Zwei Monate nach den EU-Wahlen hatte die Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) zu einem „European Workshop on the Situation of the Left in Europe after the EU Elections: New Challenges“ eingeladen. Moderiert von Cornelia Hildebrandt, der stellvertretenden Direktorin des RLS-Instituts für Gesellschaftsanalyse und Mitherausgeberin mehrerer Sammelbände über linke Parteien in Europa[1], referierten und diskutierten fast vierzig Wissenschaftler, Vertreter des europäischen Transform-Netzwerkes linker Parteistiftungen sowie Mitarbeiter und Mitglieder verschiedener Linksparteien.
Das Eingangsreferat hielt Gerassimos Moschonas (Panteion Universität Athen) über die westeuropäische Sozialdemokratie. Er konstatierte für die Jahre 1950 bis 2009 starke Stimmenverluste und eine zunehmende Fluktuation der Ergebnisse. Die Sozialdemokratie stecke in einer tiefen Krise, weil der Niedergang stetig sei und sie „ihre Persönlichkeit“, ihre Identität, verloren habe.
Diese Einschätzung wurde auch durch die EU-Wahlen bestätigt. Die sozialdemokratische Fraktion verlor fünf Mandate. Dass der Stimmenanteil nicht unter das sehr niedrige Niveau von 2009 sank, verdankte sie vor allem dem überragenden Ergebnis der Demokratischen Partei Italiens, die allerdings als Fusion der früheren PCI mit diversen bürgerlichen Parteien nur schwerlich der traditionellen Sozialdemokratie zuzuordnen ist.
Das Abschneiden der radikalen Linken blieb hinter den Erwartungen zurück. Zwar wuchs die linke Fraktion Vereinigte Europäische Linke/Nordisch-Grüne Linke (GUE/NGL) um fast 50 Prozent auf 52 Sitze. Den Teilnehmern lag aber eine Analyse aller Stimmenergebnisse von Paolo Chiocchetti (King’s College London) vor, die diesen Zuwachs relativierte[2]. Danach erhöhten die Parteien links der Sozialdemokratie in den 28 Mitgliedsstaaten ihren Stimmenanteil von 6,92 Prozent auf 7,96 Prozent. Das ist zwar das beste Ergebnis seit 1989, aber doch ein höchst bescheidener Erfolg angesichts der Krise und der Austeritätspolitik.
Walter Baier (Koordinator des Transform-Netzwerkes, Wien) verwies ebenso wie Chiocchetti auf eine sehr ungleiche Entwicklung in den einzelnen Regionen. Im „Europa der 9“ wie es zur ersten EU-Wahl 1979 bestand, ist der Stimmenanteil der radikalen Linken von 6,74 (2009) auf 5,14 Prozent gefallen, trotz Zuwächsen in den Benelux-Staaten und Irland. Dies ist durch das bisher schlechteste Ergebnis in Frankreich, die Dauerkrise der britischen Linken und die Stimmenverluste in Italien bedingt, auch wenn durch das Überspringen der 4-Prozent-Hürde durch die Tsipras-Bündnis-Liste Hoffnung besteht, dass die italienische radikale Linke wieder zusammenfindet.
Im „Europa der 13“ (EU-Erweiterung seit 2004, vor allem Osteuropa) ist die radikale Linke – außer in Tschechien – mit 1,52 Prozent kaum präsent.
Die besten Ergebnisse erzielte die radikale Linke in den Krisenstaaten Griechenland, Portugal, Spanien, Irland und Zypern mit Anteilen zwischen 21 und 35 Prozent.
Die Rechtspopulisten und Neofaschisten haben erheblich stärker abgeschnitten als die radikale Linke. Sie konnten, wie in mehreren Beiträgen untersucht wurde, vor allem auf Kosten der christdemokratischen Parteien und in erster Linie in den reichsten Ländern stark zulegen.
Aufschlussreich für die Analyse der Erfolge und Misserfolge der radikalen Linken waren einige Länderbeispiele.
Luis Ramiro (Universität Leicester) zeigte, wie in Spanien die zunehmend negative Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Situation mit einem ebenso tiefen Verlust des Vertrauens in die Regierungsparteien und die größte Oppositionspartei einherging. Die regierenden Konservativen (PP) und die Sozialisten (PSOE) sanken erstmals zusammen auf einen Wähleranteil von weniger als 50 Prozent. Diese Bedingungen machten es möglich, dass die neue Liste Podemos aus dem Stand heraus auf 8 Prozent kam und die Vereinigte Linke (IU) von 4 auf 10 Prozent anstieg.
Anej Korsika (internationaler Koordinator der 2013 gegründeten slowenischen Initiative für Demokratischen Sozialismus, IDS) präsentierte die einzige osteuropäische Erfolgsgeschichte. Er war besonders guter Laune, weil es der Vereinigten Linken (ZL, dem im März gegründeten Bündnis aus der radikalen IDS und zwei kleineren Parteien) eine Woche vor dem Workshop gelungen war, mit 6 Prozent ins nationale Parlament einzuziehen. Bei den EU-Wahlen hatte die ZL bereits 5,5 Prozent erzielt. Die IDS war aus den Massenprotesten von 2012/13, die sich gegen Korruption und Austeritätspolitik richteten, entstanden und vor allem von jungen Menschen gegründet worden. Dies steht im starken Kontrast zu den erfolglosen Versuchen in Osteuropa, aus Splittern der ehemals kommunistischen Parteien linke Alternativen aufzubauen.
Richard Dunphy (Universität Dundee) überraschte durch die Feststellung, dass in Irland zwölf Marxisten im Parlament säßen. Sechs davon gehörten vier verschiedenen Parteien an und die anderen wären als Unabhängige gewählt worden. Als stärkste linke Partei entpuppte sich bei den EU-Wahlen jedoch die nationalistische Sinn Fein, die neben dem Mandat in Nordirland mit 19,5 Prozent drei weitere Sitze im Süden gewann. Die an der Regierung beteiligte Labour Partei ging mit 5,3 Prozent ebenso wie Parteien der radikalen Linken mit 3,3 Prozent leer aus. Letztere erzielten bei den parallelen Kommunalwahlen aber über 13 Prozent der Stimmen in Dublin.
Dunphy ging davon aus, dass SF nach den Parlamentswahlen 2016 zusammen mit der konservativen Fianna Fáil, die sich 1926 von Sinn Fein abspaltete, eine Regierung bilden wolle. SF hätte erklärt, dass alles außer der irischen Einheit verhandelbar sei. Falls von den sozialen Versprechen der SF wenig übrig bliebe, könnte die Stunde der marxistischen Linken schlagen. Sie müssten aber aufhören „sich wie kleine Kinder zu benehmen“.
Giorgios Charalambous (Universität Zypern) führte den Rückgang der AKEL von 35 Prozent auf 27 Prozent auf ihre Regierungszeit (2008-2013) zurück. Der Sieg des AKEL-Kandidaten Dimitris Christofias bei der Präsidentschaftswahl 2008 habe viele Hoffnungen geweckt. Von Anfang an wären Medien, Kirche und Opposition sehr negativ eingestellt gewesen. Die Krise habe schließlich zu einer linken Austeritätspolitik geführt. Die Regierung habe keine wichtigen Reformen durchgeführt und die unteren Schichten nicht genug unterstützt. Die AKEL habe die Politik des Präsidenten verteidigt und trotz ihrer enormen gesellschaftlichen Verankerung nicht außerparlamentarisch mobilisiert. Die Folge sei ein Verlust an Glaubwürdigkeit gewesen.
Die Vielzahl von Länderbeispielen war sehr informativ, erschwerte aber kontroverse Diskussionen, weil die wenigsten Teilnehmer ein Detailwissen über mehrere Länder haben. Verallgemeinerungen waren deshalb auch Grenzen gesetzt. Das Einbeziehen parteiunabhängiger Wissenschaftler erwies sich als vorteilhaft, da damit diplomatischen Rücksichtnahmen auf die Befindlichkeiten bestimmter Parteien zumindest teilweise Grenzen gesetzt werden konnten. 2015 soll ein ähnlicher Workshop stattfinden.
Nico Biver
[1] Zuletzt: Birgit Daiber/Cornelia Hildebrandt/Anna Striethorst, Von Revolution bis Koalition: Linke Parteien in Europa, Berlin 2010.
[2] Paolo Chiocchetti, Die radikale Linke und die EU-Parlamentswahl 2014, http://transform-network.net/de/blog/blog-2014/news/detail/Blog/-c5f323c33b.html