„Der Februar-Gipfel des Jahres 2010 ist der Tag, an dem sich die Macht innerhalb des Euro-Klubs zu verschieben beginnt – und damit die sorgsam austarierte Machtbalance in ganz Europa. Deutschland wird zu dem Partner, nach dem sich alle anderen richten müssen. Einmal wegen seiner wirtschaftlichen Stärke. Aber auch wegen der Grenzen seiner Handlungsfähigkeit, die das Bundesverfassungsgericht aufzeigt. Merkel sind zunehmend die Hände gebunden, weil ihr stets Karlsruhe im Nacken sitzt. Das Bundesverfassungsgericht entwickelt sich zum heimlichen Mitglied der Währungsgemeinschaft, weil es den Handlungsspielraum der Bundesregierung einengt.“
Cerstin Gammelin/Raimund Löw: Europas Strippenzieher, Berlin 2014, S. 72
„Einst befragt, wo er den Grad der realen Unabhängigkeit des deutschen Bundesverfassungsgerichts verorten würde – näher beim italienischen Verfassungsgericht, das für seine allgemeine Fügsamkeit bekannt ist, oder dem Supreme Court der USA, der fähig ist, jede (US-)Regierung herauszufordern – antworte Dieter Grimm, das vielleicht angesehenste neuere Mitglied dieses Gremiums, ohne zu zögern: besser als das italienische, aber näher bei diesem als beim amerikanischen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Oligarchie der EU jemals einen ernsthaften Rückschlag aus Karlsruhe erfahren muss.“[1]
Perry Anderson: After the Event, New Left Review 73, Jan/Feb 2012, London, S. 53
Das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sieht sich als Wahrer der souveränen Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland. Seine Rolle in der Europapolitik wird von Politikern, Medien und Wirtschaftsverbänden bisweilen kontrovers bewertet. Die einen preisen es als Garant von Demokratie, Volkssouveränität und grundgesetzlich geschützten Grundrechten. Die anderen kritisieren es als ‚Bremsklotz der europäischen Integration’.
Letzteres machte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in den ersten Etappen der globalen Finanzkrise zunutze. Vorstöße des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy für einen EU-Fonds zur Bankenrettung (2008) blockierte sie mit dem Hinweis, dies ergebe wohl Probleme mit dem Bundesverfassungsgericht. Stattdessen: Jeder kehre vor seiner eigenen Tür – also nationalstaatliche Konjunktur- und Bankenrettungsprogramme, keine Eurobonds mit Gemeinschaftshaftung usw. So erwarb sie sich zunächst den Ruf von Europas Madame Non.
Als die Finanzkrise sich zur Eurokrise zuspitzte (Griechenland, Irland, Portugal, Zypern, Spanien …), wurde die Rettung des Euro als oberste Priorität ausgerufen: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“. Zu den Euro-Rettungsschirmen erzwang Merkel eine Änderung des EU-Vertrags[2], angeblich um einem möglicherweise negativen Urteil des BVerfG wegen fehlender primärrechtlicher Grundlagen dazu vorzubeugen.
Euro-Rettungspolitik abgenickt
Das BVerfG winkte mit seinem Urteil vom 07.09.2011 die Griechenlandhilfe wie auch den Eurorettungsschirm EFSF als verfassungsrechtlich unbedenklich durch. In späteren Entscheiden (28.10.2011; 28.02.2012) lehnte es lediglich das Vorhaben der Bundesregierung ab, diesbezügliche Beteiligungsrechte des Bundestages auf ein Sondergremium von 9 Abgeordneten zu übertragen. Am 12.09.2012 blieben Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Verhinderung der Ratifikation von ESM-Vertrag[3] (Europäischer Stabilitätsmechanismus) und Fiskalpakt im Wesentlichen erfolglos.
Mit seinem Urteil vom 18.03.2014 zu ESM und Fiskalpakt, dem EuroplusPakt, ‚six pack’[4] usw. blieb es bei dieser Linie. Die derzeitige Haftungssumme Deutschlands im ESM von rund 190 Mrd. Euro sei nicht zu beanstanden. Von der Bundesregierung wird verlangt, die Beteiligungsrechte des Bundestages zu wahren und ihrer Unterrichtungspflicht jeweils zeitnah nachzukommen. Die Regierung dürfe die Haftungssumme nur anheben, wenn der Bundestag dem zustimmt. Weiterhin müsse sie in ihrer Haushaltsplanung die dafür vorgesehenen Mittel transparent darstellen.
Insgesamt fuhr das BVerfG damit eine Linie, die Eurorettungspolitik mit den neu geschaffenen Instrumenten (Rettungsschirme, Verfahren zur wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU usw.) grundsätzlich abzusegnen und dabei aber auf die Informations- und Beteiligungsrechte des Bundestags zu pochen.
Bemerkenswert ist insbesondere die Einschätzung des BVerfG zum Fiskalpakt (Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion). Dies ist ein zwischenstaatlicher Vertrag von 26 EU-Mitgliedstaaten (ohne Großbritannien und die Tschechische Republik) außerhalb des EU-Gemeinschaftsrechts, der aber von EU-Institutionen koordiniert (EU- Kommission) und überwacht (EuGH) wird. In diesem Vertrag legen sich die 26 beteiligten Mitgliedstaaten Selbstverpflichtungen auf, die Bestimmungen des Lissabon-Vertrags und des EU-Sekundärrechts zu achten, aber in punkto haushaltspolitischer Überwachung usw. weiter zu gehen als diese. Zur rechtlichen Problematik dieser Konstruktion – mögliche Friktionen zwischen EU-Vertrag und Fiskalpakt – äußert sich das BVerfG nicht explizit.
In seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon (30.06.2009) kommentierte das BVerfG unter anderem: „Die Europäische Union muss sowohl in Art und Umfang als auch in der organisatorischen und verfahrensrechtlichen Ausgestaltung demokratischen Grundsätzen entsprechen.“
Die nach der Gemeinschaftsmethode von Rat und EP verabschiedeten einschlägigen EU-Verordnungen zum ‚six pack’ und ‚two-pack’ schaffen dazu neue Abstimmungsmechanismen im Rat (umgekehrte qualifizierte Mehrheit). Artikel 7 des Fiskalpakt-Vertrags verankert dieses neue Verfahren in Form einer Selbstverpflichtung der 26 unterzeichnenden Mitgliedstaaten.
Schlägt die Kommission im Rahmen dieser Verfahren gegen einen Mitgliedstaat Sanktionen oder Geldbußen vor, so kann ihr Vorschlag nur noch durch eine qualifizierte Mehrheit im Rat (ohne die Stimmen des betroffenen Mitgliedstaats) abgelehnt werden.[5] Es könnte also eine Mehrheit der Mitgliedstaaten im Rat gegen den Vorschlag der (nicht demokratisch gewählten und legitimierten) Kommission votieren, und trotzdem käme dieser durch. Im geltenden Vertrag von Lissabon (Artikel 126 AEUV) zum Defizitverfahren steht dazu noch: ein Vorschlag der Kommission gilt nur als angenommen, wenn eine qualifizierte Mehrheit im Rat diesem zustimmt. Die ohnehin bescheidene „Demokratie“ der EU-Institutionen (das EP ist an Entscheidungen zu Defizitverfahren, makroökonomischen Ungleichgewichten und überhaupt an der gesamten wirtschaftspolitischen Steuerung der EU nicht beteiligt) wird auch im Hinblick auf Ratsentscheidungen durch diese Neuerungen auf den Kopf gestellt. Auch dies war kein wesentliches Thema für das BVerfG.
Kontroverse um das Staatsanleihen-Ankaufprogramm der Europäischen Zentralbank (OMT)
Neues Ungemach für die Eurorettung erwarten viele Kommentatoren von der Vorlageentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 07.02.2014 über den Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 6.9.2012 zum Ankauf von Staatsanleihen. Dieses Thema war zuvor vom BVerfG zu einem gesonderten Verfahren von den Klagen gegen ESM, Fiskalpakt usw. abgetrennt worden.
Im so genannten OMT-Beschluss (Outright Monetary Transactions) der EZB ist vorgesehen, dass sie in unbegrenzter Höhe Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit (1-3 Jahre) von Mitgliedstaaten ankaufen kann, welche von den Eurorettungsschirmen EFSF und ESM unter strengen Auflagen der Troika (EZB, IWF, EU-Kommission) Finanzhilfen erhalten.[6] Mit dem OMT-Beschluss entstünden erhebliche und nicht kalkulierbare Haftungs- und Zahlungsrisiken für die Deutsche Bundesbank und den Bundeshaushalt (mindestens in Höhe des deutschen Anteils am Eigenkapital der EZB), welche das Budgetrecht des Bundestages beeinträchtigen könnten, so ein zentrales Argument der Kläger.
Das Gericht ist der Auffassung, dass der OMT-Beschluss der EZB nicht durch die Regeln des EU-Vertrags zum Mandat der EZB (Währungspolitik) gedeckt ist. Insbesondere könne damit das Verbot einer monetären Haushaltsfinanzierung der Mitgliedstaaten unterlaufen werden. Die Verfassungsrichter bauen der EZB und dem EuGH allerdings eine Brücke: durch eine „einschränkende Auslegung des OMT-Beschlusses im Lichte der Verträge“ könne es möglich sein, eine mit dem EU-Primärrecht konforme Lösung zu erreichen. Das Urteil in dieser Sache wurde vorerst ausgesetzt. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wendete sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Fragenkatalog an den Europäischen Gerichtshof (EuGH), um dessen Einschätzung einzuholen. Endgültig entscheiden will es nach gründlicher Prüfung der Stellungnahme des EuGH. Diese wird nicht vor Mitte 2015 erwartet.
Das BVerfG folgt in seiner Begründung und seinem Fragenkatalog an den EuGH im Kern den Argumenten der mehrheitlich konservativen, ordo-liberalen Wirtschaftsexperten (Deutsche Bundesbank, C. Fuest, K.A. Konrad, H.W. Sinn), deren Gutachten ihm vorlagen. Diese machten eine ganze Reihe von Einwänden gegen das OMT-Programm geltend.
Der Markt für Staatsanleihen in Europa sei nicht gestört, zwischen ‚fundamental gerechtfertigten’ und ‚spekulativ hochgetriebenen’ Zinsaufschlägen für Anleihen könne die EZB nur willkürlich unterscheiden. Deshalb laufe der OMT-Beschluss auf eine vertragswidrige Suspendierung von Marktmechanismen hinaus. Hohe Zinsaufschläge für ihre Staatsanleihen zu vermeiden, sei Aufgabe der betroffenen Krisenstaaten (z.B. Griechenland, Spanien, Portugal, Zypern usw.), indem sie das Vertrauen der Finanzmärkte durch Austeritätspolitik und Strukturreformen zurück gewinnen.
Das Mandat der EZB sei auf die Währungspolitik beschränkt, d.h. vorrangig soll sie Preisniveaustabilität gewährleisten. Finanzstabilität im Euroraum zu sichern sei hingegen Aufgabe der Regierungen der Mitgliedstaaten (Rat) und nicht der EZB. Ein Austritt einiger EU-Staaten aus der Währungsunion könne zwar das Ziel der Finanzstabilität, aber kaum das geldpolitische Ziel der Preisniveaustabilität gefährden. Schließlich seien mit EFSF und ESM bereits die (wirtschaftspolitischen)[7] Instrumente geschaffen worden, um die Finanzstabilität des Euroraums zu gewährleisten und so zu verhindern, dass die Währungsunion ungewollt auseinander bricht.
Das ESM kann u.a. im Unterschied zur EZB Anleihen von Krisenstaaten auf den Primärmärkten (direkt von den Regierungen) als auch wie diese auf den Sekundärmärkten (von Banken und anderen Anlegern) kaufen. Dass die EZB parallel dazu ein eigenes Programm zum Ankauf von Anleihen auflegt, sei geldpolitisch nicht begründbar und verwische in unzulässiger Weise die Verantwortlichkeiten von Geld- und Fiskalpolitik. Dass die EZB den Ankauf von Staatsanleihen von Programmländern der Euro-Rettungsschirme EFSF und ESM an die dort vereinbarten Konditionalitäten anbindet, sei erstens Wirtschaftspolitik (Überschreitung ihres Mandats). Zweitens widerspreche dies der vertraglich garantierten Unabhängigkeit der EZB (weil die strengen Auflagen von EFSF und ESM von Regierungen kommen, während die EZB keine Weisungen von Regierungen der Mitgliedstaaten entgegen zu nehmen hat).
Das OMT-Programm der EZB verfolge vorrangig das Ziel, den Zugang der Krisenstaaten zum Kapitalmarkt aufrechtzuerhalten und ihre Finanzierungskosten zu senken. Es diene daher nicht in erster Linie geldpolitischen Zielen und stehe im Widerspruch zum im EU-Vertrag verankerten Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung. Weil die EZB nur Anleihen von EU-Staaten kaufen will, die Programmländer der Eurorettungsschirme EFSF und ESM sind, würden erstens die übrigen Euro-Staaten diskriminiert und zweitens die Risiken eines Staatsbankrotts der Krisenländer zwischen Banken und Steuerzahlern sowie zwischen den Steuerzahlern verschiedener Mitgliedstaaten der Währungsunion insgesamt umverteilt. Dies sei durch das währungspolitische Mandat der EZB in keiner Weise gedeckt.
Schließlich sei es mit der Marktlogik und einer unabhängigen Marktpreisbildung kaum zu vereinbaren, Staatsanleihen ohne zeitlichen Mindestabstand zu ihrer Emission am Primärmarkt anzukaufen und sämtliche erworbenen Staatsanleihen bis zur Fälligkeit zu halten. Das gleiche gelte etwa für den Fall, wenn die EZB ankündige, Staatsanleihen der Krisenstaaten kaufen zu wollen. Damit beeinflusse sie die Preisbildung bei der Emission von Staatsanleihen der Krisenstaaten. Staatsanleihen ohne Mindestanforderung an ihre Bonität zu erwerben (Ausfallrisiko) und eine Gleichbehandlung des Europäischen Systems der Zentralbanken mit privaten und anderen Inhabern von Staatsanleihen hinzunehmen (Schuldenschnitt) schaffe Haftungs- und Zahlungsrisiken für Deutschland. Weil die EZB ankündigte, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen von Programmländern der Eurorettungsschirme zu kaufen, sei der Horizont für derartige Haftungsrisiken nach oben im Zweifel bis ins Unendliche offen. Auch bestehe bei einem notfalls unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen die Gefahr, dass die von den Eurorettungsschirmen verordneten Auflagen für die Krisenländer umgangen werden könnten.
Kampf zweier Linien des deutschen Liberalismus
Unter dem Strich hat das BVerfG sich nahezu 1:1 für den Geist von Maastricht entschieden, so wie die wirtschaftstheoretische Orthodoxie der Bundesbank ihn stets interpretierte. Die Argumentation der EZB und anderer deutscher Experten (M. Fratzscher, F. Schorkopf, A. Winkler) lautete, dass der Markt für Staatsanleihen ein wichtiger Teil jener Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte sei, deren Funktionieren eine Grundvoraussetzung für die Umsetzung geldpolitischer Maßnahmen darstelle. Deshalb seien Staatsanleihenkäufe durchaus geldpolitisch begründbar. Diese alternative Position wurde von der großen Mehrheit der Verfassungsrichter (6:2) im Ergebnis verworfen.
Prof. Dr. Adalbert Winkler hat m.E. überzeugend dargestellt, dass nach den Kriterien der ordo-liberalen deutschen Wirtschaftsexperten dann auch die Vollzuteilungspolitik der EZB in der Finanzkrise 2008/2009 und den Folgejahren gegen marktwirtschaftliche Prinzipien verstoßen habe und als nicht von ihrem währungspolitischen Mandat gedeckt eingestuft werden müsse (Winkler 2013). Um einen Kollaps des Interbankenmarktes[8] zu verhindern, flutete die EZB in mehreren Wellen die Nachfrage des Bankensektors mit Zentralbankgeld zu einem festen Refinanzierungssatz von 1 Prozent. Folge man der Argumentation der Ordoliberalen, so Winkler, dann gelte dafür z.B.: „Liquiditätsrisiken als Ursache des Zinsanstiegs stellen kein Argument für geldpolitisches Handeln dar, weil es nicht Aufgabe der EZB, sondern der Regierungen ist, den Konkurs von Banken zu verhindern und damit den Zusammenhalt des Finanzsystems zu sichern. (….) Zudem beeinträchtigt der Kollaps einiger Banken vor allem das Ziel Finanzstabilität, aber kaum das Ziel Preisniveaustabilität.“ (Winkler 2013: 681) Im Unterschied zum OMT-Beschluss der EZB verteidigte die Bundesbank jedoch diese Vollzuteilungspolitik stets als geldpolitisch gebotene Notwendigkeit.
Ähnlich wäre im Übrigen nach dieser ordo-liberalen Logik das vorherige Anleihenankaufprogramm der EZB zu kritisieren – das bis zum September 2012 laufende Securities Markets Programme (SMP), mit dem die EZB im Umfang von 218 Mrd. Euro Staatsanleihen von Irland, Griechenland, Spanien, Italien und Portugal erwarb.
Prof. Winkler unterstreicht, dass die Erhaltung von Finanzstabilität als ‚öffentliches Gut’ zu den Aufgaben einer Zentralbank gehört, die dazu stets als ‚Kreditgeber der letzten Instanz’ (Lender of Last Resort) agieren müsse. Mit ESM und Bankenunion sei die EU dabei, den Konstruktionsfehler der Währungsunion zu korrigieren: dass im Vertrag von Maastricht keinerlei Institutionen und Instrumente vorgesehen waren, die die Produktion des öffentlichen Gutes Finanzstabilität für die Eurozone ermöglicht hätten. Der nächste logische Schritt wäre Winkler zufolge die Errichtung einer Fiskalunion.
In dieser Perspektive würde sich die EU dann weitere staatsanalog ausgestaltete Kompetenzen verschaffen. In der Diskussion sind z.B. seit längerem direkte Durchgriffsrechte von Brüssel auf die Haushalte der Mitgliedstaaten (Schäuble), ein europäischer Finanzminister mit eigenem Schatzamt (Trichet), die Schaffung eines eigenen Haushalts der Eurozone, „Reformverträge“ der Euromitgliedstaaten zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin und Bekämpfung von makro-ökonomischen Ungleichgewichten (EU-Ratspräsident Van Rompuy) usw.. Dies würde im Wesentlichen durch die Spitzen der Exekutiven der EU-Mitgliedstaaten ausgehandelt, ohne dass die Völker der Mitgliedstaaten als demokratischer Souverän dies und die gesamte Richtung der Euro-Rettungspolitik in irgendeiner Weise beeinflussen könnten.
Die Diskussion um das OMT-Programm in Deutschland wurde damit im Wesentlichen von zwei konkurrierenden liberalen wirtschaftspolitischen Ansätzen bestritten: der eine verteidigt den ‚Eisernen Käfig’ von Maastricht und damit eine von Anfang an verfehlte Konzeption der Wirtschafts- und Währungsunion, der andere führt unter den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen auf den Weg, ein bereits autoritär verfasstes Euroregime nochmals autoritärer und undemokratischer zu machen.[9]
Zunächst liegt der Ball im Feld des Europäischen Gerichtshofs. Das BVerfG hat ihm bereits einen Wink mit dem Zaunpfahl gegeben, wie er sich aus der Grundsatzkontroverse um die vertragliche Kompetenz der EZB in Sachen Geldpolitik und dem Verbot monetärer Staatsfinanzierung heraus winden könnte: „Einschränkende Auslegung des OMT-Beschlusses im Lichte der Verträge“. Was immer der EuGH dazu befinden wird: auf einen offenen Konfrontationskurs und Kompetenzstreit mit ihm werden die deutschen Verfassungsrichter es m.E. angesichts ihrer bisherigen Rechtsprechung kaum ankommen lassen. Dem EuGH als obersten Hüter des Europarechts Fragen vorzulegen, entlastet das BVerfG davon, den Buhmann gegen Merkel, EZB & Co. spielen zu müssen.
Der Vorrang des EU-Rechts und der verfassungsrechtliche Schutz von Grundrechten und Sozialstaat in Deutschland
In den Verfassungen der meisten EU-Mitgliedstaaten stehen die Grundrechte als höchstes Rechtsgut an der Spitze der Normenhierarchie – insbesondere im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Das BVerfG geht davon aus, dass die EU im Regelfall einen ausreichenden Grundrechtsschutz biete. Im Rahmen der Rechtsordnung der EU und dem vom EuGH über Einzelentscheidungen geschaffenen Richterrecht werden die Grundrechte allerdings in ein hierarchisches Verhältnis mit den überwiegend unternehmerischen Grundfreiheiten (freier Kapital-, Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr/Niederlassungsfreiheit) gestellt (vgl. Höpner 2008 und 2014).[10]
Diese Grundfreiheiten dienen zur Durchsetzung des liberalisierten EU-Binnenmarktes als „tragender Grundsatz“ der EU. Sie sind dabei als subjektive Rechte einklagbar, die nicht nur für natürliche, sondern auch für juristische Personen (wie z.B. Unternehmen) gelten. Die im EU-Vertrag verbrieften Grundfreiheiten werden in der Rechtsprechungspraxis des EuGH gegen die Grundrechte abgewogen. Sie erhielten z.B. in den EuGH-Entscheidungen zur Dienstleistungsfreiheit und EU-Entsenderichtlinie (Fälle Viking, Laval, Luxemburg, Rüffert usw.) ein höheres Gewicht als Grundrechte und sozialstaatliche Regelungen. Grundrechte werden in der EU-Rechtsordnung nur als nicht justiziable „allgemeine Rechtsgrundsätze“ in Betracht gezogen.
Die mit dem Vertrag von Lissabon verbundene EU-Charta der Grundrechte hat daran nichts Wesentliches geändert. So wird von ihr z.B. das Streikrecht gemäß der jeweiligen „nationalstaatlichen Traditionen und Vorschriften“ anerkannt – es muss allerdings „im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht“ stehen. Was dieser harmlos erscheinende Zusatz bedeutet, hat die Rechtsprechung des EuGH in den Fällen Viking und Laval verdeutlicht: die von den finnischen und schwedischen Gewerkschaften ergriffenen Kampfmaßnahmen würden die von Artikel 49 EG-Vertrag garantierte Dienstleistungsfreiheit (Laval) und die von Artikel 43 EG-Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit für Unternehmen (Viking) behindern und seien deshalb unzulässig (auch wenn sie nach dem jeweiligen nationalstaatlichem Recht/Traditionen durchaus erlaubt waren).
Artikel 53 der Charta bestimmt zu ihrem Schutzniveau ausdrücklich: „Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen (...).“ Damit werden auch hier die Grundfreiheiten des Binnenmarktes auf eine Ebene mit Menschen- und Grundrechten gestellt. So wird die Position des EuGH bestärkt, zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten sei abzuwägen. Die Erläuterungen zur Charta, welche dem EuGH zur Rechtsauslegung an die Hand gegeben wurden, bestimmen zu Artikel 52 der Charta (Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze), dass „die Ausübung dieser Rechte, insbesondere im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation, Beschränkungen unterworfen werden“ kann. Und zu Artikel 16 (Unternehmerische Freiheit) halten diese Erläuterungen unter anderem fest, dass hier Bezug auf „Artikel 119 Absätze 1 und 3 des Vertrags“ genommen wird, „in dem der freie Wettbewerb anerkannt wird.“
Insbesondere die Rechtsprechungspraxis des EuGH zur Radikalisierung der Binnenmarktintegration zeigt deutlich: Je tiefer das abgeleitete europäische Recht in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten eindringt, umso mehr treten die nationalstaatlichen Grundrechte, sozialstaatlichen Arrangements und die sie wahrenden Verfassungsgerichte in den Hintergrund. Dass das Bundesverfassungsgericht z.B. im Juli 2006 das Berliner Tariftreuevergabegesetz für grundgesetzkonform erklärte, hatte im EuGH-Fall Rüffert keine Beachtung gefunden. Das BVerfG hatte dabei eine Reihe von sozialpolitischen Zielen hervorgehoben, die einen Eingriff in die Berufsfreiheit rechtfertigen. Daran hatte sich der EuGH jedoch nicht orientiert und die Tariftreueverpflichtung des niedersächsischen Vergabegesetzes für gemeinschaftswidrig erklärt. Mit Bezug auf den Vorrang des EU-Rechts ist das Bundesverfassungsgericht in seiner Selbstzuschreibung als Wahrer von sozialstaatlichen Prinzipien (und Grundrechten) inzwischen eher eine lahme Ente.
Das Bundverfassungsgericht als Verteidiger der universalen Werte der Demokratie?
In seinem Lissabon-Urteil von 2009 merkte das Bundesverfassungsgericht an: „Der Umfang politischer Gestaltungsmacht der Union ist – nicht zuletzt durch den Vertrag von Lissabon – stetig und erheblich gewachsen, so dass inzwischen in einigen Politikbereichen die Europäische Union einem Bundesstaat entsprechend – staatsanalog – ausgestaltet ist.“ Obwohl schon ‚staatsanalog ausgestaltet’, stelle die EU aber „weiterhin einen völkerrechtlich begründeten Herrschaftsverband dar, der dauerhaft vom Vertragswillen souverän bleibender Staaten getragen wird.“ Und weiter: „Solange im Rahmen einer europäischen Bundesstaatsgründung nicht ein einheitliches europäisches Volk als Legitimationssubjekt seinen Mehrheitswillen gleichheitsgerecht politisch wirksam formulieren kann, bleiben die in den Mitgliedstaaten verfassten Völker der Europäischen Union die maßgeblichen Träger der öffentlichen Gewalt, einschließlich der Unionsgewalt.“
Der französische Linksintellektuelle Alain Supiot (2012) nahm dieses Urteil in der Europadebatte der Zeitschrift New Left Review zum Anlass, dem BVerfG eine „moralische Autorität“ zu bescheinigen, dem „keines seiner Pendants sonst wo in Europa“ das Wasser reichen könne. Wegen der kritischen Ausführungen des BVerfG zum Demokratiedefizit der EU und der im deutschen Grundgesetz verankerten ‚Ewigkeitsgarantie’ für die Demokratie feierte Supiot die deutschen Verfassungsrichter als profilierte Verteidiger „des universalen Wertes der Demokratie“ in Europa.
Die Völker von zwei der vom BVerfG angesprochenen Mitgliedstaaten der EU (Frankreich und Niederlande) hatten als maßgebliche Träger der öffentlichen Gewalt zuvor allerdings den fast gleichlautenden Vertrag über eine Verfassung der Europäischen Union in Volksabstimmungen abgelehnt.
Perry Anderson (2012: 53) antwortete auf Supiot so: „Wenn demokratische Rechte so unantastbar sind, wie es die Begründung des Gerichts theoretisch behauptet, hätte der Vertrag von Lissabon – offensichtlich entworfen, um den demokratischen Willen der französischen und niederländischen Wähler zu umgehen – von ihm nicht bestätigt werden dürfen. Warum das Gericht dies tat – während es mit der einen Hand demokratische Prinzipien hochhielt, um mit der anderen Hand ihre Abräumung durchzuwinken – war völlig konservativ motiviert: dem aktuellen politischen Establishment entgegen zu kommen.“
Diese Analyse von Perry Anderson teile ich. Sie lässt sich vor dem Hintergrund der Eurorettungspolitik der EU und der dominanten Rolle der deutschen Regierung darin noch weiter zuspitzen.
In seinem Lissabon-Urteil beschied das BVerfG damals: „Zwar müssen nicht eine bestimmte Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben. Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf jedoch nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt.“[11]
Keinen ausreichenden Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse (also das Minimum, was das BVerfG für Deutschland nicht unterschritten sehen will) hatten oder haben jene EU-Mitgliedstaaten, die unter Kuratel der Troika gestellt wurden: vormals Ungarn, Rumänien, Lettland, dann Griechenland, Irland, Portugal, Zypern, Spanien usw.. Sie mussten oder müssen immer noch die so genannten ‚Memoranda of Understanding’ (MoU) erfüllen, welche demokratisch nicht legitimierte Institutionen wie EU-Kommission, IWF und EZB ihnen im Gegenzug für Kredite auferlegen. Sie wurden und werden zum Abbau der Reste des Sozialstaats, zu Lohn- und Rentenkürzungen, radikaler Zerschlagung der Tarifautonomie und von Flächentarifverträgen, drastischen Ausgabenkürzungen bei Verwaltung, Gesundheit und jeglicher staatlicher Investitionen und Infrastruktur, zur Privatisierung öffentlichen Eigentums usw. gezwungen. Dies ging in den betroffenen Mitgliedstaaten vielfach mit der Verletzung von Grund- und Menschenrechten, ILO-Konventionen usw. einher (vgl. Fischer-Lescano 2013).
Die demokratische Legitimation der Troika-Konstruktion war für das BVerfG auch kein Thema. Warum sollte es sich auch damit befassen, die Bundesrepublik Deutschland ist ja kein Programmland. Die Troika aber ist es, die mit den MoU bestimmt, was mehr oder weniger demokratisch gewählte Regierungen[12] zu tun haben, um die jeweils nächste Tranche von Euro-Rettungskrediten zu bekommen. Ob eine in der EU dominante deutsche Bundesregierung maßgeblich daran mitwirken darf, de-facto die demokratisch-souveräne Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse in anderen Mitgliedstaaten weitgehend außer Kraft zu setzen, wäre vor dem Hintergrund der obigen prinzipiellen Aussage des BVerfG zumindest fraglich.[13]
Fritz Scharpf (2014: 37) bringt m.E. diese Problematik auf den Punkt: „Die Vertreter der nationalen Regierungen sind durch ihre jeweiligen Parlamente und Wähler allenfalls indirekt-demokratisch dazu legitimiert, Verpflichtungen durch das eigene Land einzugehen und allgemeinen Regeln für alle Mitgliedstaaten zuzustimmen. Aber die deutschen Wähler und der Deutsche Bundestag könnten den Bundesfinanzminister und die Kanzlerin nicht zu diskretionären Einzelfall-Entscheidungen legitimieren, die den Bürgern Portugals schwerste Opfer auferlegen. Aus deren Perspektive jedenfalls handelt es sich dabei um die demokratisch nicht legitimierbare Herrschaft fremder Regierungen. Und daran würde sich im Prinzip auch dann nichts ändern, wenn Einzelentscheidungen durch das Europäische Parlament gebilligt werden müssten.“
Das BVerfG vertritt die Position, dass das deutsche Grundgesetz offen ist für die Schaffung eines demokratischen Bundesstaates auf europäischer Ebene. Zuvor sei bei allen weiteren Integrationsschritten „das tragende Prinzip der begrenzten und von den Mitgliedstaaten kontrollierten Einzelermächtigung zu wahren.“ Das BVerfG hat aus meiner Sicht z.B. in punkto EFSF, ESM, Fiskalpakt, Euro-PlusPakt, ‚six pack‘ und ‚two pack‘ Einzelermächtigungen legitimiert, die das von ihm attestierte demokratische Defizit der EU weiter verschärfen. Sie tragen dazu bei, ein ohnehin autoritäres Euroregime zu verfestigen und auszubauen. Insofern kann ich Perry Andersons Verdikt nur zustimmen: Die Oligarchie der EU[14] hat von diesem deutschen Verfassungsgericht wohl keinen ernsthaften Widerstand zu befürchten.
Literatur
Anderson, Perry (2012): After the Event, New Left Review 73, Jan/Feb 2012
BVerfG (2014): OMT-Urteil, 2 BvR 2728/13 vom 14.01.2014; http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20140114_2bvr272813.html
Die übrigen im Artikel erwähnten Urteile des BVerfG sind auf seiner Website unter ‚Entscheidungen’ zu finden.
De Grauwe, Paul (2011): Only a more active ECB can solve the euro crisis, CEPS Policy Brief No. 250, August 2011
Dräger, Klaus (2011): Europäische Wirtschaftsregierung. EU auf dem Weg zum „Deutschen Europa“?; in: Widerspruch 61, 31. Jg./2. Halbjahr 2011
Fisahn, Andreas u.a. (2014): Wider das Recht; Ein Gutachten zur Unrechtmäßigkeit der EZB-Aktivitäten im Rahmen der autoritären Kürzungspolitiken der Troika; Studien der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, Mai 2014
Fischer-Lescano, Andreas (2013): Austeritätspolitik und Menschenrechte. Rechtspflichten der Unionsorgane beim Abschluss von Memoranda of Understanding; Rechtsgutachten im Auftrag der Kammer für Arbeiter/innen und Angestellte für Wien, Bremen, 22.12.2013
Foster, John Bellamy u. Magdoff, Fred (2009): The Great Financial Crisis: Causes and Consequences; Monthly Review Press, January 2009
Höpner, Martin (2008): Usurpation statt Delegation. Wie der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politischer Kontrolle bedarf; MPIfG Discussion Paper 08/12, Köln, Dezember 2008
Höpner, Martin (2014): Wie der Europäische Gerichtshof und die Kommission Liberalisierung durchsetzen; MPIfG Discussion Paper 14/8, Köln, April 2014
Scharpf, Fritz W. (2014): Legitimierung, oder das demokratische Dilemma der Euro-Rettungspolitik; in: Wirtschaftsdienst 2014, Sonderheft EU-Krise
Streeck, Wolfgang (2014): How will capitalism end? In: New Left Review 87, May/June 2014, London, S. 35 -64
Supiot, Alain (2012): Under Eastern Eyes; New Left Review 73, Jan/Feb 2012, London, S. 29 – 36
Wehr, Andreas (2012): Nötiger Perspektivwechsel; Junge Welt vom 25.10.2012
Winkler, Adalbert (2013): EZB-Krisenpolitik, Vollzuteilungspolitik und Lender of Last Resort; in: Wirtschaftsdienst 2013/10
[1] Eigene Übersetzung aus dem Englischen (KD).
[2] In Artikel 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) wurde ein neuer Absatz 3 hinzugefügt.: „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“
[3] Der ESM-Vertrag ist ein zwischenstaatlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten des Euroraums außerhalb des Gemeinschaftsrechts. Das ESM ist laut diesem Vertrag eine ‚internationale Finanzinstitution’ und von jeglichen Beschränkungen, Zulassungs- und Lizenzierungspflichten befreit, wie sie sonst für Kreditinstitute und Finanzdienstleistungsunternehmen in der EU gelten.
[4] Das ‚six pack’ und ‚two pack’ ist ein Bündel von EU-Verordnungen (und einer Richtlinie), mit denen die EU-Verfahren bei einem ‚übermäßigen Defizit’ verschärft und ein neues Verfahren zur ‚Bekämpfung makroökonomischer Ungleichgewichte’ in der EU (Leistungsbilanzdefizite/-überschüsse) eingeführt wurden. Dazu, zum EuroPlusPakt, zur Europa 2020 Strategie und den Verfahren zur ‚wirtschaftspolitischer Steuerung in der EU’ usw. vgl. Dräger (2011)
[5] Der Fiskalpakt soll vom EuGH überwacht werden und enthält dazu einige Regeln. Unklar bleibt: Muss der EuGH einen Mitgliedstaat verurteilen, der sich nicht an die damit eingegangene Selbstverpflichtung bei einer Abstimmung im Rat hält? In den Verordnungen des nach der Gemeinschaftsmethode von Rat und EP im Mitentscheidungsverfahren verabschiedeten ‚six-pack’ und ‚two pack’ ist dieses neue Verfahren explizit und verbindlich verankert. Man mag sich dabei auf Zusatzprotokolle zum Lissabon-Vertrag zum Thema ‚Verfahren bei einem übermäßigen Defizit’ berufen, die eine weitere Konkretisierung der vertraglichen Vorgaben erlauben. Aber kann man ein EU-vertraglich verankertes Abstimmungsverfahren im Rat durch bloßes Sekundärrecht einfach in sein Gegenteil verkehren?
[6] Die EZB hat das OMT-Programm bisher nicht umgesetzt, es wurden in diesem Rahmen keine Staatsanleihen angekauft. EZB-Päsident Mario Draghis berühmte Sätze vom 26.07.2012 („Innerhalb unseres Mandats sind wir bereit, alles zu tun, um den Euro zu schützen. Glauben Sie mir, es wird genug sein.“) reichten aus, um ein Ansteigen der Risikoaufschläge auf Staatsanleihen der EU-Krisenstaaten zu verhindern – ganz so wie es Ökonomen wie Paul De Grauwe schon Jahre zuvor gefordert und prognostiziert hatten (z.B. De Grauwe 2011). Aus Platzgründen verzichte ich auf eine polit-ökonomische und klassenpolitische Bewertung des OMT-Programms und der qualitativen Lockerung der Geldpolitik. Sie wird von der EZB eher restriktiv und von den Zentralbanken der USA, Japans und Großbritanniens sehr viel umfangreicher durchgeführt. Zu ihrer Fundierung durch die monetaristische Wirtschaftstheorie siehe Magdoff u. Foster (2009). Zum Thema Kapitalismus – Krise – Demokratie auch in diesem Zusammenhang siehe Streeck (2014).
[7] Der Europäische Gerichtshof bestätigte in seiner Entscheidung zum ESM (Rechtssache C-370/12 Pringle vom 27.11.2012), dass dieses mit dem EU-Recht vereinbar sei und nicht gegen die Kompetenzverteilung in der EU verstößt. Die Aktivitäten des ESM bewertete der EuGH als Wirtschaftspolitik, die auf den Zusammenhalt der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ausgerichtet sei. Auch wenn das ESM Staatsanleihen seiner Programmländer kaufe, sei dies keine Währungspolitik.
[8] Die Banken liehen sich untereinander kaum noch Geld, weil sie bei den jeweils anderen Finanzinstituten Insolvenzrisiken wg. des hohen Anteils von Schrottpapieren in deren Bilanzen befürchteten.
[9] Auch die Bundestagsfraktion DIE LINKE hatte gegen den OMT-Beschluss der EZB geklagt. In ihren juristischen Argumenten thematisierte sie ähnliche Fragen wie die Ordoliberalen (OMT-Programm als Wirtschaftspolitik, das währungspolitischen Mandat der EZB wird verletzt usw.). Politisch kritisiert sie traditionell und grundsätzlich die Fehlkonstruktion der Währungsunion, die absolute Unabhängigkeit der EZB usw. usf.. Das wurde in ihren einschlägigen Publikationen (vgl. Fisahn u.a. 2014) zum Thema auch deutlich gemacht.
[10] Höpner zeichnet historisch versiert nach, wie der EuGH (und die Kommission) seit den 1960er Jahren über diese Methode zunächst Grundsätze wie die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts (Vorrang vor nationalstaatlichem Recht) durchsetzte und dann sukzessive das EU-Primärrecht (Gemeinschaftsverträge) und Sekundärrecht (EU-Verordnungen und -Richtlinien) im Sinne einer Vertiefung der Binnenmarktintegration und -liberalisierung radikalisierend umdeutete. An der Ausarbeitung der entsprechenden Grundsätze des Gemeinschaftsrechts waren die zuständigen legislativen Organe der EU (Rat und/oder Parlament) nicht wesentlich beteiligt.
[11] Man mag fragen: warum und weshalb sollen ‚einzelne Arten’ oder ‚eine bestimmte Summe’ von Hoheitsrechten (und wenn ja, welche?) an einen völkerrechtlich begründeten Herrschaftsverband wie der EU abgetreten werden, dem das BVerfG eine den Standards des Grundgesetzes vergleichbare demokratische Legitimation entschieden abspricht?
[12] In Griechenland und Italien erzwang der kombinierte Druck von EZB, Merkel und Finanzmärkten in 2011/12 vorübergehend Expertenregierungen (Papadimos in Griechenland, Monti in Italien) ohne vorheriges Mandat durch eine allgemeine demokratische Wahl.
[13] Auch wenn dies im Kontext der bestehenden Kompetenzen des BVerfG nicht unbedingt justiziabel sein mag.
[14] Cerstin Gammelin und Raimund Löw beschreiben in ihrem Buch ‚Europas Strippenzieher’ (2014) anhand der ihnen von Spitzendiplomaten zugespielten Protokollnotizen diverser EU-Gipfel, wie die Eurorettungspolitik in einem Zick-Zack-Kurs entwickelt wurde und welche Kräfte maßgeblich darauf Einfluss hatten. Ergänzt wird dies durch gut belegte Analysen der Lobbypolitik in der EU hinter den Kulissen. Was die EU-Oligarchie von politischen und wirtschaftlichen Eliten ausmacht, wird dabei kenntlich. Was die Vorschläge des Autorenduos für eine Weiterentwicklung der EU angeht, bin ich sehr skeptisch. In dieser Hinsicht werben sie häufig im Jargon der Europäischen Kommission für ‚Modernisierung’ und ‚Strukturreformen’ usw.