Kapitalismus in Osteuropa

Der Osten Europas und die NATO

von Erhard Crome
September 2014

Drei Prozesse kennzeichnen die internationalen Beziehungen in Europa: Erstens: Die Integrationsprozesse im Rahmen der Europäischen Union (EU) setzen sich in die Tiefe und mit der Osterweiterung auch in die Breite fort – das schließt auch die verschiedenen Assoziierungsabkommen, so mit der Ukraine, Georgien und Moldawien ein; zweitens: die Desintegrationsprozesse im postsowjetischen Raum sind, wie der Konflikt um die Ukraine zeigt, nicht beendet und stehen in einem komplizierten Wechselverhältnis zu neuerlichen Integrationsprozessen, etwa in Gestalt der Eurasischen Wirtschaftsunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland; drittens: die Osterweiterung der NATO ist Teil einer von den USA betriebenen Neuordnung der Welt, wobei diese auf differenzierte Interessenlagen der „alten“ NATO-Mitglieder einerseits und der „neuen“ Beitrittsländer andererseits trifft.

Im Westen wird angesichts des Zerfalls der Sowjetunion eine unabhängige Ukraine als Kernpunkt geopolitischer Neuordnung im Osten Europas angesehen. Zbigniew Brzeziński, Vordenker US-amerikanischer Globalstrategie, betonte, eine unabhängige Ukraine sei „geopolitischer Dreh- und Angelpunkt“ dafür, dass Russland in einer geschwächten Position verbleibt. Das müsse fester Bestandteil einer umfassenden Strategie der USA und des Westens in Eurasien sein.[1]

Allerdings hatte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Parag Khanna gemeint, es gäbe in der Welt drei imperiale Zentren: die USA, China und die EU. Die weitere Entwicklung in der Welt hänge davon ab, wie es diesen gelingt, die übrigen Teile der Welt an sich zu binden, sich Einflusszonen zu schaffen und diese dauerhaft zu dominieren.[2] In gewissem Sinne ist diese Feststellung Ausdruck dessen, dass heute weder eine unipolare Welt – mit den USA im Zentrum, wie nach dem Ende des Kalten Krieges viele meinten, – noch eine multipolare Welt, sondern ein „Konzert der Mächte“ existiert, in dem wirtschaftlich, militärisch und politisch starke Zentren um Macht und Einfluss ringen. Hierzu wären auch Russland, Indien, Brasilien und Südafrika zu rechnen, die in ihren Regionen ebenfalls mehr oder weniger nachdrücklich Einfluss ausüben.

Zugleich sind die USA und die EU – mit Deutschland als dem hegemonialen Zentrum der Union[3] – auf der einen Seite Konkurrenten, auf der anderen miteinander „verbündet“, wo sie sich gehalten sehen, Interessen gemeinsam oder zumindest parallel zu verfolgen. So sind die Osterweiterung der NATO und die der EU nicht „zwei Seiten der selben Medaille“, sondern unterschiedliche, voneinander zu unterscheidende Entwicklungen.

Machtpolitische Weichenstellungen

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kam der Ost-West-Konflikt an sein Ende. Michail Gorbatschow und andere, die in Moskau Verantwortung trugen, hatten mit ihrer Friedenspolitik die USA in eine außenpolitische Defensive gebracht, den Rückzug aus Afghanistan und anderen Ländern der Welt sowie einseitige Schritte der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung vollzogen und faktisch den Kalten Krieg beendet. Sie meinten, die systemische Differenz zwischen beiden Gesellschaftssystemen sei die eigentliche Ursache der Spannungen und der Kriegsgefahr gewesen. Das erwies sich als grandioser Irrtum: Die antirussische Grunddisposition des Westens, die noch aus dem 19. Jahrhundert stammt, hatte sieben Jahrzehnte lang eine antisowjetische Gestalt und nahm nun wieder ihre alte Form an.

Die Charta von Paris für ein neues Europa als Erklärung der Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten vom 21. November 1990 wurde als Dokument der Beendigung des Kalten Krieges angesehen. Frieden, eine auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhende Demokratie sowie Marktwirtschaft sollten gemeinsame Grundlage für Europa sein.[4] Der Warschauer Vertrag löste sich auf. Nichts lag näher, als dass die NATO ebenfalls verschwindet. Auch viele Politiker und Politikwissenschaftler im Westen erwarteten dies.

Tatsächlich jedoch wurde bereits mit dem Golfkrieg von 1990, vor Unterzeichnung jener Charta von Paris, anderes deutlich: Die USA unter Präsident Bush I wollten diesen Krieg, um ihre Dominanz in der angestrebten „Neuen Weltordnung“ – das heißt der internationalen Ordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts – durchzusetzen. Den Casus belli führte die US-amerikanische Diplomatie selbst herbei: Saddam Hussein, damals Staatschef des Irak, der nach dem ruinösen Krieg gegen den Iran die irakischen Schulden abbauen wollte, indem er dem Irak das ölreiche Nachbarland Kuweit einverleibte, bestellte die US-Botschafterin und fragte, wie die USA auf eine Annexion Kuweits reagieren würden. Sie antwortete, diese sähen ihre Interessen nicht tangiert, es sei eine „inner-arabische Angelegenheit“ – was Saddam Hussein als Akzeptanz verstand, um anschließend die Botschafterin desavouiert und sich im Konflikt mit der Weltgemeinschaft zu sehen. Allerdings war die völkerrechtliche Sachlage klar: Saddam Hussein hatte ein souveränes Land überfallen, der UNO-Sicherheitsrat sanktionierte den Militäreinsatz.[5] Das unterschied jenen Golfkrieg von den nachfolgenden imperialen Kriegen, die der Westen in den zwei Jahrzehnten nach Ende des Kalten Krieges führte. Entscheidend war jedoch etwas anderes: Während in Europa Freude über das Ende des Kalten Krieges Platz griff, in Deutschland die zweite Vereinigung (nach der von 1871) vollzogen wurde und die Moskauer kommunistische Führung ihr historisches Kapitulieren als großen Erfolg perzipierte, bereitete die US-Regierung eine Neuordnung der Welt vor, zu der an der „Peripherie“ auch regionale Kriege gehörten; die frühere Gegenmacht des Kalten Krieges konnte sie daran nicht mehr hindern. Krieg wurde wieder zu einem „normalen Mittel“ imperialistischer Politik.

Im Zuge des deutschen Vereinigungsprozesses bestanden die USA auf der Einbeziehung des einheitlichen Deutschlands in die NATO. Der Sowjetunion die Zustimmung dazu abzuhandeln, schickte Bush seinen Außenminister Baker nach Moskau, der am 9. Februar 1990 mit Staatschef Gorbatschow und Außenminister Schewardnadse zusammentraf. Die Frage, die Baker stellte, lautete: „Würden Sie ein wiedervereinigtes Deutschland außerhalb der NATO und ohne US-Streitkräfte, dafür aber vielleicht mit eigenen Atomwaffen, lieber sehen? Oder ziehen Sie ein wiedervereinigtes Deutschland vor, das an die NATO-Beschlüsse gebunden ist, während gleichzeitig gewährleistet ist, dass die NATO ihr Territorium um keinen Zentimeter in Richtung Osten ausweitet?“[6] Die USA drohten, ein nicht-kontrolliertes Deutschland könnte zu einer neuerlichen Gefahr für Russland – oder damals noch für die Sowjetunion – werden, hatte dieses doch zweimal im 20. Jahrhundert in seinen Kriegen zur Eroberung Europas Russland überfallen. Dann folgte: Wenn denn nach der deutschen Vereinigung nicht mehr die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges Deutschland kontrollieren – im Februar 1990 wurden die Gespräche begonnen, die zum „2+4“-Vertrag über die abschließende Lösung der deutschen Frage führten –, so wollen dies die USA künftig allein tun. Dies sollte in Gestalt der dauerhaften Einbindung ganz Deutschlands in die NATO erfolgen. Mit anderen Worten: Moskau wurde die NATO offeriert als Konstrukt zur Kontrolle Deutschlands. Wenn diese dauerhaft sein sollte, musste auch die NATO auf Dauer gestellt sein. Im Gegenzug wurde Russland zugesagt, dass es keine weitere Osterweiterung der NATO, über das Territorium der DDR hinaus, geben sollte, „um keinen Zentimeter“, oder in anderer Übersetzung: „dass die NATO ihr Territorium um keinen Daumenbreit Richtung Osten ausweitet“. Die NATO wurde in den Folgejahren dennoch nach Osten ausgeweitet. Gorbatschow sah sich und Russland auch noch in der Rückschau hintergangen: „Washington dachte damals, dass es uns als Konkurrenten nicht mehr gibt und dass es sich alles leisten kann. Die USA waren darauf aus, ein neues Imperium zu errichten.“[7]

Nach dem Kalten Krieg und dem Zerfall der Sowjetunion hätte mit dem Ende des Warschauer Vertrages auch das der NATO historisch auf der Tagesordnung gestanden. Die USA jedoch bestanden auf deren Fortexistenz, ist doch die NATO die einzige, vertraglich fest gefügte Verankerung, die die NATO-Staaten, historisch zunächst Westeuropa, an die USA bindet und umgekehrt diesen die Möglichkeit gibt, direkt, unmittelbar und vertraglich sanktioniert in europäische Angelegenheiten einzugreifen. So war die Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO nicht nur wichtigste Bedingung der USA, der deutschen Vereinigung zuzustimmen, sondern das eigentliche Ziel US-amerikanischer Europapolitik 1989/90, wofür auch die Zustimmung der Sowjetunion erlangt werden sollte. Alle damaligen Äußerungen der US-Administration zur „Viermächte-Verantwortung“ für Deutschland, zur Rolle der KSZE usw. erscheinen aus heutiger Sicht als „taktisch-diplomatische Kunstgriffe zum Erreichen dieses Ziels“.[8] Die Erhaltung, Aufrechterhaltung und Ausweitung der NATO und ihre Suche nach neuen Aufgaben ist also nicht einfach ein organisationssoziologisches Phänomen – dass Organisationen, einmal in die Welt gesetzt, den Drang haben, sich fortzuzeugen und ggf. neue Aufgaben zu suchen, und die sie tragenden Bürokratien gern ihre angestammten Rollen weiterspielen wollen, wie etliche Beobachter unterstellt hatten –, sondern entspringt dem Kern der Deutschland- und Europapolitik der maßgebenden Kräfte der USA und deren Vorstellung von der Rolle Europas bei der Umsetzung dessen, was Gorbatschow „ein neues Imperium zu errichten“ genannt hat.

Strategische Kontinuität

Nach dem Wechsel zu Präsident Barack Obama blieb dies eine Konstante. Daniel Hamilton, Direktor des Center for Transatlantic Relations, Washington D.C., betonte auf einer Konferenz am Beginn der Obama-Administration drei Punkte. Erstens: „Die Verpflichtung der NATO zu einer gemeinsamen Verteidigung ist das Herz der Allianz. Eine NATO, die sich ständig vergrößert, ohne in der Lage zu sein, das erweiterte Gebiet des Paktes zu verteidigen, läuft Gefahr, ein inhaltsleeres Bündnis zu werden.“ Das stellt eine Abkehr von der unter Bush II praktizierten Verfahrensweise dar, „Koalitionen der Willigen“ an die Stelle der NATO-Institutionen zu setzen. Zweitens werden die NATO und die damit verbundene Einbindung der USA in die europäischen Angelegenheiten auch weiterhin als Bedingung für Frieden und Stabilität unterstellt. „Ein Mangel an Vertrauen in die grundlegende Verteidigungsbereitschaft der NATO könnte zudem ein zentrales Element des Bündniszwecks untergraben: nämlich die Rückkehr zu jener Nationalisierung der europäischen Verteidigung und der Sicherheitsgarantien zu verhindern, die Europa in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt hat.“ Abgesehen von der Unterstellung an die Europäer, sie seien unfähig zum Frieden, meint dies, die USA wollen auch weiterhin auf unbegrenzte Zeit in Europa bleiben. Drittens hob Hamilton hervor: „Die NATO muss eine unterstützende Funktion im Rahmen einer sehr viel breiter angelegten Strategie transatlantischer Widerstandsfähigkeit haben, die über die Sicherheit des eigenen Territoriums hinausgeht.“ Das ist der Anspruch, weit über das eigene Territorium hinaus militärische Einsätze in der Welt durchzuführen, die dann mit zivil-militärischen Aktivitäten verbunden werden. „Die Bedrohungen der Bündnissicherheit haben ihren Ursprung nicht unbedingt auf dem Territorium, das durch den Nordatlantikpakt abgedeckt ist. Viele sind nichtmilitärischer und asymmetrischer Natur. [...] Diese Bedrohungslage bedeutet, dass die NATO drei Hauptaufgaben in der Welt hat: Krisenprävention und Krisenintervention […]; Durchführung von Stabilisierungs- und Wiederaufbauoperationen; Verbesserung der eigenen Fähigkeiten, effektiv mit Partnern zusammenzuarbeiten, seien dies Staaten, internationale Regierungsorganisationen oder Nichtregierungsorganisationen.“[9]

Damit wird die NATO nicht nur als militärisch-politisches Bündnis zur Verteidigung seiner Mitglieder, gegen wen auch immer, angesehen, sondern soll Weltpolizei-Aufgaben wahrnehmen, die aus einer diffusen, nicht wirklich spezifizierten Bedrohungsanalyse abgeleitet werden. Die Weichenstellungen dazu erfolgten bereits auf dem NATO-Gipfel in Rom im November 1991, nur wenige Monate nach der Auflösung des Warschauer Vertrages, die am 1. Juli 1991 vereinbart worden war. Anstelle der großen Bedrohung war jetzt die Rede von „Instabilität und Spannungen“, einem „Umfeld von Ungewissheit und unvorhersehbaren Herausforderungen“. Kern des Herangehens war durchgängig die „Umgestaltung des Bündnisses“.[10]

Auf dem NATO-Gipfel aus Anlass des 50. Gründungstages 1999 wurde dies bekräftigt. „Während die Warschauer Vertragsorganisation sich 1991 auflöste, gab sich der westliche Militärpakt eine neue Existenzberechtigung und definierte das sicherheitspolitische Umfeld neu. An die Stelle der ‚Hauptbedrohung der Vergangenheit‘ traten Risiken, die ‚ihrer Natur nach vielgestaltig‘ sind und ‚aus vielen Richtungen‘ kommen, ‚was dazu führt, dass sie schwer vorherzusagen sind‘ (Rom, Ziffer 9). Die Risiken ergaben sich für die NATO ‚weniger aus der Wahrscheinlichkeit eines kalkulierten Angriffs auf das Hoheitsgebiet der Bündnispartner‘, als vielmehr aus ‚Instabilitäten‘, ‚der Verbreitung von [...] Massenvernichtungswaffen und ballistischer Flugkörper‘, dem Vorhandensein großer Militärarsenale, die (wieder) gegen die NATO gerichtet werden könnten oder auch ‚der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen sowie von Terror- und Sabotageakten‘ (Rom, Ziffer 10-13). Regional verortete die NATO bereits 1991 die Risiken in Mittel- und Osteuropa, dem GUS-Raum sowie am südlichen Mittelmeer und im Nahen Osten, betonte aber zugleich: ‚Die Sicherheit des Bündnisses muss jedoch auch den globalen Kontext berücksichtigen.‘ (Rom, Ziffer 13 und wortgleich Washington, Ziffer 24). Schon 1991 war also die Out-of-area-Ausrichtung der NATO und damit die Umorientierung auf Offensivaufgaben beschlossen worden. An dieser Stelle ist hundertprozentige Kontinuität der NATO-Politik zu verzeichnen. Allerdings ist die Liste der Sicherheitsrisiken erweitert worden: Neben dem Risiko ‚des organisierten Verbrechens‘ wird ‚die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte‘ neu angeführt (Washington Ziffer 20). Demnach sieht die NATO ihre Sicherheit durch Flüchtlingsbewegungen beeinträchtigt. Während sich zur Zeit der Kalten Krieges nur der Warschauer Pakt von der NATO bedroht sehen konnte, können heute alle Länder, die die NATO als ‚Risikofaktor‘ eingestuft hat, ins Fadenkreuz geraten. Der Jugoslawien-Krieg war ein erster Anwendungsfall.“[11]

Metamorphosen

Strategisch war die NATO-Osterweiterung stets ein Vorrücken der geostrategischen und militärischen Positionen der USA und des von ihnen dominierten militärisch-politischen Gefüges in Richtung Osten und damit im Kern gegen Russland gerichtet. Aus Sicht der politischen Klassen in Warschau, Prag und Budapest wurde die Aufnahme in die NATO als Rückversicherung gegenüber Moskau und Konsequenz des Systemwechsels angesehen. Aus polnischer Perspektive gab die Aufnahme in die NATO darüber hinaus die Möglichkeit, auch mit dem größeren und wirtschaftlich ungleich stärkeren Deutschland „auf gleicher Augenhöhe“ zu verkehren.[12] Die ursprünglichen westeuropäischen NATO-Partner haben die Erweiterungsprozesse ihrerseits mitgetragen und im Sinne ihrer jeweiligen Interessen zu beeinflussen versucht.

Die erste NATO-Osterweiterung um Polen, Tschechien und Ungarn im Jahre 1999 ging noch davon aus, dass die erreichte Kriegsführungsfähigkeit der Organisation erhalten bleiben sollte. Die Militärorganisation, ihre Institutionen und Strukturen, wie sie sich bis dahin herausgebildet hatten, sollten erhalten bleiben. Dann wurde der Krieg der NATO gegen Jugoslawien (1999) geführt und der Krieg der USA gegen den Irak (2003) angezettelt. Der Jugoslawien-Krieg war – im Unterschied zum zweiten Golfkrieg 1991 – einerseits Probe darauf, einen Angriffskrieg außerhalb der UNO zu führen, sich selbst dazu zu ermächtigen und sich dabei über geltendes Völkerrecht hinwegzusetzen. Daran waren alle damaligen NATO-Staaten beteiligt. Insofern war die Nichtbeteiligung einer Reihe von NATO-Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Belgien, an dem Krieg gegen den Irak Ausdruck einer gewandelten Position dieser Staaten und einer veränderten Konstellation innerhalb der NATO. Andererseits war die NATO 1999 noch im herkömmlichen Sinne als Militärbündnis in Erscheinung getreten: Die anderen Mitgliedsländer redeten mit, und die USA mussten politisch und in der unmittelbaren Kriegsführung auf diese Rücksicht nehmen.

Die Lage hatte sich mit dem Amtsantritt von Bush II und den Folgen der Anschläge auf US-Einrichtungen am 11. September 2001 verändert. Die USA waren bestrebt, global ein von ihnen bestimmtes imperiales Gefüge zu schaffen. Mit dem Krieg gegen den Irak ging es nicht nur darum, das Regime Saddam Husseins zu stürzen, sondern die islamische Welt zu transformieren. Es ging auch nicht nur um Öl, sondern um Geopolitik. Das Scheitern der USA in Irak und Afghanistan verhinderte weitere Kriege dieser Art. Obama hat die regulären US-Truppen aus dem Irak abgezogen. Das dort errichtete Regime sollte sich festigen. Inzwischen scheint auch das zu scheitern. Zerfall des Staates und Vordringen djihadistischer Kräfte sind schließlich die Folgen. Der Afghanistankrieg dagegen wurde fortgesetzt. Hier blieb nur noch Gesichtswahrung als politisches Ziel übrig. Der Abzug der meisten Militärkontingente des Westens rückt näher, die regierungsfeindlichen Kräfte erstarken wieder. Am Ende ist ebenfalls Staatszerfall das Ergebnis.

Die gewandelte NATO

Unter Bush II wurde die NATO von den USA als politisches Bündnis genutzt, wenn die anderen Mitglieder die USA-Politik unterstützen, und sie wurde ignoriert, sofern sich Widerstände auftaten. Eine „Mitsprache“, wie während des Jugoslawien-Krieges, war weder gewollt noch akzeptiert. Die im November 2002 auf dem NATO-Gipfel in Prag beschlossene Erweiterung um weitere sieben Staaten – Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien – ging dann nicht mehr von einer Kriegsführungsfähigkeit der NATO als Militärorganisation in einem herkömmlichen Sinne aus. Vielmehr sollte sie, zusammen mit der Schaffung weltweit einsatzfähiger „NATO-Reaktionskräfte“, zu einer Art „Baukasten“ mutieren, mit dem wie während des Irak-Krieges „Koalitionen der Willigen“ gebildet werden.

Die NATO sollte dabei für die USA die Funktion behalten, Einfluss auf die europäischen Entwicklungen und Staaten zu nehmen. Dies wurde mit dem Beitritt auf weitere osteuropäische Länder ausgedehnt. Über die NATO wird zugleich die Umrüstung und weitere Aufrüstung der Armeen der neuen Mitglieder gesteuert. Dabei werden diese gleichsam von Kunden des Militärisch-Industriellen-Komplexes (MIK) Russlands zu Kunden des MIK der USA und teilweise Westeuropas. Geopolitisch wurde die strategische Landverbindung in Ost-Mittel-Europa zwischen Norwegen und der Türkei ausgebaut. Mit dem Hinweis auf Albanien, Mazedonien und Kroatien wurde bereits in Prag eine dritte Runde der Osterweiterung der NATO angekündigt. Albanien und Kroatien wurden 2009 in die NATO aufgenommen. Der Beitritt Mazedoniens liegt wegen des Namensstreits mit Griechenland auf Eis. Angestrebt wurde von Seiten der Bush II-Administration auch ein Beitritt Georgiens und der Ukraine. Das würde die NATO noch direkter an die Grenze Russlands bringen. Dieser Beitritt liegt nach dem Kaukasus-Krieg von 2008 ebenfalls auf Eis, ist aber weiter Teil des strategischen Kalküls.

Seit dem Prager Gipfel wurde die NATO ein Bündnisgefüge, das stärker politischen Charakter hat. Zugleich wurde sie unter Bush II „militärischer“, nicht im Sinne einer herkömmlichen Landesverteidigung, sondern im Sinne eines Rekrutierungsfeldes für „Koalitionen der Willigen“ der USA. Dabei wurde sie zugleich „pro-amerikanischer“, wie die Unterstützungserklärungen mehrerer ostmitteleuropäischer-, südosteuropäischer und osteuropäischer Regierungen für den Irak-Krieg der USA gezeigt haben, die die US-Regierung gegen die politischen Positionen Deutschlands und Frankreichs zu nutzen versuchte.

Die EU hat sich mit den Verträgen von Maastricht und Amsterdam weiter auf dem Wege der Integration entwickelt. Die Spannungen zwischen der EU und den USA auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet haben mit dem Euro weiter zugenommen, schon deshalb, weil der Euro die Rolle des US-Dollar als Weltreserve-Währung unterminiert. Kurz nach dem Jugoslawien-Krieg beschloss der Europäische Rat, das höchste Organ der EU, den Aufbau einer eigenständigen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Durch den Aufbau militärischer Fähigkeiten sollte die äußere Handlungsfähigkeit der EU erweitert werden. Aus dem Jugoslawien-Krieg wurde gefolgert, die EU sollte bei der Realisation außenpolitischer Interessen nicht auf die militärischen Kapazitäten der USA angewiesen sein. Deshalb wurde beschlossen, eine eigene Eingreiftruppe der EU zu schaffen. Die in Prag beschlossene Bildung von NATO-Reaktionskräften (NATO Response Force) war dagegen geeignet, diese Bemühungen der EU zu konterkarieren und wieder der Kontrolle der USA zu unterstellen. In den Jahren 2003/04 wurde eine feste Abstimmung zwischen NATO und EU vereinbart. Auf dem NATO-Gipfel 2009 wurde bekräftigt, Kooperation und Koordination zwischen NATO und den militärischen Entwicklungen der EU zu gewährleisten. US-Präsident Obama hatte deutlich gemacht, die Zusammenarbeit in der NATO zu präferieren und die EU-Europäer in Entscheidungen stärker einzubeziehen. Das hat seinen Preis, etwa in Gestalt des Druckes, das „Engagement“ in Afghanistan zu verstärken, oder die Beziehungen zu Russland zu verschlechtern, auch wenn dies den wirtschaftlichen Interessen der EU-Länder widerspricht.

Die Ukraine und das Erweiterungsproblem

Die Osterweiterung von EU und NATO hat Einfluss auf die Entwicklungsprozesse im Osten Europas. Das Argument in Bezug auf einen NATO-Beitritt, das bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zum Beispiel in Polen und Ungarn eine Rolle spielte, lautete, man wolle nicht in einer „Grauzone“ der Sicherheit zwischen NATO und Russland verbleiben. Mit der Osterweiterung der NATO verschwindet das Problem der „Grauzone“ jedoch nicht, sondern es verlagert sich geographisch nach Osten. Es sei denn, alle verbleibenden Staaten im Kaukasus, die Ukraine, Belarus und Moldawien werden in die NATO aufgenommen – was die Spannungen mit Russland aber praktisch weiter vergrößern würde. Das ist eines der Kernprobleme der gegenwärtigen Krise um die Ukraine.

Die Europäische Union hat in Angriff genommen, ihren Einfluss nach Osten weiter auszudehnen. Mit der Ukraine sollte im November 2013 ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen abgeschlossen werden. Allerdings hatte der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch erklärt, parallel dazu mit der „Eurasischen Wirtschaftsunion“ von Russland, Kasachstan und Belarus zusammenarbeiten zu wollen. Daraufhin hatte EU-Kommissionspräsident Barroso gefordert, die Ukraine müsse sich entscheiden, sie könne nicht gleichzeitig ein Freihandelsabkommen mit der EU und eine Zollunion mit Russland haben.

Nachdem Janukowitsch sich geweigert hatte, den Vertrag zu unterzeichnen, und neue Vereinbarungen mit Russland traf, sollten in Kiew veränderte Machtverhältnisse geschaffen werden. Der Spiegel schrieb: „Der Kampf um die Ukraine ist einer zwischen dem russischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin.“ Die Geschichte sei aber „noch nicht zu Ende“. Es gehe „im Kampf um Kiew um viel mehr als freien Warenaustausch am Rand der Europäischen Union. Fast 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges geht es darum, wer es schafft, die früheren Sowjetrepubliken der Region in seinen Einflussbereich zu ziehen. Es geht um Geopolitik, um das ‚Grand Design’, wie es die Experten gern nennen.“[13] Nach monatelangen organisierten Protesten auf dem Kiewer Maidan-Platz und am Ende blutigen Auseinandersetzungen wurde Präsident Janukowitsch gestürzt. Die EU-Kommission hatte die Amtsenthebung rasch anerkannt. Die neue Regierung, zu der auch erklärte Faschisten gehören, bekundete, sie werde die Ukraine in die EU führen. Der neugewählte Präsident Petro Poroschenko unterstrich dies bei seiner Amtseinführung am 7. Juni 2014.

Der „politische“ Teil des Assoziierungsabkommens wurde von Seiten der Ukraine am 21. März 2014 in Brüssel unterzeichnet, der „wirtschaftliche“ Teil am 27. Juni 2014 bei einem EU-Gipfel durch Poroschenko. Entsprechende Abkommen wurden ebenfalls mit Georgien und der Republik Moldau unterzeichnet. Die Anbindung dieser Länder an die EU ist vertraglich vollzogen. Eine feste Zusicherung auf spätere EU-Mitgliedschaft haben sie nicht. Damit gehören sie zur äußeren Peripherie des imperialen Zentrums EU nach Osten und sind gegen Russland in Stellung gebracht.

Den Gedanken des Spiegel aufnehmend folgt: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat stets die „Freundschaft“ mit den USA beschworen, zugleich aber die Spielräume deutscher Außenpolitik insbesondere gegenüber den USA vergrößert. Programmatisch hat sie betont, Deutschland solle gestärkt aus der Finanz- und Euro-Krise hervorgehen. Heute ist es in einer dominierenden, hegemonialen Position innerhalb der EU. Gegenüber Russland hat sie stets die Menschenrechtskarte gespielt, aber auch die strategische Zusammenarbeit gepflegt. Nun wird unter Nutzung der USA die Ukraine aus dem Einflussfeld Russlands gelöst und in das der EU, das heißt Deutschlands, eingeordnet. Russland hat sich im Gegenzug die Krim genommen, was vom Westen mit Protesten quittiert wurde, aber am Ende ist Russland froh, die Beziehungen mit dem Westen, sprich Deutschland, weiter aufrecht zu erhalten. Diese Neuordnung Europas ist ein weitreichender außenpolitischer Vorgang. Hier wird etwas realisiert, woran Deutschland in zwei Weltkriegen scheiterte. Dazu reicht es, dass die NATO im Hintergrund steht. Die Ukraine muss nicht Mitglied der NATO sein, um diese Neuordnung zu beglaubigen.

[1] Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 74, 216.

[2] Vgl. Parag Khanna: Der Kampf um die Zweite Welt. Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung, Berlin 2008.

[3] Ausführlich dazu: Erhard Crome: Deutschland in Europa. Eine neue Hegemonie, in: Erhard Crome, Raimund Krämer (Hrsg.): Hegemonie und Multipolarität. Weltordnungen im 21. Jahrhundert, Potsdamer Textbücher, Bd. 20, Potsdam 2013, S. 165-205.

[4] Charta von Paris, in: Curt Gasteyger: Europa zwischen Spaltung und Einigung. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 321, Bonn 1994, S. 538ff.

[5] Vgl. Pierre Salinger/Eric Laurent: Krieg am Golf. Das Geheimdossier, München/Wien 1991, S. 49ff, insbesondere S. 63; Erhard Crome: Menetekel neuer Weltenauseinandersetzungen? Noch einmal über den Golfkrieg, in: iPW-Berichte, Berlin, Heft 11-12/1991, S. 40-43.

[6] Michael R. Beschloss, Strobe Talbott: Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989-1991, Düsseldorf u.a. 1993, S. 245.

[7] Der Spiegel, Hamburg, Heft 14/2009, S. 113.

[8] Alexander von Plato: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel, Berlin 2002, S. 212.

[9] Internationale Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung: „Die NATO in einer veränderten Welt – Auslaufmodell oder unverzichtbare Allianz?“ am 6. und 7. März 2009 in Berlin. Die Tagung war gezielt in das Vorfeld der Veranstaltungen zum 60. Jahrestag der NATO gestellt. Die Zitate sind entnommen aus: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Die NATO in einer veränderten Welt, Berlin 2009, S. 10f.

[10] Erklärung von Rom über Frieden und Zusammenarbeit, in: Curt Gasteyger, a.a.O., S. 436f. Das strategische Dokument: The Alliance's New Strategic Concept, agreed by the Heads of State and Government participating in the Meeting of the North Atlantic Council, unter http://www.nato.int/cps/en/SID-A4CCE1ED-8BF2B255/natolive/official_texts_23847.htm.

[11] Friedensmemorandum des Bundesausschusses Friedensratschlag 2000, unter: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/memorandum/NATO-Strategie.html.

[12] Bogdan Koszel: Polens dorniger Weg zur NATO, in: WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Potsdam, Nummer 10/Frühjahr 1996, S. 45ff.

[13] Der Spiegel, Hamburg, Heft 50/2013, S. 22-24.

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