), stand Ungarn bei 57-58 Prozent (das goldene Zeitalter der ungarischen Wirtschaft lag zwischen 1997 und 2001, als das BIP im Mittel um 4,6 Prozent zunahm. Dieses Wachstum verringerte sich signifikant zwischen 2002 und 2007, um dann in eine offene Krise überzugehen). Wenn wir Ungarns Leistung von 2006 mit der der EU-27 vergleichen, kommen wir auf 63 Prozent.
Ungarn als Teil der weltwirtschaftlichen Semi-Peripherie
Ungarns Wirtschaft blieb im Mittelfeld und hat es seit 1979 nicht geschafft, einer Situation zu entkommen, in der nach einer Periode des Aufstiegs wieder ein Rückfall eintritt, mit Ungleichgewichten, Haushaltsdefiziten und wachsender In- und Auslandsverschuldung. Es folgten tiefe Rezessionen und damit verbundene Krisen. Dies erklärt sich aus Ungarns Zugehörigkeit zur weltwirtschaftlichen Semi-Peripherie. Das Problem der relativen Zurückgebliebenheit und des semi-peripheren Status hängt nicht mit der jeweiligen Regierung oder mit der Wirtschaftspolitik zusammen, es ist meistens nicht einmal durch innere soziale Strukturen bestimmt. Die semi-peripheren CEE-Länder befinden sich in einer mittleren Position auf dem Weltmarkt, sie stehen zwischen Zentrum und Peripherie. Sie können jedoch nicht einfach aus dieser Weltökonomie ausscheren, sie können nicht „draußen“ bleiben. In dutzenden Ländern scheiterten entsprechende historische Versuche; dies gilt auch für die Sowjetunion. Das Problem der CEE-Länder ist nur der Grad an Offenheit. Aber es geht nicht nur um die Offenheit der Märkte; es gibt auch neue, aufstrebende Konkurrenten, die oft mehr Kapitalkraft haben als die ganze ungarische Wirtschaft. Der neue Kapitalismus in Ungarn ist sehr offen. Er muss Verluste hinnehmen, die sich aus seiner semi-peripheren Stellung ergeben – dies gilt vor allem für die Austausch-Beziehungen im Handel. Denn die wichtigsten Handelspartner von vor 1989 (vor allem die Sowjetunion und die sozialistischen Länder) wurden durch die europäischen Kernländer und in erster Linie Deutschland ersetzt.
Das Problem der heutigen Gesellschaft in Ungarn besteht darin, dass das neue System nicht grundlegend leistungsfähiger sein kann. Das neue kapitalistische System kann den gordischen Knoten nicht durchschlagen, den der Verlust von einer Millionen arbeitsfähiger Menschen bedeutet (verglichen mit einer aktiven Bevölkerung von 4,8 Millionen vor 1989). Durch die Veränderungen in den Klassenbeziehungen ist die heimische industrielle Reservearmee enorm gewachsen. Das chronisch niedrige Beschäftigungsniveau besteht im Wesentlichen schon seit 1993. Vielen Bedürftigen stehen relativ wenige Steuerzahler gegenüber (die Steuergrundlage ist nicht ausreichend), so dass die Umverteilung der Kosten sich als sehr schwierig erweist. In der Folge sind die Steuern hoch und die Bereitschaft, zu sparen oder zu investieren, ist niedrig. Die wirtschaftliche Gesamtleistung des neuen ungarischen Kapitalismus ist ungefähr gleich der des Staatssozialismus, doch die Ressourcen und die Einkommen sind sehr viel stärker polarisiert. Einige hunderttausend Menschen sind außerordentlich wohlhabend, sie haben im Vergleich zum europäischen Zentrum aufgeholt, während vier Millionen Menschen, 40 Prozent der Bevölkerung, unterhalb der Armutsgrenze leben. In den letzten 25 Jahren tauchen immer mehr völlig desintegrierte Unterklassen-Gruppen auf, darunter insbesondere ein hoher Anteil von Roma, die sich unter ständigem Druck der Sozialhilfe befinden. Dadurch wird die Tragfähigkeit der Öffentlichen Hand stärker beansprucht, als sie durch die Privatisierung öffentlichen Eigentums, durch ursprüngliche Einkommenstransfers und Rückerstattungen gestärkt worden war.
Die Folgen der ökonomischen Krise in Ungarn
Ungarn zählt zu den größten Verlierern der derzeitigen Krise. Nach 1989 hatten ausländische Direktinvestitionen eine wichtige Rolle bei der Erneuerung der ungarischen Industrie und der Entstehung neuer industrieller Räume gespielt. Die Wirtschaftskrise traf Ungarn – und gerade die globalisierte, export-orientierte Industrie – sehr massiv. Vor allem jene Branchen der lokalen Wirtschaft litten am meisten, die eng in die globale Wirtschaft eingebunden sind (Automobil-Industrie und Elektronik). Diese Auswirkungen waren besonders in den nördlichen transdanubischen Regionen zu spüren, die als Kernregionen dieser Industriezweige und damit der Krise zu bezeichnen sind. Darüber hinaus brachte die Krise die räumliche Dichotomie der ungarischen Industrie ans Licht und trug dazu bei – wenn auch nur zeitweise – die regionalen Unterschiede abzumildern. Das neue, semi-post-fordistische Muster der ungarischen Industrie wurde jedoch keineswegs reorganisiert. Der starke Einbruch des BIP 2009 war eng mit dem Niedergang der Bauwirtschaft und dem Abschwung am Häusermarkt verbunden.
Ende 2008 und Anfang 2009 wurde die Ungarische Währung gegenüber dem Schweizer Franken um 15 und gegenüber dem Euro um 17 Prozent abgewertet, was zu Insolvenzen und einer Kreditkrise führte. Die Verschuldung der privaten Haushalte in fremder Währung stieg an. In der Folge verschlechterte sich die Situation der Haushalte, die Einkommens- und Ausgabenverhältnisse veränderten sich. Die soziale Zusammensetzung nach Einkommen und finanzieller Situation wurde stärker polarisiert, die Schere zwischen den Reichsten und Ärmsten öffnete sich, die Qualität des Lebens in den Städten verschlechterte sich.
Die Krise in Ungarn hat uns klar die schwache Wettbewerbsfähigkeit seiner heutigen Wirtschaft vor Augen geführt, ebenso den Mangel an Ressourcen, die zu geringe Größe des heimischen Marktes, die ungünstigen demographischen Trends sowie die quantitativen und strukturellen Probleme des Arbeitskräftepotentials.
Aktuelle Entwicklungen (2010-2014)
2010 wählte Ungarn die Fidesz-Partei und ihren Vorsitzenden Viktor Orban an die Macht. Seitdem hat die Regierung eine Reihe unorthodoxer Wirtschaftsreformen eingeleitet, die Kritik von Ökonomen und Finanzanalysten auf sich zog. Um die öffentliche Schuldenlast abzubauen, wurden Sozialleistungen gestrichen und private Pensionsfonds nationalisiert. Orban führte die in Europa höchsten Steuersätze für Banken und Finanzunternehmen ein und belastete besonders Firmen aus Energie, Einzelhandel und dem Telekommunikationssektor. Die auf 27 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer ist die höchste in der ganzen EU. Zusätzlich kündigte Orban die Absicht an, die Wechselkurse für private Schulden an den Schweizer Franken zu binden. Zu den unorthodoxen Maßnahmen zählen auch die Einmischung in die Unabhängigkeit der Zentralbank, die Nationalisierung der Anlagen privater Pensionen in Höhe von 14 Mrd. US $ und die Erhöhung des Mindestlohns um 18 Prozent. Vor den Parlamentswahlen 2014 führte die Orban-Regierung wieder soziale Elemente ein, unter anderem startete sie den „Zuschlags-Kampf”, der Anbieter von Gas, Elektrizität und Wasser dazu zwang, ihre Preise in zwei Schritten um insgesamt 20 Prozent zu senken: 10 Prozent im Januar und 10 Prozent im Oktober 2013.
Nach vier Jahren Fidesz an der Macht hat Ungarn 2014 nicht einmal die Wirtschaftsleistung von vor der Krise erreicht. Die ‚Kohäsion’ im Rahmen der EU kommt auch nicht weiter voran: 2009 erreichte Ungarn gerade zwei Drittel der durchschnittlichen Kaufkraftparität der EU, und die Kluft wächst mit jedem Jahr. Nach vier Jahren unorthodoxer Maßnahmen ist das Wirtschaftswachstum von drei Prozent auf 0 bis 1 Prozent abgesunken.
Allerdings deuten jüngste Statistiken darauf hin, dass die ungarische Wirtschaft endlich aus dem negativen ‘Wachstum’ herausgekommen sein könnte. Im ersten Quartal 2014 lag das BIP um 3,5 Prozent über dem Vorjahresstand. Nach den ersten Veröffentlichungen von Eurostat wuchs das BIP der EU-28 im gleichen Zeitraum nur um 0,3 Prozent, das Deutschlands um 0,8 Prozent.
Trotz BIP-Wachstums warnt der jüngste IWF-Report die Orban-Regierung: „Ausgehend von der momentanen Wirtschaftspolitik bleiben die mittelfristigen Wachstumserwartungen – auch wenn sie sich leicht verbessern – weit hinter denen von Ungarns Nachbarn zurück. Während der Schuldenabbau im privaten Sektor wie geplant mittelfristig voran gehen sollte, behindern die schlecht einzuschätzende Politik und die andauernden Staatsinterventionen private Investitionen. Zur gleichen Zeit wird die Situation am Arbeitsmarkt – wenn sie sich auch leicht verbessert – durch eine niedrige Erwerbsquote, schwache Arbeitsproduktivität und fehlende Qualifizierung beeinträchtigt. Auch wenn Prognosen mit hoher Unsicherheit belastet sind, legen sie nahe, dass sich bei Beibehaltung der momentanen Politik das Wachstum nur leicht von Null (2013) auf 0,9 bis 1,7 Prozent bis 2019 erhöhen wird.” In Bezug auf die staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vertritt der IWF die Auffassung, dass diese zu teuer seien, ein eher traditionelles Sozialprogramm vorstellten und ineffizient seien, weil sie keinen Schwerpunkt auf Weiterbildung legten. Nur 13 Prozent der Teilnehmer schafften den Übergang zum Arbeitsmarkt.
Bei den Parlamentswahlen am 6. April 2014 bestätigten die Wähler die neue Wirtschaftspolitik der Orban-Regierung, als deren Ziel angegeben wird, eine Ökonomie auf der Grundlage von „Arbeit statt Spekulation” aufzubauen. Orban versprach die Fortführung seiner Strategie, die Industrialisierung voranzutreiben, die Energiepreise niedrig zu halten und – besonders kontrovers – den Anteil ungarischen Besitzes in der Agrarwirtschaft und im Bankensektor zu erhöhen. Orban und Ungarns Zentralbankchef György Matolcsy wüßten gerne mehr als 50 Prozent des Bankvermögens im Besitz ungarischer Institutionen; die Quote liegt gegenwärtig bei 42 Prozent. Zusätzlich wurde die Steuerbelastung für mehrheitlich von ausländischen Eignern dominierte Wirtschaftszweige erhöht. Das erklärte Ziel: Multinationale Konzerne sollten keinen „illegalen Profit” erwirtschaften. „Ungarn und das ungarische Land gehört dem ungarischen Volk.” Kritiker aus Ungarn bemängeln, dass die Reformen der Fidesz lokale Unternehmen begünstigen, die der Partei nahe stehen. Liberale werfen ihm dagegen vor, sozialistische Maßnahmen einzuführen. Auf Ungarns Währung lastet indes seit den letzten Monaten ein enormer Druck, da die internationalen Investoren sich aus den „emerging markets“ zurückziehen. Ungarn wird somit zu den „wackeligen Sechs” gezählt, Schwellenländern, die für Kapitalflucht besonders anfällig sind.
Das Hauptproblem, dem wir uns heute ausgesetzt sehen – als Resultat eines dysfunktionalen Wirtschaftsmodells – ist die ausweglose Situation, in die der größte Teil Europas, und damit auch Ungarn, geraten ist. Unglücklicherweise sitzen viele Entscheider aus der Politik immer noch dem Irrtum auf, dass die Kombination von ausländischem Kapital und niedrigen Lohnkosten eine Möglichkeit darstelle, zu den Kernländern „aufzuschließen”. Es ist gleichermaßen ein großes Problem, dass beide großen ungarischen Parteien – bei geringfügigen Differenzen – dieser irrigen Wirtschaftstheorie anhängen. Neoliberale Wirtschaftspolitik wird von rechts – von Fidesz – mit völkischen Elementen verbrämt, bei der MSZP auf der anderen Seite verbindet sie sich mit einer unkritischen Anbiederung an die EU. Ohne Frage könnte dem Kapital eine konstruktive Rolle zufallen, doch es hat schon die Grenzen überschritten und eine sozial unerträgliche Situation geschaffen. Zusätzlich zu den traditionellen Aushandlungsprozessen und Kämpfen zwischen den Antagonisten Kapital und Arbeit spielt heute das Wissen eine Rolle als dritter Faktor im Produktionsbereich. Die ungarischen Eliten, die in den letzten 25 Jahre am Ruder waren, haben diesen Umbruch ignoriert und so Ungarn zu niedriger Produktivität verdammt. Es wird interessant sein zu beobachten, ob sich die Wirtschaftspolitik der Fidesz auf lange Zeit auszahlen wird. Wenn dem so sein sollte, wäre es interessant zu sehen, wie die Wirtschaftwelt den Erfolg von Maßnahmen bewertet, die darauf abzielen, den Konsum auf Kosten der Binneninvestitionen anzukurbeln.
Literatur
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Peter Rona: Credibility of the country must be restored http://www.fecsego.eu/2012/03/05/rona-vissza-kell-allitani-az-orszag-hitelesseget/
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Übersetzung aus dem Englischen: Alan Ruben van Keeken