Jede Wissenschaft ist gut beraten, von Zeit zu Zeit als ehern geltende Lehrsätze auf den Prüfstand zu stellen, die Annahmen mit den Gegebenheiten der Gegenwart und mit Herausforderungen der Zukunft abzugleichen. In der Volkswirtschaftslehre gilt das zum Beispiel für das Ricardosche Freihandelstheorem. Generationen von Wirtschaftsstudentinnen und -studenten wurde es wie eine religiöse Wahrheit eingehämmert. Auch in meinem Ökonomiestudium in der DDR hatte der Lehrsatz in den Fächern „Geschichte ökonomischer Lehrmeinungen“ und „Außenhandelstheorie“ seinen Platz, verbunden allerdings damit, was daran bereits von Karl Marx kritisch beurteilt worden war. So die Unterstellung, dass nur "Produkte gegen Produkte ausgetauscht werden"[1] und es daher keine Überproduktion geben kann. Zudem hatte Marx auf die einseitige Bereicherung der „Mutterländer“ zu Lasten der abhängigen Länder bzw. Kolonien verwiesen.[2]
Aber nicht nur im Hörsaal war und ist das Freihandelsdogma präsent. Es ist in der Politik westlicher Industriestaaten sowie in internationalen Organisationen en vogue. Am auffälligsten steht dafür aktuell das Projekt einer „Transatlantischen Freihandels- und Investitionspartnerschaft“ (TTIP) zwischen der Europäischen Union und den USA. Ähnliche Verhandlungen führt die EU unter anderem auch mit Kanada, Japan, Indien, den südamerikanischen Mercosur- sowie mit afrikanischen Staaten. Hierzulande beteiligt sich gar der Bundespräsident am Freihandelsgetöse. „Im außenpolitischen Vokabular der Republik reimt sich Freihandel auf Frieden und Warenaustausch auf Wohlstand“, so Gauck am 31. Januar 2014 in seinem Eingangsreferat auf der 50. Münchner Sicherheitskonferenz, wo es ihm um die Rolle Deutschlands in der Welt ging. Er stellt also den Freihandel, der in seiner ungezügelten Form auch Armut und Krieg verursacht, mit dem großen Ziel des Friedens auf eine Stufe. Als ob Freihandel nicht allzu oft das Recht des Stärkeren bedeutet und ein wirksamer Schutz des Schwächeren im Protektionismus bestanden hätte.
Dieser Beitrag widmet sich nach kurzer Vorstellung des Freihandelstheorems[3] im Schwerpunkt dem aktuell-praktischen Umgang mit dem Dogma und seinem uneingelösten Wohlstandsversprechen für alle. Den Abschluss bilden einige Schlussfolgerungen.
Außenhandel und Reichtum der Nationen
Aufgrund differenzierter natürlicher und historischer Bedingungen (Entwicklungsstand der Produktivkräfte, technisch-technologisches Niveau, Arbeitserfahrungen und Traditionen auf bestimmten Gebieten, klimatische Bedingungen, Vorkommen an Bodenschätzen) werden Erzeugnisse in den einzelnen Ländern mit einem unterschiedlichen Aufwand an gesellschaftlicher Arbeit, also mit unterschiedlicher Produktivität hergestellt, ohne dass in kurzer Zeit ein Ausgleich möglich wäre. Dieses Faktum kann durch sinnvolle Gestaltung der Produktions-, Ex- und Importstrukturen im Prozess der internationalen Arbeitsteilung bewusst genutzt werden, um Vorteile für die Volkswirtschaft des eigenen Landes zu erzielen. Das hatte bereits der Engländer Adam Smith (1723-1790), Klassiker der bürgerlichen Politischen Ökonomie, erkannt. Er sah in den absoluten Kostenvorteilen den Grund für auswärtigen Handel. Gezogen werden können solche, wenn sich ein Land auf Herstellung und Ausfuhr derjenigen Güter konzentriert, die es mit einem unter dem internationalen Durchschnitt liegenden Aufwand an gesellschaftlicher Arbeit produzieren kann und solche Güter importiert, bei denen das Verhältnis umgekehrt ist. Von Karl Marx stammt die Beobachtung: „Waren werden von dem Land, wo sie am wohlfeilsten sind, als Zahlungsmittel etc. transportiert nach dem Land, wo sie am teuersten sind“[4]. Es blieb Smith’s Nachfolger David Ricardo (1772-1823), ebenfalls Engländer und Vertreter der klassischen bürgerlichen Politischen Ökonomie, vorbehalten nachzuweisen, dass absolute Vorteile einen Sonderfall darstellen und letztlich komparative Kostenvorteile über das Zustandekommen von internationalem Austausch entscheiden. Solche Vorteile aus dem auswärtigen Handel können auch jene Länder ziehen, die in allen Branchen Produktivitätsnachteile haben, weil, so Ricardo, das kostenmäßig unterlegene Land sich auf die Herstellung der Güter konzentriert, bei der die Unterlegenheit am relativ geringsten ist. David Ricardo publizierte seine Erkenntnisse in seinem 1817 erstmals erschienenen Hauptwerk „The Principles of Political Economy und Taxation.“[5] Er nannte das Ergebnis seiner Überlegungen das Gesetz der komparativen Vorteile bzw. die Theorie der komparativen Kosten und legte damit die Grundlage der Freihandelslehre.
Nach Ricardo bringt der freie Austausch von Gütern und Dienstleistungen über Grenzen hinweg netto allen beteiligten Ländern stets einen Nutzen, einen Wohlfahrtsgewinn, weil sie sich auf die Produktion der Güter spezialisieren können, bei der ihre Produktivität vergleichsweise, also komparativ, höher als die anderer Länder ist. Sie tauschen diese gegen Produkte, auf deren Herstellung sie verzichten, weil sie anderweitig günstiger beschafft werden können. Selbst Volkswirtschaften, die über die gesamte Produktpalette produktiver sind als andere, also absolute Vorteile haben, können gewinnen, wenn sie sich auf die Herstellung jener Erzeugnisse spezialisieren, bei denen ihr Produktivitätsabstand gegenüber anderen am größten ist und diese Güter gegen jene tauschen, von deren Erzeugung sie im Interesse von Skaleneffekten absehen.
Das Freihandelstheorem
Ricardo exerziert seine These an dem berühmten Zwei-Länder-Modell, in dem Portugal und England beide Tuch und Wein herstellen.[6] Portugal allerdings hat in diesem Modell bei der Produktion beider Güter deutlich günstigere Bedingungen als England (vgl. Tabelle 1). Dennoch wird sich der Handel zwischen beiden Volkswirtschaften zum gegenseitigen Vorteil entwickeln, so der Klassiker. Es komme nicht auf den absoluten Vorteil und die tatsächlichen Preise an, sondern nur auf den vergleichsweisen Vorteil und die relativen Preise. Im Falle von Portugal seien die Verdienstmöglichkeiten beim Export von Wein höher als beim Export von Tuch, weil es pro Zeiteinheit mehr Wein als Tuch herstellen könne. Deshalb sei es für die Portugiesen ökonomisch klug, sich darauf zu konzentrieren.
Tabelle 1: Komparative Vorteile und internationaler Handel, notwendige Arbeitszeit pro Wareneinheit
Portugal
England
Summe
vor Handel
nach Handel
vor Handel
nach Handel
vor Handel
nach Handel
Tuch
90
-
100
200
190
200
Wein
80
160
200
-
280
160
Summe
170
160
300
200
470
360
Quelle: Ricardo, David: Grundsätze der Politischen Ökonomie und Besteuerung. Frankfurt am Main 1980, S. 112
Portugal also produziert Wein für den Export und erhält im Gegenzug aus England Tuch, und zwar mehr Tuch, als wenn es den Stoff selbst produziert hätte. Die englischen Tuchhersteller besitzen zwar keinen absoluten, wohl aber gegenüber der aufwendigeren Weinherstellung im eigenen Land einen vergleichsweisen Vorteil. Das reiche aus, damit der Handel sich für beide Partner lohne, konstatiert Ricardo.
Zu dessen bleibenden Verdiensten gehört, dass er den Versuch unternahm, die Arbeitswerttheorie auf die internationalen Verhältnisse anzuwenden. Seine Argumentation stützt sich auf die Annahme, dass der Wert einer Ware durch die in ihr verkörperte Arbeitszeit bestimmt ist. Der Wert der Ware umfasst dabei sowohl die verausgabte lebendige, als auch die in den Vorleistungen und anderen Inputs des Produktionsprozesses geronnene Arbeit. Die Ausdehnung des auswärtigen Handels würde erheblich die Masse der in einem Lande zur Verfügung stehenden Güter erhöhen. So könne man die „für den Unterhalt der Arbeit bestimmten Mittel und Materialien, für welche die Arbeit verwendet wird“, vermehren. Dadurch würden die Unterhaltsmittel für die Arbeiter verbilligt, und dadurch können die Profite steigen. Ricardo wandte sich damit gegen Smith’ Auffassung, wonach die Ausdehnung des auswärtigen Handels die Summe der Werte in einem Land vermehren könne und sie immer die Profitrate erhöhe. Er habe zeigen wollen, schreibt er, dass die Profitrate niemals anders als durch ein Sinken der Löhne erhöht werden kann. In dieser Argumentation liegt der rationelle Kern des Ricardoschen Theorems, und das bestimmt zugleich den generellen Platz des Engländers in der Geschichte ökonomischen Denkens. Karl Marx würdigte das so: „Die Grundlage, der Ausgangspunkt der Physiologie des bürgerlichen Systems – des Begreifens seines inneren organischen Zusammenhangs und Lebensprozesses – ist die Bestimmung des Werts durch die Arbeitszeit. Davon geht Ricardo aus und zwingt nun die Wissenschaft, ihren bisherigen Schlendrian zu verlassen... Dies ist also die große historische Bedeutung Ricardos für die Wissenschaft...“[7]
Auf den Schultern von Smith und über ihn hinausgehend hat er die ökonomische Theorie so weit entwickelt, wie es unter den damaligen Bedingungen für bürgerliche Ökonomen überhaupt möglich war. „Diese damaligen Bedingungen bestanden darin, dass der junge Kapitalismus noch historisch progressiv war und die zur Macht drängende Industriebourgeoisie mit ihren sozialökonomischen Interessen noch den Fortschritt verkörperte.“[8]
Am Modell der komparativen Kostenvorteile ist zu erkennen, dass durch eine vorteilhafte Strukturgestaltung von Produktion sowie von Ex- und Import gesellschaftliche Arbeit eingespart werden kann. Mit dem zur Herstellung der Exportgüter erforderlichen Aufwand an lebendiger und vergegenständlichter Arbeit kann über den Import ein größerer materieller Fonds an Erzeugnissen für die Befriedigung des Bedarfs von Wirtschaft und Bevölkerung bereitgestellt werden als dies ohne Außenhandel der Fall wäre. Bei planmäßiger Ausnutzung der Vorzüge der internationalen Arbeitsteilung ist ein physischer Zuwachs an Nationaleinkommen in bedarfsgerechter Struktur möglich.
Ricardos Annahmen und die Gegebenheiten der Gegenwart – Befunde in der Euro-Zone
David Ricardo hatte natürlich nichts anderes beschreiben können als die vom Kapitalismus der freien Konkurrenz geprägte Weltwirtschaft seiner Tage, auch wenn er von dem völlig ungleichen Austausch zum Beispiel zwischen England und seinen Kolonien absah. Seine Grundaussage „Freihandel bringt Wohlstand für alle“ hatte unter den damaligen Bedingungen einen rationellen Kern. Der Welthandel unserer Zeit ist zwar nahezu frei von Zollschranken und Importkontingenten, doch nicht frei von politischen Einwirkungen, nicht von monopolistischen Deformationen, nicht von Einflüssen spekulativer Finanzströme. Und eine Vielzahl gängiger Vorschriften hat quasi-protektionistische Wirkung. Auch sind die internationalen Wirtschaftsbeziehungen angesichts fortschreitender Globalisierung und rasanter technologischer Entwicklung längst in sich verflochtener als zu Ricardos Zeiten. Anhänger von Handelsliberalisierung müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen heute eben nicht mehr Ergebnis einer wie auch immer gearteten marktvermittelten Spezialisierung sind. Ausgetauscht werden gleiche oder ähnliche Produkte, oft sogar unternehmensintern bzw. im Kontext von integrierten Wertschöpfungsketten.[9]
In jüngster Zeit müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Wirtschaftsspionage im großen Stil originäre Wettbewerbsvorteile eines Landes auf einen Schlag zunichte machen kann. Dabei setzen freie Märkte, freier Austausch von Ideen gerade Vertrauen zwischen Geschäftspartnern und Regierungen voraus. Das steht seit Bekanntwerden der massiven US-amerikanischen Ausspähaktionen auf dem Spiel. Im Folgenden werden daher zunächst die Annahmen Ricardos mit den Gegebenheiten der Gegenwart abgeglichen, das heißt mit einer Entwicklungsphase des Kapitalismus, in der das monopolistische Industrie- und Finanzkapital die Vorherrschaft hat. Das wird letztlich den Schluss zulassen, dass die Ricardosche Lehre neoliberal im Interesse der wirtschaftlich Stärkeren missbraucht wird. Ich konzentriere mich auf ausgewählte Befunde.
· Ricardos Modell abstrahiert von Marktkonkurrenz. Produzenten zweier Länder handeln den Produktionsumfang aus und vereinbaren die Verteilung der Ergebnisse auf die Beteiligten. Andere Anbieter kommen nicht vor. Das ist eine auf das moderne kapitalistische System nicht projizierbare Annahme
· Ricardo sieht Schwierigkeiten für die Mobilität des Kapitals von einem in ein anderes Land, um profitablere Anlage zu suchen. Kapitaleigner würden den Einfluss fremder Regierungen, auch ungewohnte Gesetze fürchten, unterstellte er. Heute sind etwa 200 Billionen US-Dollar auf der Suche nach weltweiter lukrativer Anlage
· Ricardo unterstellt, dass die Arbeitslosen der Branchen, die wegen komparativer Nachteile aufgegeben werden, in Bereichen Beschäftigung finden, die wegen ihres komparativen Vorteils florieren. Diese Annahme kollidiert längst mit der Praxis
· In Ricardos Theorem ist die Handelsbilanz zweier miteinander Austausch treibender Länder immer ausgeglichen. Für ihn galt: Portugal liefert den Briten Wein und bestellt dafür bei ihnen Tuch. Eine Lieferung ohne den Bezug von Waren im gleichen Gegenwert gehörte nicht zu seinen Prämissen. In Wahrheit aber sind im internationalen Handel Ungleichgewichte eher die Regel als die Ausnahme. Ein extremes Beispiel ist dabei Deutschland. Im Jahr 2000 belief sich der deutsche Exportüberschuss auf knapp 60 Mrd. €, fünf Jahre später bereits auf gut 160 Mrd. €. 2013 übertrafen die deutschen Exporte die Importe schließlich um fast 200 Mrd. €. Das trug innerhalb der EU zu erheblichen Ungleichgewichten in der Leistungsbilanz[10] insbesondere gegenüber Frankreich, Griechenland, aber auch Spanien und Portugal bei. Die Nachfrage dieser Länder war mehr oder minder schuldenbasiert, was ökonomisch und politisch zu Abhängigkeiten bis zur Erpressbarkeit führt. Claus Offe bringt das so auf den Punkt: „Um ein Land wirtschaftlich unter seine Kontrolle zu bringen, musste man es früher militärisch besetzen. Heute braucht man das nicht mehr. Man kann vollkommen friedliche Beziehungen mit einem Land unterhalten und es dennoch buchstäblich besitzen, indem man sich nämlich auf dem Wege dauerhafter Exportüberschüsse dessen Wirtschaft aneignet und seine Souveränität dadurch zerstört, dass man seine Haushaltshoheit und andere Elemente seiner Souveränität aushebelt. Angesichts dieser wirtschaftlichen und politischen Machtkonstellation kann es nicht überraschen, dass sie in den betroffenen Ländern als eine neue Version von Imperialismus und Abhängigkeit empfunden wird.“[11] Im Euro-Raum erlebt das seit Jahren am deutlichsten Griechenland. Die hypertrophe deutsche Exportwirtschaft „verschärft die Ungleichheit und stellt letztlich ein Sicherheitsrisiko für die Weltwirtschaft dar.“[12] Denn anhaltende und sich ausdehnende Gläubiger- und Schuldnerpositionen können niemals wieder allein durch Handel ausgeglichen werden. Früher oder später führen sie zu platzenden Finanzblasen. Die Folgen tragen die breiten Bevölkerungsschichten, nicht etwa die Profiteure. Keine Spur von Wohlstandsgewinn für alle! Anhaltende Exportüberschüsse und entsprechende Gläubigerpositionen der einen Länder und anhaltende Importüberschüsse der anderen, die nur durch zunehmende Verschuldung am Welthandel teilnehmen können, führen dazu, dass „das System der komparativen Vorteile konterkariert wird.“[13]
· Ricardo sah die Weltwirtschaft als weltweite Tauschwirtschaft. Er konnte somit das Problem der Wechselkurse ignorieren. Im Euro-Raum aber kommt dem eine große Bedeutung zu. Mit Einführung der Gemeinschaftswährung sind die nationalen Wechselkurse weggefallen, es gibt seit dem für wettbewerbsschwächere Länder nicht mehr die Möglichkeit der Währungsabwertung, um ihre Exporte zu verbilligen und auf diese Weise zu stimulieren. Griechenland und Deutschland, um die beiden Extremfälle zu nennen, sind in einer Währungsunion vereint. Damit ist der ärmere, weniger produktive Partner, der, mit den höheren Lohnstückkosten und daher in seinem Außenhandel weniger wettbewerbsfähige, gewaltigen wirtschaftlichen Zwängen ausgesetzt. Es bleibt nur die Möglichkeit der internen Abwertung über Lohnkostensenkung, Kürzung der Sozialausgaben und der öffentlichen Investitionen, um die Handelsdefizite zu reduzieren.
· Im klassischen Lehrsatz spielen Transportkosten nur ansatzweise eine und durch weite Transportwege bedingte Umweltschäden bzw. die Aufwendungen für deren Reparatur keine Rolle. Solche Aufwendungen können komparative Produktionskostenvorteile kompensieren, wenn sie infolge Subventionierung nicht komplett in den Angebotspreisen internalisiert werden. Der Güterverkehr per Lkw ist zwischen Nordkap und Sizilien eine riesige Subventionsmaschinerie. Das macht den Transport auf der Straße extrem billig. Nur so ist es rentabel, Nordseekrabben niedrigerer Arbeitskosten wegen zum Schälen quer durch Europa zu schaffen, in Süditalien waschen zu lassen und in Plastiktüten verpackt zum Verkauf zurück nach Deutschland zu schicken. Nur so lohnt es sich auch, Müll zum Entsorgen aus Italien nach Deutschland zu bringen. Welche Belastung das für Verkehrswege, Umwelt und Klima bedeutet, wissen wir, spiegelt sich aber im Preis nicht wider. Die Mautpläne der Bundesregierung scheinen das Problem wenigstens aufzugreifen
· Die Möglichkeit, der eigenen Exportwirtschaft zu technologischem Vorsprung zu verhelfen, kommt bei Ricardo nicht vor. Die Produktivität eines Landes wird aber wesentlich durch neues technologisches Wissen getrieben.[14] Dadurch erhöht sich die Menge an produzierten Waren und Dienstleistungen bei gleichbleibendem Einsatz von Arbeit und Kapital. Heute müssen Staaten zwangsläufig in die Förderung von Forschung und Entwicklung sowie die Qualifizierung der Beschäftigten investieren, um im Außenhandel Erfolg zu haben. Es reichen nicht mehr günstige natürliche Boden- und Klimaverhältnisse, ein großes Reservoir billiger, wenig qualifizierter Arbeitskräfte, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, handwerkliche Traditionen usw. Hohe technologische Überlegenheit, Innovationen eröffnen die Chance, andere vom Markt zu verdrängen. Mit dieser Problematik beschäftigten sich der schwedische Nationalökonom Eli Heckscher, sein Schüler Bertil Ohlin sowie der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelson in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts und ergänzten den klassischen Lehrsatz. Das nach diesen drei Wissenschaftlern benannte „HOS-Theorem“ geht im Unterschied zu Ricardo, der gleiche Faktorausstattung und ungleiche Produktivität der am Handel beteiligten Länder unterstellte, von deren unterschiedlicher Faktorausstattung (Arbeit und Kapital) aus. Länder mit Kapitalreichtum würden daher kapitalintensive, technisch anspruchsvolle Güter exportieren und arbeitsintensive Güter importieren, und umgekehrt würden Länder mit großem Arbeitskräftepotenzial arbeitsintensive einfache Produkte ausführen und kapitalintensive Güter einführen. Eine so basierte internationale Arbeitsteilung aber zementiert bei Ländern mit schmaler industrieller Basis und geringeren Finanzressourcen die technisch-technologische Rückständigkeit und beschränkt auf lange Sicht deren Gewinnchancen aus dem Außenhandel. Besonders in Entwicklungsländern könnten Importe von Hochtechnologien zur Produktivitätserhöhung beitragen. Die aber haben die geringeren Möglichkeiten, sich solche Importe zu leisten[15]
· Die Annahme Ricardos in seinem berühmten Theorem, Handel sei frei von politischen Einflüssen, gehört im Kapitalismus der Gegenwart ins Reich der Legenden. Als Exportstimuli, weil kostensenkend für Unternehmen, wirken neben der Lohnzurückhaltung weitere politisch gestützte bzw. tolerierte Faktoren: abgesenkte Sozialabgaben für Unternehmen, rückläufige Bindekraft der Flächentarifverträge für die Beschäftigten sowie Kostendruck auf Zulieferer, die Ausweitung prekärer Beschäftigung, zunehmender Einsatz von Leiharbeit und Werkverträgen, Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer, die Duldung von Armutslöhnen in industrie-, darunter exportnahen Dienstleistungsbranchen, auch von Bund, Ländern, Kommunen sowie der EU gewährte Subventionen. All das trägt zu deutschen Exportüberschüssen von historischer Dimension bei. Insgesamt wird durch genannte Faktoren zu Lasten der Binnennachfrage von den Exportunternehmen ein riesiger internationaler Wettbewerbsvorsprung herausgeholt. Die komparativen Vorteile der deutschen Wirtschaft sind jedoch – wie gezeigt – nicht durchgängig produktivitätsbasiert, sondern zu nicht geringen Teilen politisch initiiert.
Missbrauch des Lehrsatzes durch neoliberale Politik
Von Mainstream-Ökonomen gestützt wird das Ricardosche Theorem einschließlich seiner Variation durch Heckscher/Ohlin/Samuelson in Verkennung kardinaler weltwirtschaftlicher Veränderungen bis heute in der neoliberalen Politik im Interesse der wirtschaftlich Stärkeren missbraucht.
Freihandelsdogma dient der Rechtfertigung extremen Kostendrucks
Die These, Freihandel sei für alle Völker zu allen Zeiten gleichermaßen nützlich, ja, sei Garant für den Wohlstand aller Nationen spielt unter den heutigen Bedingungen jenen in die Hände, die vor allem auf solche Kostenvorteile setzen wie niedrige Löhne, schrumpfende Sozialleistungen und sinkende Unternehmenssteuern, auf ungeschützte Beschäftigung sowie Raubbau an der Natur. Aktuell zeigt sich das z. B. in der desaströsen Austeritätspolitik gegenüber den hoch verschuldeten Ländern in der Euro-Zone. In dem Maße wie die „Wettbewerbsfähigkeit“ in den Rang der höchsten Priorität des Staates gehoben wird, tritt das Allgemeinwohl als Ziel und Kriterium staatlichen Handelns zurück. Europa brauche eine „Kohärenz in Sachen Wettbewerbsfähigkeit“, die sich keineswegs am Mittelmaß orientieren dürfe, so Bundeskanzlerin Merkel. Ziel sei vielmehr, eine Wettbewerbsfähigkeit, die „uns Zugang zu den globalen Märkten ermöglicht“. Die deutsche Agenda 2010 taugt aber nicht als Vorbild für ganz Europa. Es können nicht alle Staaten Lohndumping betreiben und zu aggressiven Exportnationen mutieren.
Politische Doppelmoral im Freihandelspathos
Im real existierenden Freihandel waltet eine politische Doppelmoral. Zum einen wird Protektionismus von Freihandelsideologen als Teufelszeug gebrandmarkt und vergessen gemacht, dass heute führende kapitalistische Länder wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die USA und neuerdings auch südasiatische Staaten einst ihre im Entstehen begriffenen Industriezweige selbst mit Importkontrollen und Zöllen vor der Weltmarktkonkurrenz geschützt haben. „Das Mittel Protektionismus, mit dem die sogenannte Erste Welt ihren ökonomischen Aufstieg geschafft hat, wird den anderen vorenthalten und stattdessen ein freier Markt, Deregulierung und Liberalisierung gepredigt und durchgesetzt.“[16]
Zum anderen verfolgen entwickelte kapitalistische Länder, die USA ebenso wie die EU-Mitglieder, bis heute in bestimmten Sektoren eine protektionistische Politik, indem sie diese zum Beispiel mit milliardenschweren Subventionen vor der Konkurrenz aus anderen Staaten schützen.
Asymmetrische Verteilung der Vorteile
Die USA und ebenso die EU werben für die Akzeptanz des Freihandels mit dessen Ricardianischem Anspruch, er sichere allen Beteiligten Wohlstand. Sie verabsolutieren den eigenen Vorteil als Gewinn für alle Beteiligten, „wohl wissend, dass die Vorteile bestenfalls asymmetrisch verteilt sein werden.“[17] In Wahrheit geht es darum, „die eigene Vorherrschaft auf den Märkten der Welt zu sichern und „sich die Ressourcen und Reichtümer fremder Länder und Meere anzueignen“[18]. Immer stärker steht der Zugang zu Rohstoffen im Fokus.
Die asymmetrische Verteilung von Vorteilen zeigt sich aktuell im Projekt der Freihandelszone zwischen der EU und den USA. Laut einer Bertelsmann-Studie wären letztere größter Gewinner. Sie behielten sogar gegenüber den Euro-Ländern ein protektionistisches Instrument, die eigene Währung, die sie im Bedarfsfall abwerten und so ihre Exporte verbilligen und ihre Importe verteuern können. Davon ist öffentlich viel zu wenig die Rede.
Chancen einer Freihandelszone überschätzt, Risiken verharmlost
Überschätzt werden in den Studien zu den Wirkungen der transatlantischen Freihandelszone die positiven Effekte. Beschworen werden Wachstumsschübe, niedrigere Produktionskosten und „zusätzliche Jobs“. Das alles freilich unter der Voraussetzung, dass Zölle und nichttarifäre Handelshemmnisse beseitigt und an europäischen Qualitätsstandards, Verpackungsvorschriften, Gesundheits-, Umwelt-, Daten- und Verbraucherschutznormen usw. gerüttelt wird. Absehbare negative soziale und ökologische Folgen werden nicht thematisiert, auch nicht die Gefahr einer Abschottung zum Beispiel gegenüber der Volksrepublik China und anderen Wirtschaftsräumen.
Skeptiker sagen voraus, dass in Europa nicht so viele Arbeitsplätze entstehen würden, wie versprochen. Dieses Urteil wird aus Erfahrungen mit früheren Freihandelsabkommen abgeleitet, so dem zwischen den USA, Kanada und Mexiko (NAFTA). Da hat es vorher auch Studien gegeben, in denen ein deutlicher Zuwachs bei Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum in Aussicht gestellt worden war. Erfüllt haben sich die Prognosen jedoch so nicht. Zwar hat das Handelsvolumen in der Zone zugenommen. Aber es gibt nicht nur Gewinner. Eigentlich sollten mexikanische Kleinbauern von dem Abkommen profitieren und die Abwanderung in die USA gestoppt werden. Eingetreten ist das Gegenteil. Die Landflucht in Mexiko hat sich beschleunigt und die Armut zugenommen. Mehr Handel bedeutet eben nicht per se mehr Arbeitsplätze, sondern nur, dass die Arbeitsteilung verstärkt wird. Das bringe eine höhere Effizienz, heißt es. Wie sich das aber auf die Beschäftigung auswirkt, hängt vor allem davon ab, ob die Nachfrage insgesamt gestärkt wird.
Auch wird das geplante Abkommen die Konfrontation mit dem Rest der Welt verschärfen. Der transatlantische Markt soll eine Antwort sein auf die Aufholprozesse der BRICS-Staaten (Brasilien, Rußland, Indien, China und Südafrika), aber auch weiterer Schwellenländer wie Südkorea, Mexiko, Türkei, Chile, Kolumbien oder der ASEAN-Staaten. Gesellschaftliche werden Wirtschaftsinteressen geopfert.
Gesamtwirtschaftliche Wirkungen von Freihandel
Jahrelang machte der Titel „Exportweltmeister“ hierzulande stolz. Wer auf dem Weltmarkt bestehen kann, so die Überzeugung, muss einfach gut sein. Außen vor bleibt bei solcher Annahme das oft feststellbare Auseinanderklaffen zwischen einzelwirtschaftlichem Nutzen und gesamtwirtschaftlichem Effekt bzw. der Gegensatz zwischen den economics, die sich am betriebswirtschaftlichen Kalkül ausrichten und einer politischen Ökonomie, deren Leitlinie das Gemeinwohl ist. Allein vom Markt erzwungene Exportentscheidungen einzelner Unternehmen erlegen der Gesellschaft oft Kosten auf, die zum Beispiel wegen fehlender Mindestlöhne durch notwendiges Aufstocken niedriger Vollerwerbseinkommen entstehen oder die Aufwendungen für die Beseitigung der von Öltankern und Frachtschiffen verursachten Meeresverschmutzung bzw. der durch Flugverkehr bedingten Luftverunreinigung oder durch künstlich niedrig gehaltene, also mit Steuergeld subventionierte Strompreise für energieintensive Unternehmen. Es ist falsch, „die Denkmuster aus der Betriebswirtschaftslehre einfach auf die Volkswirtschaft zu übertragen. Ein Exportüberschuss ist nicht das Gleiche wie ein Betriebsgewinn, und ein Außenhandelsdefizit ist nicht mit einem Unternehmensverlust vergleichbar. Anders als bei einer Firma sagt die Tatsache, ob ein Land Überschüsse oder Defizite erwirtschaftet, wenig über dessen Wohlstand aus.“[19]
Eine dem Gemeinwohl verpflichtete Politik müsste also fragen, ob bzw. unter welchen Bedingungen exportzentrierte Politik und boomende Gewinne von Unternehmen aus dem internationalen Austausch sich auch sozial und ökologisch wohlstandssteigernd für die Gesellschaft als Ganzes auswirken oder ob sie lediglich einzelnen Gruppen und Teilen zugute kommen.
Aus solcher Perspektive rüttelte vor einer knappen Dekade der renommierte bürgerliche Ökonom Paul Samuelson, einst selbst Freihandelsprotagonist, an dem Ricardoschen Dogma. Im Herbst 2004 schockte der damals 89-jährige, inzwischen verstorbene US-amerikanische Nobelpreisträger die neoliberale Gelehrtenwelt mit der These, es sei Illusion anzunehmen, Globalisierung, ungehemmter Freihandel und Verlagerung von Produktionen sowie Dienstleistungen in Entwicklungs- und Schwellenländer brächten Industriestaaten wie den USA als den Hochlohnländern stets Vorteile. Der wohl bekannteste Wirtschaftswissenschaftler der Welt belegte am Beispiel seines Landes, dass internationaler Handel unter bestimmten Bedingungen gesamtwirtschaftlich sogar nachteilig sein kann. So bezweifelte er, dass das so genannte Outsourcing von Dienstleistungen nach Indien oder der Bezug billiger Güter aus China Amerika Vorteile bringt, wenn zugleich die Einkommen geringer qualifizierter Arbeiter durch die ausländische Konkurrenz fallen. Wörtlich: „Bei Wal-Mart Lebensmittel 20 Prozent billiger einkaufen zu können reicht nicht notwendigerweise aus, um die Lohnverluste auszugleichen.“[20]
Auf Deutschland bezogen könnte man sagen: Beim Textil-Discounter KiK „Schnäppchen“ machen oder bei ALDI Lebensmittel billig einkaufen zu können, kompensiert nicht die Folgen von Armutslöhnen, die in vielen Exportzulieferbetrieben und der Dienstleistungsbranche zu dem Zweck gezahlt werden, Deutschland im internationalen Wettbewerb Vorteile zu verschaffen. Samuelsons spektakuläre Wortmeldung war ein Schock für die neoliberale Ökonomenzunft. Selbst etliche seiner Schüler fielen über ihn her, ziehen ihn eines altersbedingten Denkdefekts.[21]
Einige Schlussfolgerungen
1. Freihandel ist ein nach „Freiheit“ von Vorschriften und Kontrollen klingender Terminus, der sich zudem auf eine klassische, Wohlstand für alle Beteiligten versprechende ökonomische Theorie gründet. Die hatte zu Zeiten des Kapitalismus der freien Konkurrenz einen rationellen Kern. Heute geht es seinen Protagonisten um Absicherung von Macht und Herrschaft, um Konservierung bzw. Ausweitung von Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen, die den entwickelten kapitalistischen Ländern und ihren global operierenden Konzernen weiterhin profitablen Absatz sichern sollen. Dabei sind ihnen die sozialen und ökologischen Folgen für die schwächeren Länder gleichgültig.
Dennoch: Bei der Suche nach einer allen Beteiligten Vorteile bringenden internationalen Arbeitsteilung und nach Prinzipien eines fairen Welthandels, vor allem nach gerecht gestalteten Nord-Süd-Beziehungen allein auf die Alternative Protektionismus oder Freihandel zu setzen, greift zu kurz. Dafür ist der Entwicklungsstand der Länder zu unterschiedlich, die Marktrealität zu komplex. Freihandel ist als eine Form gleichberechtigten, dem Gebot der Fairness folgenden Austausches zwischen den Ländern wünschenswert; Freihandel als eine Form konzerngesteuerter, finanzmarktgetriebener Wirtschaft, frei von gesellschaftlicher Verantwortung für die Natur und die kommenden Generationen ist dagegen abzulehnen. Wer für Gestaltung und nicht nur für die Erduldung der Globalisierung ist, darf nicht dem Freihandel als Dogma erliegen.
2. Ein den Wohlstand aller Beteiligten sichernder Freihandel muss in Leitplanken eingebettet sein, braucht regulierte Finanzmärkte sowie soziale und ökologische Standards zum Schutze von Mensch und Natur. Diese dürfen nicht abgesenkt werden, um Unternehmen Kostenvorteile zu verschaffen. Dringlich ist es, in Freihandelsabkommen eine Klausel zu integrieren, die den Abbau von Arbeitnehmerrechten und Sozialstandards verbietet und den jeweils höchsten erreichten Standard absichert. Unter dem verheißungsvollen Label „Handelshemmnisse abbauen“ sollen aber mit den neuen Freihandelsprojekten viele Bereiche auch der öffentlichen Daseinsvorsorge dem ordnenden Zu- und Eingriff der Staaten entzogen werden. Diese sollen einen Teil ihrer Souveränitätsrechte abtreten. Dem Schutz von Würde und Gesundheit der Menschen sowie einer lebenswerten Umwelt dienende Handelsvorschriften (z. B. Importverbot für hormonbehandeltes Rind- oder Schweinefleisch, für in Chlorbad getauchte Hähnchen, für Tierfutter aus genmanipulierten Pflanzen, Verbot von Fracking, also der Förderung von Gas und Öl mit giftigen Chemikalien) dürfen nicht als Protektionismus gebrandmarkt werden. Und wenn Frankreich auf der Ausklammerung von Verlagswesen und Filmwirtschaft aus einem möglichen Freihandelsabkommen besteht, dann hat das etwas mit kulturellen Traditionen, mit dem Schutz der Vielfalt von Kulturgütern zu tun und nichts mit böswilliger Diskriminierung anderer Anbieter.
3. Die Freihandelspropagandisten gilt es mit der Empirie zu konfrontieren. Erzielen tatsächlich alle am Handel beteiligten Länder Wohlstandsgewinne? Sind diese bei ökonomisch schwächer entwickelten Ländern kurzfristiger Natur oder nachhaltig, also auch wiederholbar? Wiegt die Öffnung der Märkte der entwickelten Länder für die weniger entwickelten die mit deren Marktöffnung verbundenen Verluste, insbesondere die Konkurrenz für landwirtschaftliche Kleinbetriebe und den Raubbau an der Natur, auf?
Zu fragen ist aber auch, ob die Ausweitung des Freihandels in den entwickelten Ländern Wohlstandsgewinne für alle Bevölkerungsschichten oder nur für bestimmte Gruppen bringt.[22] Am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland lässt sich nachweisen, dass „grandiose“ Exporterfolge nicht automatisch den Wohlstand der gesamten Nation heben. Deutschland ist so tief in die Weltwirtschaft integriert wie kaum ein anderer großer Industriestaat. Dennoch ist kein Anstieg des Wohlstands der gesamten Bevölkerung, sondern nur einzelner Gruppen zu verzeichnen. Das Pro-Kopf-Einkommen des langjährigen Exportweltmeisters[23] liegt unter dem mancher europäischer Länder mit weitaus geringerer Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung. Einkommensungleichheit und Armut haben hierzulande seit der Jahrtausendwende stärker zugenommen als in allen anderen OECD-Staaten. Der Anteil der Löhne am gesamten Volkseinkommen war rückläufig. Der Gini-Koeffizient der Einkommensverteilung zeigt bezogen auf Primär- und verfügbare Einkommen für Deutschland eine im OECD-Vergleich überdurchschnittlich stark zunehmende Ungleichheit..
4. Natürlich ist es erfreulich, dass deutsche Waren im Ausland begehrt sind. Es spricht auch nichts gegen vorübergehende Überschüsse. Kritikwürdig ist aber, dass den Ausfuhren über einen längeren Zeitraum nicht Einfuhren in etwa gleicher Größenordnung gegenüberstehen. Nicht Exportabbau um jeden Preis ist also die Devise, sondern Reduzierung von anhaltend hohen Exportüberschüssen (in Deutschland jährlich etwa sechs bis sieben Prozent gemessen am BIP) durch Importausweitung. Das einzelwirtschaftliche Streben nach Wachstum und höchstmöglicher Kapitalverwertung mittels internationalen Austausches gehört dort durch entsprechende Rahmensetzung begrenzt, wo es zu gesamtwirtschaftlichen Einbußen kommt.
5. In einer freien Marktwirtschaft lassen sich Exporte – mit Ausnahme solcher von Rüstungs- und anderen sensiblen Gütern –, falls überhaupt politisch gewollt, in einem einzelnen Land nur schwer administrativ untersagen. Somit auch Exportüberschüsse nicht. Noch waren internationale Bestrebungen nicht erfolgreich, die positiven wie negativen Leistungsbilanzsalden einzelner Länder im Verhältnis zu ihrer jährlichen Wirtschaftsleistung wirksam zu begrenzen. Im Jahre 2011 hat die EU zwar beschlossen, dass sowohl Defizite als auch Überschüsse, die im Laufe von drei Jahren durchschnittlich sechs Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung übersteigen, geahndet werden können. Gegen numerische Obergrenzen zeigte die deutsche Verhandlungsseite stets Vorbehalte, „weil diese sehr unterschiedliche Ursachen haben könnten“. Die Bundeskanzlerin ließ verlauten, „wir lassen uns nicht bestrafen, weil wir gute Produkte herstellen“. Nachdem der deutsche Überschuss gemessen am BIP 2011 und 2012 bereits die 6-Prozentmarke übertroffen hatte, sich 2013 schon auf 7,3 Prozent belief und für 2014 7,4 Prozent vorausgesagt werden, wären Sanktionen fällig. Bisher begnügt sich die EU-Kommission mit einer Rüge der enormen deutschen Exportüberschüsse der letzten Jahre. Um Schaden von der Euro-Zone abzuwenden, fordert die Brüsseler Behörde mehr Investitionen zur Stärkung der Binnennachfrage. Die Bundesregierung rückt inzwischen offenbar von ihrem bisherigen Konfrontationskurs mit der EU-Kommission ab. Das ergibt sich aus einem internen Papier des Wirtschaftsministeriums. Dort heißt es, es akzeptiere die Kritik an den hohen deutschen Exportüberschüssen und wolle vor allem Investitionen in die Infrastruktur ausweiten. Eine nachhaltige Senkung der Ungleichgewichte erfordert jedoch darüber hinaus den Abbau prekärer Arbeitsverhältnisse und generell die Stärkung der Arbeitseinkommen zwecks Erhöhung der konsumtiven Inlandsnachfrage. Nur mit einer per Lohnanhebung expandierenden Binnenkaufkraft ließen sich die Importe steigern und so die makroökonomischen Unwuchten reduzieren.
***
Der Neoliberalismus hat den Freiheitsbegriff auf den internationalen Handel bezogen okkupiert. Heterodoxe Wissenschaft muss auch auf diesem Gebiet für einen anderen Freiheitsbegriff werben. Das bedeutet, auf europäischer Ebene nach einem neuen Leitbild für Wirtschaft und Handel zu suchen. Gegenseitige völlige Marktöffnung kann nur zwischen Partnern mit vergleichbarem Entwicklungsniveau, ähnlichen sozialen und ökologischen Schutzstandards und entsprechenden technischen und administrativen Kapazitäten funktionieren. Die Akzeptanz von Freihandel muss dort ihre Grenze finden, wo es zu Menschenrechtsverletzungen kommt und die Umwelt zerstört wird. An die Stelle eines einseitig exportorientierten Wirtschaftsmodells, das langfristig weder soziale Sicherheit noch überhaupt ein besseres Leben für die Bevölkerungsmehrheit garantiert, muss ein Modell des fairen Austausches in Europa und der Welt treten.
[1] Marx, Karl: MEW, Bd. 26.2, S. 493.
[2] Marx, Karl: MEW, Bd. 25, S. 248.
[3] Siehe dazu: Samuelson, Paul A./ Nordhaus, William D.: Volkswirtschaftslehre Band 2, Köln 1987, S. 636ff; Heine, Michael/ Herr, Hans-Jörg: Volkswirtschaftslehre, München Wien 2003, S. 615ff; Woll, Artur: Allgemeine Volkswirtschaftslehre, München 1990, S. 589ff.
[4] Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 755.
[5] Ricardo, David: Grundsätze der Politischen Ökonomie und Besteuerung. Frankfurt am Main 1980.
[6] Ricardo knüpfte mit der Wahl dieser beiden Länder wohl daran an, dass England und Portugal bereits 1353 wechselseitige Handelsfreiheit für ihre Kaufleute ausgehandelt hatten.
[7] Marx, Karl: Theorien über den Mehrwert, Zweiter Teil. In: MEW Bd. 26.2 , S. 163.
[8] Meißner, Herbert: Anmerkungen zu Christa Luft: Ricardos Theorem der komparativen Vorteile. In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin, Heft 100 (2009), S. 196.
[9] Bieling, Hans-Jürgen: Politische Ökonomie des Welthandels – Transformationsprozesse und Machtbeziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1-3/2014, S. 41.
[10] Der Leistungsbilanzsaldo eines Landes entspricht der Differenz zwischen Export und Import von Gütern, Dienstleistungen und Faktoreinkommen zuzüglich der Nettoübertragungen. Exportiert ein Land mehr Güter und Dienstleistungen als es importiert, baut es Nettoforderungen gegenüber dem Rest der Welt auf. Es finanziert durch Kreditvergabe das Leistungsbilanzdefizit seiner Handelspartner. Das kommt einem Nettokapitalexport gleich. Ein Leistungsbilanzüberschuss misst den Teil der Ersparnis eines Landes, der nicht zu Hause investiert wird.
[11] Offe, Claus: Europa in der Falle. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013, S. 75.
[12] Santarius; Tilman: Nie wieder Exportweltmeister. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2009, S. 10.
[13] Busch, Ulrich/Land, Rainer: Teilhabekapitalismus, Norderstedt 2013, S. 39.
[14] Heike Belitz/ Florian Mölders: Produktivitätsgewinne durch Wissen aus dem Ausland. In: DIW Wochenbericht 35/ 2013 S. 12-18.
[15] In einer DIW-Studie wurden für 77 Industrie- und Entwicklungsländer die Wirkungen internationaler Wissenszuflüsse auf die Produktivitätsentwicklung im Zeitraum 1990-2008 untersucht. Vgl. Heike Belitz/Florian Mölders, a.a.O., S. 13.
[16] Speckmann, Guido: Kolonialismus auf Samtpfoten. Die Handelspolitik der Europäischen Union. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2013, S.64/65.
[17] Leaman, Jeremy: Hegemonialer Merkantilismus. Die ökonomische Doppelmoral der Europäischen Union. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2008, S. 77.
[18] Mora, Jean-Sebastien: Europäische Raubzüge zur See. In: Le Monde diplomatique, v. 11. 1. 2013, S. 1.
[19] Trares, Thomas: Weltmeister im Ignorieren. In: Neues Deutschland v. 4. 11. 2013, S. 9.
[20] Samuelson, Paul: Where Ricardo and Mill Rebut and Confirm Arguments of Mainstream Economists Supporting Globalization. In: Journal of Economic Perspectives 18 (3) 2004, S. 135-146.
[21] US-Topökonom Bhagwati verteidigt Jobverlagerung. In: Financial Times Deutschland v. 13. 9. 2004.
[22] Vgl. dazu auch Harald Klimenta, Andreas Fisahn u.a.: Die Freihandelsfalle, Hamburg 2014, Abschnitte 1.5 und 3.5.
[23] Inzwischen belegt Deutschland unter den Exportländern der Welt Rang drei.