Mehr als vier Jahre nachdem die Europäische Zentralbank im Mai 2010 zum ersten Mal nur mit einer massiven Intervention die gemeinsame Währung retten konnte, ist die sogenannte Euro-Krise keineswegs überwunden. Im Juni 2014 senkt die EZB erneut ihren Leitzins auf einen neuen Tiefstand von 0,15 Prozent und führt einen Strafzins von 0,1 Prozent für Banken ein, die ihre überschüssige Liquidität bei der EZB parken. Erneut werden den Banken längerfristige Kredite zu niedrigen Zinsen angeboten, die diese – das ist neu – an Unternehmen außerhalb des Finanzsektors ausreichen sollen. Doch solange in der EU weiterhin Austeritätspolitik herrscht und vor allem gegenüber Krisenstaaten brachiale Kürzungen der Löhne und der staatlichen Ausgaben durchgesetzt werden, wird die Krise fortdauern.
Die neoliberale Propaganda versucht den Leuten weis zu machen, dass die Staatsverschuldung und speziell die übermäßigen Ausgaben der Krisenstaaten der Grund und Kern der sog. Euro-Krise sind. Wobei das eher die Populärversion für politische Zwecke ist. In den fachlicheren Veröffentlichungen der EU wird mittlerweile durchaus eine differenziertere Sicht dargelegt, die sich allerdings sehr auf die Probleme des Finanzsektors fokussiert.[2] Der tatsächliche Hintergrund dieser Krise sind letztlich außenwirtschaftliche Ungleichgewichte und internationale Verschuldungsverhältnisse zwischen den verschiedenen Euro-Ländern, die sich seit Beginn der Europäischen Währungsunion aufgebaut haben.
Diese haben etwas zu tun mit dem Grundproblem, dass der Euro-Raum eine Vielzahl von Ländern vereint, deren wirtschaftliche Entwicklung in Niveau, Struktur und Dynamik sehr unterschiedlich ist. Und dass es keine wirksamen Mechanismen gab, die davon ausgehenden Probleme zu kontrollieren und ihnen entgegenzuwirken. Stattdessen gab es eine einseitige Fixierung auf die Frage der Staatsverschuldung; die Frage der privaten Verschuldungen von Unternehmen und Haushalten und die Regulierung des Finanzsektors wurden dagegen völlig vernachlässigt.
Ökonomische Ungleichgewichte im Euro-Raum
Wir haben dann im vergangenen Jahrzehnt eine Entwicklung der außenwirtschaftlichen Positionen erlebt, die gewissermaßen zwischen verschiedenen Ländern des Euroraums polarisiert war. Auf der einen Seite stand vor allem Deutschland, das seine Export- und Leistungsbilanzüberschüsse immer weiter steigerte. Seit 2006 betragen diese durchgängig über sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Größenordnung 150 Mrd. Euro im Jahr. Auf der anderen Seite standen Griechenland, Portugal, Spanien mit immer größeren Defiziten.[3]
Genau dies sind dann die Krisenstaaten, denn das Problem ist die internationale Verschuldung. Laufende Überschüsse bedeuten stetiger Ausbau einer internationalen Gläubigerposition. Laufende Leistungsbilanzdefizite bedeuten immer höhere internationale Verschuldung der gesamten Volkswirtschaft. Diese betrug bei Griechenland 2007, 2008 in der Spitze über 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, bei Spanien und Portugal über 9 Prozent. Später gerieten auch Frankreich und Italien immer mehr ins Defizit, wobei das durch die Größe der Länder relativiert wird, bei Frankreich hat das eine Größenordnung von 2 Prozent des BIP.
Wie kam und kommt das zustande? Hat das etwas mit den Lohnentwicklungen zu tun, genauer gesagt mit der unterschiedlichen Entwicklung der Lohnstückkosten? Diese steigen dann, wenn die Löhne stärker steigen als im gleichen Zeitraum die Arbeitsproduktivität steigt.
Faktisch ist die herrschende Position, dass die Lohnentwicklung das zentrale Problem war und ist. Diese Auffassung liegt der Politik in der EU und ihrer neuen Economic Governance zugrunde. Und zwar in der Weise, dass es in den Krisenländern angeblich deutlich zu hohe Lohnzuwächse gab und dies deshalb gestoppt und zurückgedreht werden müsse. Deshalb wurde und wird massiver Druck auf die Krisenstaaten und zunehmend auch auf Frankreich und Italien und im Rahmen der Governance tendenziell auf alle Länder gemacht, nicht nur in Richtung auf Kürzung öffentlicher Ausgaben, sondern auch und vor allem auf Maßnahmen zur Senkung der Löhne und Dämpfung künftiger Lohnentwicklungen.
Divergenz der Lohnstückkostenentwicklung
Sieht man sich die Entwicklung der Lohnstückkosten seit dem Jahr 2000 an, scheint da auch etwas dran zu sein und man sieht auch die Wirkung der seitdem betriebenen Politik: Die Lohnstückkosten etwa Spaniens und Griechenlands stiegen bis zur Krise erheblich an und insbesondere weit stärker als die Deutschlands. Seit 2009 wurden dann die Löhne massiv gedrückt, die Lohnstückkosten sanken und sinken weiter. Auf der anderen Seite bewegte sich die Lohnstückkostenentwicklung in Deutschland bis 2008 um die Nulllinie. Erst seit der Krise ist die Lohnentwicklung in Deutschland ein bisschen besser geworden, so dass die Lohnstückkosten hierzulande wieder steigen.
Die scharfe Austeritäts-, also Ausgaben- und Lohnkürzungspolitik hat erst mal die Krise im Südeuropa massiv verschärft und viele Millionen Menschen ins Elend gestürzt. Aber, sagt die Kommission, es funktioniert, Ihr könnt es sehen, die außenwirtschaftlichen Defizite der Krisenländer gehen zurück. Das angeblich unvermeidliche Tal der Tränen sei irgendwann zu Ende, und zwar bald, es gehe wieder aufwärts in den nächsten Jahren.[4] Das ist erstens zynisch gegenüber dem angerichteten Elend, das keineswegs unvermeidlich war, und zweitens extrem geschönt. Denn ob und wie dauerhaft es aufwärts geht ist sehr fraglich. Die Zerstörungen an Wohlstand und Wirtschaftsleistung werden auf jeden Fall sehr lange Zeit nicht aufgeholt werden. Es ist aber auch eine einseitige und in mehrfacher Hinsicht falsche Sichtweise.
Denn der Abbau des Außenhandelsdefizits der Krisenländer liegt in hohem Maße am Rückgang der Importe durch die schrumpfende Wirtschaft und die sinkenden Einkommen. Auch sinkende Preise für Energieimporte spielen eine Rolle. Das bietet aber keinen Weg zu einer dauerhaften ökonomischen Stärkung oder gar zu einem sozial und ökologisch ausgerichteten qualitativen Wachstum. Dafür müsste die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und auch der Exportsektoren dieser Länder nachhaltig gestärkt werden. Die Energiewende zu Wind und Solarenergie muss vorangetrieben werden, auch um Importe zu sparen. Dazu braucht es große Investitionen und nicht Kürzungspolitik. Diese birgt zudem die Gefahr einer Deflation. Und so oder so gilt: Die nächste Krise kommt bestimmt, die einzige Frage ist wann, und dann sind die positiven Prognosen ohnehin Makulatur.
Auch in Bezug auf Deutschland sind die stagnierenden Lohnkosten natürlich nicht der einzige Grund für die hohen Exporte und Überschüsse. Das wird von den Industriegewerkschaften betont. Deutschland hat eine starke Weltmarktposition in zentralen Bereichen von Fahrzeugbau, Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik, und die hat profitiert vom Wachstum und den Investitionen anderer Länder. Im vergangenen Jahrzehnt waren das in beachtlichem Maße auch die heutigen Krisenländer, Spanien etwa. In den letzten Jahren sind es zunehmend China und andere Schwellenländer. Das hat vor allem mit qualitativen Aspekten zu tun, die Löhne in diesen Industriebereichen sind absolut betrachtet relativ hoch.
Aber das bedeutet nicht, dass die Lohnentwicklung dafür nicht wichtig war und ist. Denn diese starke Position der deutschen Industrie gibt es schon länger, aber dennoch sind die Exportüberschüsse erst seit der Währungsunion dermaßen explodiert. Deutschland hatte schon früher geringere Inflationsraten und Lohnsteigerungen als andere Länder, insbesondere die in Südeuropa. Aber das wurde immer wieder durch Aufwertungen ein Stück weit kompensiert. Dadurch stiegen die Preise für deutsche Produkte auf dem Weltmarkt, und einen gewissen Effekt auf die Wettbewerbsfähigkeit hat das dann schon. Außerdem hat Deutschland mittlerweile Überschüsse auch in Bereichen, wo das offenbar auch mit Lohndumping zu tun hat, ich erinnere nur an die Verhältnisse in der Fleischverarbeitung.
Deutschlands stagnierende Löhne und Binnenwirtschaft
Und es gibt einen zweiten Wirkungszusammenhang. Vor der Währungsunion führten die DM-Aufwertungen auch zu einem erhöhten Realwert der deutschen Einkommen. Importe und Auslandsaufenthalte wurden billiger. Auch das fiel im Euroraum aus, es gab keinen Ausgleich mehr für die schwache deutsche Lohnentwicklung, die Ungleichgewichte wurden immer größer.
Die Löhne speisen direkt als Nettolöhne und indirekt über die daraus finanzierten Sozialeinkommen den Hauptteil der Konsumnachfrage und damit einen großen Teil der inländischen Gesamtnachfrage. Im vergangenen Jahrzehnt stagnierte aufgrund der schlechten Lohnentwicklung die Konsumnachfrage in Deutschland. Zugleich wurden auch die sozialstaatlichen Ausgaben beschränkt und relativ zur Wirtschaftsleistung abgebaut. Das bedeutete in der Konsequenz auch stark gedämpfte Importnachfrage. Der Überschuss ist ja die Differenz aus Exporten und Importen. Wären die deutschen Importe, dazu zählen auch Ausgaben deutscher Touristen im Ausland, ebenso kräftig gestiegen wie die Exporte, gäbe es keinen immer größeren Überschuss.
Die schwache Entwicklung der Binnennachfrage verstärkte gleichzeitig die Auslandsorientierung der deutschen Wirtschaft. Die Exportsteigerungen wurden nicht in heimische Kaufkraft umgesetzt, sondern in explodierende Unternehmensgewinne, die eben nicht im Inland investiert wurden, sondern direkt im Ausland investiert oder die über die liberalisierten internationalen Finanzmärkte ins Ausland flossen. Und zwar zu einem großen Teil auch in die heutigen Krisenländer. Denn die dort steigenden Defizite mussten ja finanziert werden, und zwar über die internationalen Finanzmärkte. Letztlich aus Ländern mit Überschüssen, also insbesondere auch aus Deutschland. Es ist dann überhaupt nicht zufällig, dass gerade auch die deutschen Banken massive Forderungspositionen gegenüber den Krisenländern aufgebaut hatten, die durch die Euro-Krise bedroht waren und die durch die sogenannte Rettungspolitik dann gerettet wurden.
In den heutigen Krisenländern fand vor der Krise ein stark verschuldungsgetragener oder -getriebener Boom statt, der sozusagen die andere Seite der Medaille der deutschen Überschüsse darstellt. Auch das hatte mit der Währungsunion zu tun, weil relativ zu der dort höheren Inflationsrate die Zinsen sehr niedrig, viel niedriger als früher waren, und dies begünstigte die Verschuldung. Die Überschüsse bzw. die Vermögenden und die Unternehmen und die Banken Deutschlands und anderer Länder suchten und fanden dort Anlagemöglichkeiten für ihr Geldkapital. Wobei das letztlich eine Blase war, die da aufgepumpt wurde und in der Krise platzte.
Sinkende Lohnquoten in der EU, besonders in Deutschland
Vor diesem Hintergrund muss man auch die Lohnentwicklung in diesen Ländern betrachten. Diese war nämlich keineswegs exorbitant oder überzogen, wenn man sich die Reallöhne anschaut. Die Lohnzuwächse liefen vielfach den Preissteigerungen nur hinterher. Auch in diesen Ländern stiegen die Gewinne, es gab keineswegs eine Umverteilung zugunsten der Löhne und zu Lasten der Profite und Vermögenseinkommen. Das zeigt die Entwicklung der bereinigten Lohnquoten. Diese sind nämlich in fast allen kapitalistischen Ländern seit Anfang der 1980er Jahre, also seit weit über 30 Jahren, seit der Neoliberalismus sich zunehmend durchgesetzt hat, kräftig gesunken. Und das hat auch im letzten Jahrzehnt stattgefunden, auch in den Krisenländern, aber besonders heftig in Deutschland, wegen unserer miesen Lohnentwicklung.
Man muss sich ganz grundlegend einen Punkt klarmachen, wenn man die Entwicklung der Lohnstückkosten beurteilt. Der Maßstab, die Benchmark für die Entwicklung der Lohnstückkosten ist keineswegs die Nulllinie. Das sehen höchstens Unternehmer und Neoliberale so. Sondern die Messlatte für eine halbwegs stabile Entwicklung ist eine kontinuierliche Steigerung der Lohnstückkosten etwa oder mindestens in Höhe der Zielinflationsrate, die die EZB mit knapp zwei Prozent vorgegeben hat.
Wenn man sich die Grafik der Lohnstückkostenentwicklung ansieht ist ganz klar, wo das Hauptproblem der Lohnentwicklung in Europa liegt: bei der viel zu niedrigen Lohnentwicklung in Deutschland. Seit 2009 sieht es etwas besser aus. Demnächst werden wir einen Mindestlohn und eine gewisse Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen bekommen. Das dürfte stabilisierend wirken, auch wenn der Mindestlohn sehr niedrig ist.
Anders als in den allermeisten Ländern hat Deutschland gegenwärtig auch keinen Druck der EU-Kommission, die Löhne zu drücken. Im Gegenteil, in ihrem Bericht zu den Ungleichgewichten in Bezug auf Deutschland vom Februar 2014 schreibt die Kommission einiges Richtiges, was unsere Position bestätigt und stützt und was wir der Politik und den Unternehmern in Deutschland unter die Nase reiben können, wenngleich das sehr geschminkt und oft neoliberal verpackt formuliert wird. Das geht bis zu solchen Formulierungen: „Der Zuwachs bei den Unternehmensersparnissen ist vor dem Hintergrund des durch Lohnzurückhaltung gestützten kräftigen Anstiegs der Betriebsgewinne vor der Krise zu sehen. Genutzt wurde dieser Ersparniszuwachs nicht für Investitionen, sondern für den Erwerb finanzieller Vermögenswerte und zum Schuldenabbau. (...) Angesichts der soliden öffentlichen Haushalte wäre Deutschland gut beraten, die ausgesprochen niedrigen Zinsen als Gelegenheit für Investitionen in solide zukunftsorientierte Projekte zu nutzen. Wichtig wird es insbesondere sein, die in den letzten Jahren bereits verstärkten Bildungsausgaben und Investitionen in die Infrastruktur weiter aufzustocken. (...) Um die Binnennachfrage weiter zu stärken, sollten geeignete Bedingungen zur Begünstigung des Lohnwachstums geschaffen werden.“[5]
Das will die Bundesregierung möglichst klein reden beziehungsweise so darstellen, dass dies schon realisiert werde. Aber tatsächlich reichen die bisherigen Verbesserungen der Lohnentwicklung und die geplanten Reformen längst nicht aus, und leider ist es schon zu spät: die Katastrophen in Südeuropa sind schon passiert und setzen sich fort. Die soziale Alternative zur Kürzungspolitik wären gewesen und sind aber auch weiterhin massiv erhöhte Lohnzuwächse in Deutschland verbunden mit EU-weiten Aufbau- und Investitionsprogrammen, die möglichst durch Abgaben auf die Millionenvermögen finanziert werden sollten. Und in den Krisenländern stabile, nicht sinkende Löhne.
So gesehen sind auch jetzt die Lohnzuwächse in Deutschland weiterhin zu gering. Richtig wären gesamtwirtschaftliche Lohnsteigerungen hierzulande, die etliche Jahre klar über der Summe aus Trendproduktivitätszuwachs von 1 oder 1,5 Prozent plus Zielinflationsrate von 2 Prozent liegen, die also möglichst bei mindestens 4 Prozent pro Jahr, also bezogen auf 12 Monate liegen müssten. Um eine Angleichung der Lohnstückkosten nach oben hinzubekommen. Auch wenn davon auszugehen ist, dass dies auf absehbare Zeit nicht durchzusetzen sein wird, so bleibt der Zusammenhang doch richtig.
Neoliberale Economic Governance in der EU
Diese Orientierungen treffen auf entschiedenen Widerstand der Kapitalseite und der Neoliberalen. Hierzulande machen die harten Neoliberalen schon wieder verstärkt Kampagne, weil ihnen die bescheidenen Korrekturen am Umverteilungskurs von unten nach oben der letzten Jahrzehnte, die die Große Koalition jetzt vornimmt, schon zu weit gehen. Eine solche Orientierung ist aber auch von der EU-Kommission keineswegs gewollt, sondern sie stünde auch im Widerspruch zu den Zielsetzungen der Kommission und der Economic Governance, wie sie in den letzten Jahren in diversen Beschlüssen und Verordnungen der EU verankert worden ist.
Denn diese ist ganz eindeutig darauf gerichtet, zwar zugespitzte Krisen zu vermeiden, aber den Kurs der Umverteilung zugunsten der Gewinne und Vermögen fortzusetzen. Die ganzen Benchmarks der Economic Governance der EU, festgeschrieben in den Verordnungen zum Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und zugehörigem Scoreboard („Anzeiger“), sind asymmetrisch. Bekämpft werden zu hohe, nicht zu niedrige Lohnzuwächse, bekämpft werden Defizite, nicht Überschüsse.[6] Was in den Texten der EU „Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit“ heißt und faktisch das höchste Ziel zu sein scheint, ist nur eine schöner klingende Umschreibung für Steigerung der Unternehmensgewinne und damit fortgesetzte Lohndämpfung. Das ist in EU-Recht gegossener Klassenkampf von oben.
Die zunehmenden Deflationstendenzen, also die Gefahr sinkenden Preisniveaus im Euroraum und einer daraus resultierenden Spirale schrumpfender Einkommen, Konsums, Investitionen und Wirtschaftsleistung zeigen das ökonomische Problem, das selbst aus Sicht des Kapitals mit dieser Politik verbunden ist. Dagegen geht jetzt die Europäische Zentralbank mit ihren Zinssenkungen und Krediterleichterungen vor. Das wird aber alles keinen durchschlagenden Erfolg haben können, solange in großen Teilen des Euroraums weiterhin die Löhne und die öffentlichen Ausgaben abgebaut werden und damit die Kosten und die Nachfrage sinken. Ein Verfall der Preise ist unter diesen Bedingungen fast unvermeidlich.
Eine wirksame Politik gegen Krise und Deflation wird nur gelingen, wenn auch die Finanzpolitik auf einen expansiven Kurs umschwenkt und die öffentlichen Ausgaben und insbesondere Investitionen deutlich ausweitet, und wenn zugleich die Löhne nicht mehr sinken, sondern EU-weit wieder steigen. Dann werden auch die privaten Investitionen wieder zunehmen. Das entspricht aber nicht der ökonomisch-politischen Strategie der dominierenden Kräfte in der EU.
Die EU-Kommission und die Bundesregierung verkaufen es jetzt als Erfolg, dass die innereuropäischen Ungleichgewichte geringer werden, zugleich aber die Überschüsse Deutschlands überhaupt nicht sinken. Das läuft darauf hinaus, den Euroraum und die EU insgesamt gegenüber dem Rest der Welt zu einer gewaltigen Überschussregion zu machen. Überspitzt gesagt ist das Ziel, die ganze EU ökonomisch zu einem großen Deutschland zu machen, das auf den Weltmärkten andere Länder niederkonkurriert und so der europäischen Exportindustrie sprudelnde Gewinne beschert.
Das kann aber letztlich nicht funktionieren. Zum einen verfestigt und verstärkt dieser Kurs Ungleichgewichte im Weltmaßstab. Weil da muss es ja dann irgendwo die Defizitländer geben, konkret die USA und Schwellenländer. Das wird sich in künftigen Krisen entladen und nebenbei auch zur massiven Vernichtung deutscher und europäischer Auslandsvermögen führen, die auf diese Weise aufgehäuft werden. Das war ja schon bei der von den USA ausgehenden weltweiten Finanzkrise 2008 so und wird sich dann wiederholen. Zum zweiten kennzeichnet der extrem hohe Export- und Industrieanteil Deutschlands eine besondere Rolle in der internationalen Arbeitsteilung. Diese Rolle können aber nur einige Länder und nicht alle oder sehr viele haben, das müsste eigentlich völlig klar sein. Deutschland kann daher nicht realistisch Vorbild für viele andere Länder oder die ganze EU sein.
Gewerkschaftliche Schlussfolgerungen
Schlussfolgerung 1: Notwendig ist ein alternativer, verstärkt und vorrangig binnenwirtschaftlich ausgerichteter Entwicklungspfad. Dazu gehören andere Verteilungsverhältnisse, also eine stetig steigende Lohnentwicklung in ganz Europa. Aber ebenso eine Stärkung der öffentlichen und sozialstaatlichen Ausgaben und Leistungen und die dazu notwendige Finanzierung. Also statt Senkung eine Erhöhung der Staatsquoten in den meisten europäischen Ländern, insbesondere auch in Deutschland. Hier liegen auch riesige Potenziale und Erfordernisse für gesellschaftlich nützliche zusätzliche Beschäftigung zum Abbau der Massenerwerbslosigkeit.
Schlussfolgerung 2: Die Gewerkschaften in der EU und insbesondere im Euroraum müssen sich stärker koordinieren und versuchen, gemeinsam eine Lohnentwicklung wie beschrieben und gefordert durchzusetzen. Es gibt dazu seitens des Europäischen Gewerkschaftsbundes auch wieder verstärkte Bemühungen – nach eigener Einschätzung bisher nicht besonders erfolgreich.[7] Orientierung ist dabei mindestens den „verteilungsneutralen Spielraum“ aus Preissteigerung plus Produktivitätssteigerung auszuschöpfen. Als Preissteigerung soll dabei die EZB-Zielinflation von knapp zwei Prozent angesetzt werden. Sollte die reale Inflation allerdings höher liegen ist das zu berücksichtigen, die absolute Untergrenze der Lohnentwicklung muss die Reallohnsicherung sein.
Schlussfolgerung 3: Die Gewerkschaften müssen auch verstärkt gemeinsam Druck für eine alternative wirtschaftspolitische Ausrichtung entwickeln und diese durchsetzen. Konkret tut der Europäische Gewerkschaftsbund letzteres mit dem Vorschlag und einer Kampagne für ein großes europäisches Investitions- und Aufbauprogramm „A new path for Europe“[8]. Den Anstoß dazu hat der Deutsche Gewerkschaftsbund gegeben mit seinem Vorschlag für einen „Marshallplan für Europa“[9]. Die reale Aktivität und Druckentwicklung hält sich allerdings in Grenzen. Es ist sehr schwierig eine internationale Mobilisierung hinzubekommen, erst recht für ein relativ abstraktes Anliegen und wenn keineswegs alle Gewerkschaften wirklich dahinter stehen.
Es dürfte aber auch deutlich geworden sein, welche Widerstände insgesamt überwunden werden müssen um solche Vorstellungen durchzusetzen. Es geht nicht einfach um mehr oder weniger Koordinierung, sondern es geht um die Ausrichtung dieser Koordinierung, das ist m.E. der Kernpunkt der Auseinandersetzung. Die herrschenden, kapitalistischen und mehr oder minder neoliberalen Kräfte in der EU wollen eine Koordinierung für stetig steigende Gewinne und Privatvermögen und Expansion der Unternehmen. Wir wollen eine Koordinierung für stetig steigende Löhne, Sozialstaat und Wohlstand für alle. Das sind Interessengegensätze.
Widerstände und Probleme solidarischer Alternativen
Und außerdem gibt es massive Probleme, eine wirksame, gar solidarische Koordinierung der Lohnentwicklung auch zwischen und sogar innerhalb der Gewerkschaften durchzusetzen. Wenn es konkret wird, gibt es massive Vorbehalte der Gewerkschaften, Rechenschaft über ihre Tarifpolitik abzulegen und „Außenstehende“ da rein reden zu lassen. Die abstrakte Orientierung in Grundsatzerklärungen für eine stärkere europäische Koordinierung steht in Kontrast zu der begrenzten Bereitschaft dazu, wenn es konkret wird. Das gilt schon innerhalb des eigenen Landes und selbst zwischen den Fachbereichen innerhalb einer Gewerkschaft.[10]
Auch ungleiche Entwicklung der Löhne gibt es nicht nur zwischen verschiedenen Staaten, sondern auch zwischen verschiedenen Wirtschaftsbereichen innerhalb einzelner Länder. Dabei gehe ich davon aus, dass die Löhne die Reproduktionskosten der Lohnabhängigen zu decken haben und dass die Entwicklung der Löhne abgesehen von eher kurzfristigen Abweichungen aufgrund unterschiedlicher Branchenentwicklungen der gesamtwirtschaftlichen Produktivitäts- und Preisentwicklung folgen sollte. Tatsächlich hat es dort krasse Verschiebungen gegeben. Nun wäre es dies ja gut und wünschenswert, wenn dadurch ungerechtfertigte Lohnunterschiede geringer und vorher unterbewerte Arbeiten aufgewertet worden wären. Aber es ist eher das Gegenteil der Fall.
So sind die durchschnittlichen Arbeitnehmerentgelte je Stunde nach Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung von 1970 bis 2013 in der Industrie von hundert auf 125 Prozent des Durchschnitts gestiegen. Gleichzeitig sanken sie im Baugewerbe von 100 auf 85 Prozent, in Handel und Gastgewerbe von 90 auf 79 Prozent, bei öffentlichen und sonstigen Dienstleistungen von 110 auf 98 Prozent. Dabei spielen erheblich Veränderungen in der Struktur der Beschäftigung und innerhalb dieser breiten Wirtschaftsbereiche eine Rolle. Aber wir haben auch krasse Verdienstunterschiede zwischen Beschäftigten, die in etwa ein gleiches Qualifikationsniveau ihrer Tätigkeit aufweisen, und die müssten auch etwa gleich bezahlt werden. Wir fordern ja immer gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit.
Tatsächlich zeigt die Verdienststatistik, in der die Beschäftigten in verschiedene Leistungsgruppen eingeteilt werden, gewaltige Unterschiede. Etwa bei Fachkräften mit Berufsausbildung und Erfahrung (Leistungsgruppe 3) reichen die Bruttostundenverdienste von Vollzeitbeschäftigten (ohne Sonderzahlungen) von 25 Euro im KFZ-Bau und über 22 Euro in der Energieversorgung bis zu 13,60 Euro im Einzelhandel und elf Euro im Gastgewerbe. Damit verbunden ist auch eine geschlechtsspezifische Ungleichheit, über alle Branchen liegen die Durchschnittsverdienste männlicher Fachkräfte bei knapp 18 Euro je Stunde, die der Frauen bei 15,70 Euro.[11] Und es sind in den letzten Jahrzehnten oft gerade die ohnehin schlecht Bezahlten, die weiter verloren haben. Das gilt zwischen, aber auch innerhalb der einzelnen Branchen.
Dafür gibt es eine Reihe von längerfristig wirkenden gesellschaftlichen und ökonomischen und mit der Stärke der Gewerkschaften zusammenhängenden Ursachen und auch solche, die mit der Arbeitsmarktpolitik und Finanzpolitik der vergangenen Jahrzehnte zu tun haben. Dies soll hier nicht weiter diskutiert werden. Es zeigt aber jedenfalls, dass für eine wirklich solidarische Lohnpolitik auf allen Ebenen in den kommenden Jahrzehnten noch riesige Herausforderungen warten, die teilweise bisher noch nicht einmal Thema sind und die nicht unmittelbar betroffenen Gewerkschaften auch kaum interessieren.
[1] Der Text beruht wesentlich auf einem Vortrag auf dem 10.Workshop Europäische Tarifpolitik von ver.di und WSI am 8./9. Mai 2014, https://www.verdi.de/wegweiser/tarifpolitik/veranstaltungen.
[2] http://ec.europa.eu/economy_finance/explained/the_financial_and_economic_crisis/why_did_the_crisis_happen/index_de.htm.
[3] Alle Daten entstammen der AMECO-Datenbank der EU, http://ec.europa.eu/economy_finance/db_indicators/ameco/index_en.htm.
[4] Vgl. http://ec.europa.eu/economy_finance/eu/forecasts/2014_spring_forecast_en.htm.
[5] http://ec.europa.eu/economy_finance/economic_governance/documents/ocp174.pdf.
[6] Vgl. http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-13-979_de.htm; http://ec.europa.eu/economy_finance/economic_governance/macroeconomic_imbalance_procedure/index_en.htm, http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-13-970_de.htm.
[7] Vgl. http://www.etuc.org/documents/etuc-coordination-collective-bargaining-and-wages-eu-economic-governance#.U5i_oChAeAY, http://collective.etuc.org/.
[8] Vgl. http://www.etuc.org/new-path-europe.
[9] Vgl. http://www.dgb.de/themen/++co++985b632e-407e-11e2-b652-00188b4dc422.
[10] Vgl. zu diesem Komplex den Beitrag von Jörg Wiedemuth auf der ver.di/WSI-Tagung 2014, https://www.verdi.de/wegweiser/tarifpolitik/++file++537a02d4bdf98d4d1b00006e/download/Joerg%20Wiedemuth.pdf.
[11] https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/VerdiensteArbeitskosten/Arbeitnehmerverdienste/ArbeitnehmerverdiensteJ2160230137005.xlsx?__blob=publicationFile.