Georg Fülberth, Kapitalismus, PapyRossa, Köln 2010, 120 S., 9,90 Euro; ders., Sozialismus, PapyRossa, Köln 2010, 112 S., 9,90 Euro.
Mit den Bändchen „Basiswissen“ veröffentlicht der Kölner PapyRossa Verlag Einführungen in die zentralen Grundbegriffe aus Politik, Geschichte und Wirtschaft. Den ersten Band dieser Reihe verfasste der emeritierte Marburger Politikwissenschaftsprofessor Georg Fülberth zum Stichwort „Kapitalismus“. Gegliedert ist das Büchlein in zwei Teile: einen theoretischen und einen – wesentlich längeren – historischen. Der Theorieteil zeichnet sich insbesondere durch die ungemein präzise und ausführliche Erläuterung grundlegender Begriffe wie „Gewinn“, „Gesellschaft“ oder „Wirtschaft“ aus. Allgemein achtet Fülberth auf eine klare, flüssige Sprache, was dem Verständnis der an sich eher trockenen, theoretischen Materie zugute kommt.
Über den Begriff der „Akkumulation“ (den Fülberth im Gegensatz zur „Überakkumulation“ ausführlich diskutiert) – die ständige Ausdehnung der Kapitalmasse als Merkmal des Kapitalismus – kommt der Autor zur Begründung seiner nachfolgenden, gründlich ausgearbeiteten Beschreibung der Geschichte des Kapitalismus: Die Akkumulation, und damit auch der Kapitalismus, hat als Prozess eine Geschichte. Eine kapitalistische Gesellschaft nimmt aus diesem Grund immer neue Formen an, weswegen es nicht hinreichend ist, nur ihre Struktur zu beschreiben. Es bedarf ebenso einer historischen Darstellung.
Mit der Beschreibung des europäischen Feudalismus (6. bis 15. Jahrhundert u.Z.) als Vorgängergesellschaft beginnt Fülberth die Beschreibung der Geschichte des Kapitalismus. Denn die Krise des so genannten Chaotischen Langen 14. Jahrhunderts führte zur Reorganisation der Herrschaft durch die Staatsform des Absolutismus und zur Öffnung neuer Handelswege. Damit war der Weg zum ersten Typ des Kapitalismus – dem Handelskapitalismus mit dem ihm typischen Kaufmannskapital – geebnet. Zu diesem Zeitpunkt (1500 bis ca. 1780) hatte der Kapitalismus die Produktion jedoch noch nicht vollständig erfasst: Die Anwendung von Kapital existierte zwar in der Zirkulationssphäre, jedoch bloß in einer untergeordneten Rolle in der Produktion selbst, da Lohnarbeit noch keine durchgehende Tatsache war.
Eine zentrale Rolle für die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft schreibt der Verfasser den bürgerlichen Revolutionen der Niederlande, Englands und Nordamerikas zu, da diese – im Gegensatz zur französischen Revolution als Festlandsrevolution – von Staaten ausgingen, die einen führenden Anteil am sich entfaltenden Weltmarkt hatten und dadurch der Herausbildung eines weltweiten Handelskapitalismus den Weg ebneten.
Mit der ersten industriellen Revolution entstand schließlich neben dem bereits existierenden Markt für Güter und Dienstleistungen sowie dem Kapitalmarkt der Arbeitsmarkt mit einer völlig neuen Ware: der Arbeitskraft. Auch die Arbeitslosigkeit infolge zyklischer Krisen war zuvor, wenn überhaupt, nur in protokapitalistischen Enklaven bekannt. Das Ende der industriellen Revolution zeichnet Fülberth mit der Wirtschaftskrise von 1873 und einer nachfolgenden Periode verlangsamten Wachstums – ein Phänomen, das spätere Analytiker zur Entdeckung wirtschaftlicher Wechsellagen führte – nach, aus der der Kapitalismus in veränderter Form hervorging: Resultat waren die Organisierung des Kapitals (Selbstorganisation sowie deren Unterstützung durch den Staat) wie auch die der Arbeit (Entstehung stabiler Organisationen einerseits durch Unternehmer, andererseits durch Gewerkschaften und Arbeiterparteien). Der Imperialismus als systematische und konkurrierende Ausdehnung der Herrschaft von Industriestaaten über nicht bzw. geringfügig industrialisierte Gebiete entwickelte sich zur neuen Kapitalstrategie.
Über die Periode des „Katastrophenzeitalters“ (E. Hobsbawm) von 1914 bis 1945, charakterisiert u.a. durch die zweite industrielle Revolution, die Weltwirtschaftskrise von 1929ff. und die Etablierung des Faschismus gelangt Fülberth zur durch Wohlfahrtsstaat und Systemkonflikt geprägten Zeit nach 1945 bis 1973 und der nachfolgenden dritten industriellen Revolution der Informationstechnologie sowie der Entwicklung des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Die Reise in die Geschichte des Kapitalismus beendet der Autor mit einer Beurteilung der Weltwirtschaftskrise 2007 ff., deren Heftigkeit er mit der Verschleppung ihrer Vorgängerkrise von 1975 begründet. Das Grundproblem des aktuellen Kapitalismus – die Überakkumulation – könnte nach Fülberth allenfalls durch den Übergang in einen reproduktiven Kapitalismus behoben werden, in dem die vorhandenen Ressourcen zur qualitativen Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen, statt zur Vermehrung von Kapital eingesetzt werden. Die Herstellung einer solchen Transformation vom finanzgetriebenen zum reproduktiven Kapitalismus beurteilt Fülberth jedoch als eine schwere Aufgabe.
Durch eine starke Untergliederung der Kapitel, die jeweils einer logischen Grundstruktur folgen (z.B. die sich wiederholende Gliederung in „stoffliche Grundlagen“, „räumliches Arrangement“ oder „Staat und Politik“), gelingt es Fülberth, die komplexe Geschichte der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft auf nicht einmal hundert Seiten erstaunlich präzise und leicht verständlich nachzuzeichnen. Wie im theoretischen Teil des Bandes, wird auch hier großen Wert auf eine exakte Begriffserläuterung gelegt. Besonders hervorzuheben ist zudem das Literaturverzeichnis, welches durch einige wertvolle Anweisungen des Autors ergänzt wird: „Adam Smith, David Ricardo, John Maynard Keynes mit Hilfe von Werner Hofmann, Marx in großer Auswahl, Schumpeters ‚Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung’ vollständig und/oder Braudel, Hobsbawm, Max Weber: so kann man anfangen.“ (S. 112) Zum allerersten Einstieg in die Materie sei auf jeden Fall diese kleine Einführung empfohlen, die im deutschen Sprachraum ihresgleichen sucht.
Mit „Basiswissen Sozialismus“ legt Georg Fülberth sogleich die Einführung zum Gegenstück des Kapitalismus in der PapyRossa-Reihe nach. Vom Aufbau her sind sich die beiden Bände sehr ähnlich: einem theoretischen Teil folgt die historische Darstellung. Zunächst bestimmt der Autor die Verwendung des Begriffs „Sozialismus“ für (1) eine Gesellschaftsordnung, (2) eine politische Bewegung und ihre Theorie sowie (3) für ein untergeordnetes Organisationsprinzip in der kapitalistischen Gesellschaft. Für den Sozialismus als Ordnung ist die Verfügung einer Gesellschaft über die Produktions- und Zirkulationsmittel sowie über die Erbringung von Dienstleistungen durch den planenden, organisierenden und verteilenden Einsatz von politischen Institutionen zentral. Die auf eine solche Gesellschaftsordnung abzielenden Bewegungen und Theorien reagieren auf die kapitalistische Gesellschaft und wurden durch diese hervorgebracht, wodurch eine historische Eingrenzung entsteht: Für vorkapitalistische Ideen vermeidet Fülberth den Begriff „Sozialismus“ und wendet ihn nur an auf Bestrebungen, um den modernen Kapitalismus zu überwinden; auf die Ordnungen, die aus diesen Kämpfen zeitweilig entstanden sind; und auf ein Organisationsprinzip im Kapitalismus selbst.
Der Erläuterung des für die sozialistische Theorie konstituierenden Entwicklungsgedankens – dass also die angestrebte Gesellschaftsordnung nicht von heute auf morgen, sondern nur in einem längeren historischen Prozess realisierbar sei – folgt die historische Darstellung zum einen der sozialistischen Bewegungen seit der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, zum anderen des staatlich verfassten Sozialismus seit der Doppelrevolution des Jahres 1917 sowie drittens der innerkapitalistischen Vergesellschaftungstendenzen mithilfe politischer Regulierungen.
Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Veränderung des Kapitalismus und damit auch der sozialistischen Gegenbewegungen nach dem Ende der ersten industriellen Revolution kommt Fülberth auf die zunehmende Bedeutung der sozialistischen Ideen Marx’ und Engels’ zu sprechen und führt diese aus. Obwohl er selbst diesen Ausführungen nur wenige Seiten Platz lässt, gelingt es ihm, Marx’ Analyse der kapitalistischen Gesellschaft, dessen Vorstellungen über die Diktatur des Proletariats oder das Eigentum so verständlich wie möglich zu erläutern.
Bei der Beurteilung des sowjetischen Sozialismus kommt Fülberth unweigerlich zur Frage: „War das alles Sozialismus?“ Auch wenn diese Frage zumindest nach der Definition des Sozialismus als Verfügung einer Gesellschaft über die Produktionsmittel durch den planenden, organisierenden und verteilenden Einsatz von politischen Institutionen bejaht werden muss, so betont Fülberth gleichzeitig, dass der sowjetische Sozialismus zu keiner Zeit eine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (so der Wortlaut aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei“) war. Dennoch sieht der Autor beispielsweise in der nachholenden Modernisierung, der Arbeitsplatzsicherheit sowie einem größeren Maß an Gleichheit (den Privilegien der Nomenklatura zum Trotz) als im Kapitalismus einige Vorzüge des staatlich verfassten Sozialismus.
Zum Schluss stellt Fülberth die Frage nach der Zukunft sozialistischer Modellvorstellungen und liefert ein Gedankenspiel am Beispiel Deutschlands: Eine „Pink, Grey, Red, Blue Revolution“ als Umwälzung zugunsten der Jungen, der RentnerInnen, der Lohnabhängigen sowie der Friedensbewegung als eine erste Etappe zur Überwindung des Kapitalismus.
Im Großen und Ganzen steht der „Sozialismus“-Band jenem über den Kapitalismus in nichts nach. Wünschenswert wäre lediglich eine dem Leseverständnis dienliche weitere Unterteilung der Kapitel gewesen – im Gegensatz zum „Kapitalismus“-Band wirken die historischen Ausführungen durch die gröbere Gliederung teilweise etwas langatmig. Die unvermeidlichen Überschneidungen der beiden Bände „Kapitalismus“ und „Sozialismus“ sind keinesfalls störend, sondern viel mehr ergänzend. Obwohl die Einführungen durchaus unabhängig voneinander gelesen werden können, sei die Lektüre beider Bände wärmstens empfohlen.
Anna Thalmann