Die Kohlemine von Soma war vor nicht allzu langer Zeit privatisiert worden; die Förderkosten wurden durch Verzicht auf Investitionen sowie die Beschäftigung von günstig operierenden Subunternehmen gesenkt. Große Teile der Gewinne investierten die Besitzer der Mine in den Bau von Luxuswohnungen in Istanbul – die Minengesellschaft operierte als Mischholding und transferierte den extrahierten Mehrwert in jenen Sektor der türkischen Ökonomie, der mit die besten Verwertungschancen bot – in den nicht zuletzt durch staatliche Interventionen stark geförderten Immobiliensektor. Dieser Transfer von industriell generierten Profiten in den Immobilen- oder den Finanzsektor ist geradezu typisch für das in der gegenwärtigen Türkei vorherrschende Akkumulationsmodell. So beruhten die hohen Wachstumsraten der 2000er Jahre nicht auf einem starken Anstieg der industriellen Investitionen oder gar einer Redistribution zwischen den Klassen, sondern auf einer Finanzialisierung der Ökonomie. Eine technisch veraltete, unproduktive und unsichere Industrie ist noch immer für die Türkei charakteristisch – zwischen dem Regierungsantritt der AKP Ende 2002 und dem Grubenunglück vom Mai 2014 waren über 1.000 Kohlearbeiter bei Arbeitsunfällen umgekommen, und in anderen Sektoren sieht es ähnlich dramatisch aus. Zugleich erlebt die Türkei steigenden Privatkonsum als einen ihrer Wachstumsmotoren. Auch die Stammbelegschaft der Kohlegrube konnte daran teilhaben, denn die Betreibergesellschaft der Grube verkaufte ihnen Eigentumswohnungen – auf Kredit. Und die Notwendigkeit, den Kredit zu bedienen, stellte nicht zuletzt die Disziplin der Arbeiter sicher. Auch dies ist typisch für das Leben von Millionen Menschen in der Türkei – bis hinein in die Mittelschichten.
Doch wie kam es, dass trotz offenkundiger und weithin bekannter Missstände im Arbeitsschutz die Minen von den Gruben-Inspektionen als sicher, sogar als mustergültig eingestuft wurden? Um von Privatisierungen zu profitieren, sind enge Beziehungen zur regierenden islamistischen AKP unabdingbar. Soma wirft ein Schlaglicht auf die politische Ökonomie der Wohltätigkeit: Die Eigentümer der Mine spendeten regelmäßig Kohle, die die AKP dann in ärmlichen Wohnquartieren verteilen ließ. Dabei nahm sie offensiv Rekurs auf die Pflicht der Muslime zur Wohltätigkeit. Fotos der Kohlesäcke aus Soma mit dem Logo der Partei kursierten nach der Katastrophe in den sozialen Netzwerken. Dieser Zusammenhang zwischen Privatisierung, verschärfter kapitalistischer Ausbeutung und islamistischer Wohltätigkeit (die Spenden waren letztlich Bruchteile des den Arbeitern abgepressten Extraprofits) konnte seit der neoliberalen Wende 1980 häufig beobachtet werden. So verdichteten sich im Grubenunglück von Soma Muster, die für die Gegenwart des Kapitalismus und die konkrete Gestalt der Klassenbeziehungen in der Türkei charakteristisch sind. Nicht zuletzt deshalb wuchsen die Proteste gegen die Verantwortlichen so rasch an und erfassten eine ganze Reihe von Städten – wurden aber nach dem bekannten Muster mit äußerster Härte niedergeschlagen. Sogar der Ministerpräsident legte selbst Hand an.
Später suchte das AKP-Establishment die Ursache für die Tragödie in der Profitgier ihrer Eigentümer. Damit sollte von der politischen Verantwortung für die Tragödie abgelenkt werden, die sich aus der Privatisierung der Mine und der Nicht-Umsetzung wirksamer Kontrollen staatlicher Behörden ergibt. In diesem Kontext wurde auch der Vorstandsvorsitzende der Soma-Holding festgenommen und es wurden Verfahren wegen fährlässiger Tötung eingeleitet, während juristische Konsequenzen für die politisch und aufsichtsrechtlich Verantwortlichen ausblieben.
Obgleich alle Präsidentschaftskandidaten sich an der Seite der Opfer von Soma wähnen, spielt der gegenwärtige türkische Neoliberalismus kaum eine Rolle im Wahlkampf. Gegen Recep Tayyip Erdoğan, Ministerpräsident und Kandidat der AKP, haben die kemalistische CHP und die ultrantionalistische MHP Ekmeleddin İhsanoğlu, von 2005 bis 2013 Generalsekretär der Organisation der Islamischen Konferenz und damit ein Politiker, der selbst in das neoosmanische Projekt der AKP-Regierung eingebunden war, aufgestellt. Sie folgten dabei dem Gusto, wenn die AKP bislang mit islamisch-konservativen Kandidaten gepunktet habe, so brauche die Opposition auch einen solchen, so sie denn gewählt werden möchte. Den Nexus von kapitalistischer Exploitation und staatlich forciertem kulturellem Konservatismus, der gerade in der Tragödie von Soma so offen zu Tage trat, stellt dieser Kandidat nicht in Frage, vielmehr hat er ihn selbst jahrelang verkörpert. So droht der CHP der Verlust alevitischer und säkularer Wähler, die wenigstens noch eine laizistische Politik erwartet hatten. Die aus der kurdischen Bewegung hervorgegangene HDP hat dagegen mit Selahattin Demirtaş einen säkularen Kandidaten aufgestellt. Mit den Forderungen nach einer Dezentralisierung des türkischen Staates und einer liberalen Geschlechterpolitik sind klassische Kernthemen der kurdischen Bewegung auch im Wahlkampf präsent. Durch wiederholte Vergleiche zwischen der Repression der kurdischen Bewegung und der Repression der Gewerkschaftsbewegung hat die HDP versucht, symbolisch eine Brücke zwischen den verschiedenen Momenten staatlicher Gewalt in der Türkei zu schlagen. Letztlich lässt sich die Kernprogrammatik der HDP in diesem Wahlkampf jedoch als eine beschreiben, die mehr auf den staatlich-konstitutionellen Bedingungsrahmen sozialer Kämpfe fokussiert, als auf die Frage der Ausbeutung an sich. Letzteres hat insofern seine Berechtigung, als dieser Rahmen in der Türkei längst zerstört worden ist. Die Kämpfe um die Frage der Ausbeutung zu führen wird letztlich die Aufgabe der Lohnarbeitenden bleiben – denn die Zukunft des türkischen Neoliberalismus oder gar des Kapitalismus wurde nicht zur Wahl gestellt.