Ich beginne mit dem Soldaten, den ich unter Millionen Deutschen, die Kriegsdienst geleistet haben, am besten kenne.
Ich spreche von meinem Vater, Jahrgang 1894, 1914 Kriegsfreiwilliger und zuletzt bei der Luftaufklärung an der Vogesenfront, nahe der Industriestadt Mülhausen, wo er sich in eine junge Arbeiterin verliebt. Am 7. Mai 1918 (die Märzoffensive geht in die achte Woche) schreibt sie dem 24jährigen: „Mir träumt, Du wärest zu mir gekommen, Abschied zu nehmen, denn ihr kämet alle nach Frankreich in die Front, und da hast Du mich so todestraurig angesehen, wie wenn Du sagen wolltest: ‚Wir werden uns wohl nie mehr sehn.’ Und da habe ich meine Arme um Deinen Hals gelegt und geweint, ganz fürchterlich. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so geweint…Wie froh und glücklich ich aber war, dass es nur ein Traum gewesen, das kann ich Dir nicht beschreiben.“
Unbegründet ist die Sorge nicht. Peter Scherer, mein Onkel, schreibt am 23. September 1918 seinem Bruder aus Nordfrankreich: „[Ich] dachte auch schon des Öfteren, dass wir einige Zeit nach dem Elsass in Ruhe kommen würden … Nun bin ich wirklich erstaunt, dass sie sogar bei euch die Leute zur Infanterie ausmustern, und kannst wirklich froh sein, bei Deiner Truppe bleiben zu können, und [dass Du] dort auch hoffentlich den Krieg beendigen kannst.“
Und dann geht es um die Frage, die damals jeden Soldaten umtreibt: „Was ich von der augenblicklichen Lage halte, möchtest Du wissen. Ich glaube eben, dass es immer noch eine schöne Zeit dauert, bis wir einen Frieden bekommen können, und wenn ich bis dahin meinen Kopf behalte, will ich zufrieden sein.“
Schon sechs Tage später fordert die Oberste Heeresleitung die Reichsregierung auf, Waffenstillstandsverhandlungen einzuleiten. Gelegenheiten den Kopf zu verlieren, wird es aber noch reichlich geben, bis der Krieg am 11. November 1918 zu Ende geht.
Mein Vater hat (wie die meisten Väter) nicht viel erzählt, aber die folgende Parole konnte ich ihm doch entlocken: „Gleicher Sold und gleiches Fressen, und der Krieg ist bald vergessen.“
Maßstab des Maßlosen
War der Krieg am 11. November tatsächlich zu Ende? Wann hat er angefangen? Und ab wann war er ein Weltkrieg? Oder bilden beide Kriege in Wirklichkeit einen einzigen Weltkrieg – der erst 1991 mit jenem „Kalten Krieg“ zu Ende ging, der nun wirklich die ganze Welt, ja ohne alle Übertreibung die Menschheit einer tödlichen Bedrohung auslieferte?
„Bei Ausbruch des Krieges…“ ist eine gängige Redewendung. Ein Krieg bricht aber nicht aus. Er wird von Menschenhand begonnen. Manchem hilft es ja, sich das Ganze als einen Vulkankomplex vorzustellen, mit mehreren Schloten, furchtbaren Initialausbrüchen, „Urkatastrophen“, lange schlafend, bis zu einem unvermuteten Erwachen.„Als Vulkanologe erachte ich es als meine Pflicht, aufgrund wissenschaftlicher Daten die Gefährlichkeit der Vulkane auf das richtige Maß zurückzuführen und ihre Nützlichkeit hervorzuheben.“ – so schreibt Alfred Rittmann[1].
Wir entnehmen seinem Standardwerk: Der größte Ausbruch in historischer Zeit, der Tambora im Gebiet des heutigen Indonesien, forderte 1815 12.000 Menschenleben unmittelbar, 54.000 Menschen verhungerten in der Folge. Der Krakatau in der Sundastraße tötete 1883 durch seine Flutwelle 36.500 Küstenbewohner. Diese furchtbaren Zahlen werden klein, vergleicht man sie mit denen des Weltkrieges.[2] Vor Verdun fallen in wenigen Monaten 162.000 Franzosen und 143.000 Deutsche. An einem einzigen Tag des erst beginnenden Krieges, dem 22. August 1914, verzeichnet die französische Armee während der Schlacht in Lothringen 27.000 Tote. Während der Somme-Schlacht sterben an dem einen 1. Juli 1916 19.000 Angehörige des britischen Expeditionskorps.
Frankreich kann den deutschen Überfall schließlich abwehren – um den Preis von 1,7 Millionen meist junger Männer. 630.000 Witwen bleiben zurück. Wie nach einer Jagd zählt man die „Strecke“. Die Zahl der getöteten Feinde ist der Maßstab des Erfolges, die Zahl der eigenen Toten der Maßstab des Mutes. Ein Autor von Kriegserinnerungen lässt sich ablichten mit der Beischrift: „Der Verfasser … vor dem Angriff, bei dem die Kompanie rd. 60 v.H. ihres Bestandes verlor“.[3]
In dem Film „Wege zum Ruhm“ (mit Kirk Douglas als Regimentskommandeur in der Hauptrolle) schätzt ein General die Verluste eines von ihm befohlenen Angriffs: Im günstigen Fall bleiben tot oder verwundet im eigenen Sperrfeuer 5 Prozent, im Niemandsland 10 Prozent, im Drahtverhau 20 Prozent, beim Sturmangriff auf die deutschen Stellungen 25 Prozent. Summiert sich auf 60 Prozent. Der General bleibt bei seinem Befehl.
Die deutsche Armee ist darin erfolgreich, dass die großen Schlachten bis zuletzt außerhalb der Reichsgrenzen stattfinden. Als das Heer zurückkehrt, marschiert es über unzerstörte Straßen und Plätze. Aber 700.000 Kinder, Frauen und Alte sind im Gefolge der britischen Seeblockade verhungert. Zu Hunderttausenden fallen die Menschen der Spanischen Grippe zum Opfer.
Andere zerbrechen seelisch. Sie warten auf Briefe, die nie mehr kommen werden, weil der Mann oder der Sohn längst tot ist. Einer dieser verzweifelten Briefe ist erhalten geblieben. Er datiert vom 23. Juni 1918. Nach zwei Monaten vergeblichen Wartens schreibt eine Frau ihrem Verlobten: „Drei Nächte hintereinander habe ich Dich im Traum gesehen, und deshalb schreibe ich Dir heute. Ich bin sehr bedrückt, ich weine. Ich denke an die schönen verflossenen Zeiten, an die schönen Stunden, die wir zusammen verbracht haben. Wir waren gute Freunde. Warum lassen wir jetzt nicht mehr von einander hören? Man könnte meinen, wir seien böse aufeinander, obschon ich überzeugt bin, dass die Hauptschuld bei der Briefzensur liegt …“ In Wirklichkeit ist der Verlobte schon seit dem 11. November 1917 tot, gefallen an der Isonzofront.
Die Arbeiterbewegung
Am 8. August 1914 hatte der Vorstand des Deutschen Metallarbeiterverbandes einen Aufruf an die Mitglieder gerichtet: „Wie ein Blitz aus heiterem Himmel ist nun doch der unselige Krieg, dessen Vermeidung sich die Besten unseres Volkes stets angelegen sein ließen, über uns hereingebrochen.“[4]
Der „unselige Krieg“ war alles andere als ein unverhoffter Gast. Jahrzehnte lang schon existierte der „Weltkrieg“ als Begriff. Zuletzt hatte August Bebel im September 1911 auf dem Parteitag der SPD in Jena die Ausmaße des drohenden Krieges umrissen: „Und nun stellen sie sich den Krieg selbst vor, mit der ungeheuren technischen Entwicklung seit 1870, den Millionenheeren hüben und drüben, den Repetiergewehren, den Schnellfeuergeschützen, den Maschinengewehren, mit den modernen Sprengstoffen usw. Als vor einigen Jahren in Elsaß-Lothringen ein größeres Kaisermanöver unter dem Feldmarschall Grafen Haeseler stattfand, erklärte er am Ende: Das Manöver war sehr schön, aber gefragt habe ich mich doch, wenn es ernst wird, wo bringen wir die Leichen unter, und vor allem, wo bringen wir die Verwundeten unter?’“ Ähnlich äußerte sich Bebel im November 1911 auch vor dem Reichstag.
Die Internationalen Sozialistenkongresse von Stuttgart 1906 und Basel 1912 hatten klare Beschlüsse gefasst. In der Julikrise, die nach dem Attentat von Sarajewo einsetzte, bekundeten die arbeitenden Menschen in hunderten von Kundgebungen ihre Ablehnung einer Politik, die sehenden Auges auf einen Krieg zusteuerte. In allen größeren Städten wurden Entschließungen verabschiedet, so auch am 29. Juli 1914 in Nürnberg, damals eine Hochburg der SPD: „Die Sozialdemokraten erkennen in den Kriegstreibereien die egoistischen Machenschaften des großen Kapitalismus, der Rüstungsindustrie und zahlreicher anderer, mit ihr aufs Innigste verflochtenen kapitalistischen Interessen. In ihrer Friedensliebe weiß sich die Versammlung eins mit allen Arbeitern und Arbeiterinnen Deutschlands, aber ebenso Frankreichs und Russlands, Österreich-Ungarns und Italiens, Großbritanniens und der Balkanländer. Durch hunderte Kundgebungen ist diese Stellung festgelegt.“
Der Verrat
Das hätte als Marschzahl genügen müssen. Aber der SPD-Vorstand hatte offenbar einen anderen Kompass als Mitglieder und Funktionäre.
Zwischen dem Reichskanzler von Bethmann Hollweg und dem Nürnberger Reichstagsabgeordneten Albert Südekum (SPD) gibt es schon seit längerem enge Kontakte. Angesichts der sich immer weiter zuspitzenden Krise nutzt der Kanzler diesen Kontakt, um die Haltung des SPD-Vorstandes im Falle eines Krieges zu sondieren. Er lädt seinen Gewährsmann zu einem vertraulichen Gespräch. Ergebnis: Südekum soll ohne viel Förmlichkeiten ausloten, was der Vorstand darüber denkt. Hoch erfreut über so viel „Vertrauen“ macht sich Südekum auf den Weg. Er trifft in ihren Büros die Herren Ebert, Braun, Müller, Bartel und Fischer/Berlin an. Man setzt sich zusammen…
Danach kann Südekum den Kanzler mit Schreiben vom 29. Juli 1914 beruhigen: „Bei der dann folgenden Aussprache erhielt ich zunächst die Bestätigung meine Bemerkung, dass – gerade aus dem Wunsche heraus, dem Frieden zu dienen – keinerlei wie immer geartete Aktion (General- oder partieller Streik, Sabotage und dergleichen) geplant oder auch nur zu befürchten sei.“[5] Beiläufig lässt Südekum ausrichten, man werde auf die Parteipresse einwirken, mit dem Ziel „zweideutige Äußerungen“ zu vermeiden. Der Kanzler berichtet dem preußischen Staatsministerium: „ … auch von der Sozialdemokratie und dem sozialdemokratischen Parteivorstand [sei] nichts Besonderes zu befürchten, wie er aus Verhandlungen mit dem Reichstagsabgeordneten Südekum glaube schließen zu können. Von einem Generalstreik oder Partialstreik oder Sabotage werde keine Rede sein.“[6]
Bei der Vorbereitung der Reichstagssitzung am 4. August, in der die Sozialdemokraten als einzige Partei das Wort erhalten sollten, geht die SPD in Verhandlungen mit den bürgerlichen Parteien und der Regierung noch weiter. Sie verzichtet auf einen Passus, der aktiven Widerstand für den Fall ankündigte, dass der Krieg zu einem Eroberungskrieg werden sollte.[7]
Fritz Fischer kennzeichnet 1961 in seinem Werk „Griff nach der Weltmacht“ die Interessenlage des Kanzlers: „Ohne die SPD und die von ihr geführte Arbeiterschaft war der Krieg nicht zu führen.“[8]
Richtiger wäre wohl: … ohne die an der Nase herumgeführte Arbeiterschaft. Der bayerische Botschafter in Berlin, Graf Lerchenfeld, amüsierte sich am 31. Juli, einen Tag vor Kriegsbeginn: Die Sozialdemokraten hätten „für den Frieden pflichtgemäß demonstriert“, hielten sich aber jetzt „ganz still“.[9]
Burgfrieden
Die Generalkommission der freien Gewerkschaften bricht am 1. August 1914 alle Arbeitskämpfe ab. Der für die Dauer des Krieges geleistete Verzicht auf das Streikrecht wird bald überall als „Burgfriede“ bezeichnet. Mit Frieden hat dieser mittelalterliche Begriff wenig zu tun.
„Die Strafen für den Burgfriedensbruch“, so erklärt ein damals weit verbreitetes Lexikon, „waren hart, weil sich der [Feudal-]Herr selbst durch denselben beleidigt fühlte. So wurde bei Tätlichkeiten dem Übertreter die rechte Hand abgehauen.“[10] Das Symbol des Burgfriedens ähnelt dem Ladenschild eines Schlächters: Neben einem Beil die abgehackte Hand. Darauf sollte das ganze Unternehmen des „Großen Krieges“ denn auch hinauslaufen: eine „Industrie gewerbsmäßigen Menschenschlachtens“, wie ein Technikstudent schon im Februar 1915 aus dem Feld nach Hause schreibt.[11]
Natürlich wurde keinem der Gewerkschafter, die sich 1915 mit ihrer Unterschrift gegen den Eroberungskrieg erklärten, die Hand abgehackt, aber es genügte ja die Einberufung.
Der Reichstagsabgeordnete Max Cohen-Reuss (SPD) fasst im September 1914 den Erfolg der Burgfriedenspolitik zusammen und blickt in die Zukunft: „Der Regierung müsste doch aber auch in Rücksicht auf etwa spätere Kriege, die dem jetzigen doch bald folgen könnten, daran liegen, die jetzige Einigkeit zu einer dauernden zu machen, denn wie unendlich wertvoll die Geschlossenheit des Volkes sei, zeige sich doch gerade während der jetzigen schweren Kämpfe an der Aisne. Wäre es anders, würden wir so dastehen, wenn der 4. August nicht so einmütige Beschlüsse gezeitigt, die Sozialdemokratie von den übrigen Parteien abgetrennt hätte?“[12]
In der Schlacht an der Aisne östlich von Paris kämpften vom 12. bis 20. September 1914 auf beiden Seiten insgesamt 1,4 Millionen Mann. Sie erlitten schwerste Verluste. Danach erstarrte die Westfront im Stellungskrieg.
Mordkommission
Ab Dezember 1916 geht die Selektion im Rahmen des „Hindenburg-Programms“ noch eleganter, ist es doch der Sinn des Projekts, die letzten Reserven an Menschen und Material zu erschließen. Die personelle Seite regelt das „Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst“ vom 6. Dezember 1916. Nach dem „Weißbluten“ vor Verdun, nach den Vernichtungsorgien an der Somme ist das „Menschenmaterial“ knapp. Unter Beteiligung der neuen „Arbeiterausschüsse“ werden die Betriebe durchgekämmt. Das Gleiche gilt für die Lazarette, wo man die ausführenden Organe in schöner Direktheit „Mordkommissionen“ oder „Heldengreifer“ nennt.
Der Vorsitzende des Deutschen Metallarbeiterverbandes, Alexander Schlicke, bringt es in der neuen Hierarchie zum „Vorsitzenden des Vermittlungsausschusses für Arbeitsangelegenheiten beim Ersatz- und Arbeitsdepartement des Kriegsamtes“ – ein imposanter Titel und eine „kriegswirtschaftliche“ Funktion, die Schlicke zuverlässig davor schützt, einberufen zu werden.[13]
Immerhin verzichtet man darauf, die Entrechtung der Arbeiter mit einem Heiligenschein zu umgeben wie in Frankreich, wo man das Förderband aus tausenden Lkw, die das Kanonenfutter an die Verdunfront bringen, „Heilige Straße“ nennt, wo man von einer die Klassen übergreifenden „Heiligen Einheit“ spricht.
Der deutsche Versuch, einen Kult um das Fort Douaumont nordöstlich von Verdun aufzuziehen, kommt nie wirklich in die Gänge. Die Soldaten nennen das Fort nur den „Sargdeckel“. 650 Tote liegen dort noch heute, aufgeschichtet am Ende eines Ganges, hinter einer Mauer, die ein riesiges Eisernes Kreuz ziert. Sie wurden Opfer einer Munitionsexplosion in den mit Menschen voll gestopften Kasematten.
So wird denn das Schreckensjahr 1916 zum Jahr der staatlichen Anerkennung der Gewerkschaften, und weil für Betriebe größer als 50 Beschäftigte Arbeiterausschüsse obligatorisch sind, scheint es manchen, dort habe die Mitbestimmung ihren Ursprung.
Propagandisten
In welche Abgründe die Politik des Burgfriedens in den Jahren 1917/18 führt, illustriert eine weit verbreitete Broschüre, die zum höheren Ruhm des Kriegsamt-Chefs Wilhelm Groener produziert wird. Dort steht zu lesen: „Jede Frau, die einen Sohn geboren hat, der fern von ihr draußen auf dem Schlachtfeld irgendwo zwischen Waffentrümmern und Stacheldraht wieder zu Erde wird, und die darüber keine Träne zeigt, ist eine Heldin.“ „Ich weiß von Müttern“, fährt der Autor fort, „die nicht ruhten, bis ihre Jungen aus den weniger gefährdeten, hinteren Linien nach vorn in die Gräben kamen. Erst als sie dicht am Feind lagen, da waren ihre Herzen zufrieden.“[14] Diese Art Rhetorik erwuchs nicht erst aus dem Krieg. Sie stand schon bei Kriegsbeginn fertig da.
Wie hatte der Sprecher der SPD-Fraktion im Reichstag am 4. August in seiner Begründung der Kredite gesagt? „Wir denken auch an die Mütter, die ihre Söhne hergeben müssen … Wir hoffen, dass die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für die Ideale des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird.“
Die Parteipresse hält Wort und vermeidet „zweideutige Äußerungen“. Bis zuletzt verherrlicht sie den Massenmord. „Ungeheures, unsere Seelen Erschütterndes ereignet sich im Westen. In atemloser Spannung lauscht man in der ganzen Welt wieder den Kriegsberichten, gegen die man als alltägliche Speise schon gleichgültig geworden war… Dabei sind alle Menschen, die in dieser Riesenschlacht wirken…, doch nur nebensächlich in diesem Kriege der Technik und der Chemie.“ So schwärmt am 21. März 1918 die „Fränkische Tagespost“, einst das stolze Flaggschiff der Sozialdemokratie in Bayern. Die „Pfälzische Post“ (SPD) preist noch in den letzten Wochen des Krieges am 2. Oktober 1918 die „Höchstleistungen unserer Bombenflieger“ als habe schon der zweite Weltkrieg begonnen: „Von 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens wurde das gesamte Kampfgebiet in Flandern … in Atem gehalten. Der Kolonnenverkehr auf den Straßen und Transportzüge auf mehreren Strecken wurden erfolgreich mit Bomben beworfen und unter Maschinengewehrfeuer genommen. Feuernde Batterien wurden zum Schweigen gebracht…“[15]
Wilhelm Groener, Organisator der kriegswirtschaftlichen Mobilmachung seit Dezember 1917 und inzwischen Nachfolger Ludendorffs an der Spitze der Obersten Heeresleitung, ist der Partner Friedrich Eberts, als es am 10. November 1918 darum geht, die Revolutionäre um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegen die Wand laufen zu lassen.
Der Erbfeind
Trotz aller Bemühungen seit 1870/71 war es den herrschenden Kreisen nicht gelungen, den Franzosenhass in die Masse der organisierten Arbeiter zu tragen. Zu groß war die Achtung vor den revolutionären Traditionen des französischen Volkes, zu tief saß die Erinnerung an den heldenhaften Kampf der Pariser Kommunarden 1871. Bezeichnend für die enge Verbindung war der Brauch, die Marseillaise mit deutschem Text zu singen, als „Arbeiter-Marseillaise“: „Wohlan, wer Recht und Wahrheit achtet…“
So konnten die Kriegstreiber nicht sicher sein, wie sich die deutschen Arbeiter verhalten, wenn der große Krieg mit einer Kriegserklärung an Frankreich beginnen würde, wenn die deutschen Soldaten ihren französischen Kameraden das Bajonett in den Bauch stoßen sollten (nicht in die Rippen, das hatten sie exerziert). Zweifel bestanden, ob die patriotische Gehirnwäsche genauso erfolgreich war. Unter der Führung von August Bebel hatte die Partei eine große Erziehungsarbeit besonders unter der Jugend geleistet. Würden die jungen Männer womöglich Rosa Luxemburg folgen, die 1913 in Frankfurt unter tosendem Beifall erklärt hatte: „Und wenn uns zugemutet wird, auf unsere französischen Brüder die Mordwaffe zu erheben, dann antworten wir mit einem entschiedenen Nein!“
Die Russen
Mit den russischen Brüdern war der Umgang nicht ganz so kordial. Das Verhältnis zu den „Russen“ hatte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts manchen Wechsel durchgemacht.[16] 1830 hatten russische Truppen den polnischen Aufstand niedergeschlagen. 1849 waren es wieder die Soldaten des Zaren, die in Ungarn und erneut in Polen zuschlugen. 1905 schließlich erstickte das Zaren-Regime die Revolution im eigenen Land. Eine Welle der Sympathie mit den Opfern ging durch die deutsche Arbeiterbewegung.
Gleichzeitig brach eine heftige Kontroverse auf, ob es möglich sei (wie Rosa Luxemburg leidenschaftlich forderte), von den russischen Revolutionären zu lernen, zu prüfen, ob nicht auch in Deutschland die Waffe des „Massenstreiks“, des politischen Generalstreiks mit Erfolg Anwendung finden könnte. Die Führer der Gewerkschaften bestritten das heftig.
So schieden sich die Geister an den „Russen“, wobei nicht immer klar getrennt wurde zwischen dem reaktionären, rückständigen Russland und den Massen, die sich verzweifelt gegen Polizei und Militär wehrten. Man hatte die Massaker und Straflager vor Augen und dachte mit Grauen daran, eines Tages selbst unter die Knute zu geraten. In dieser Verwirrung der Gefühle machte das Wort von August Bebel die Runde, auch er werde auf seine alten Tage noch die Flinte auf den Buckel nehmen, wenn es gegen Russland gehe. So gesprochen auf dem SPD-Parteitag 1907.
Am 28. Juli 1914 erklärt Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, am 30. Juli erfolgt die Generalmobilmachung der russischen Armee. Der Kanzler hatte alles getan, um Russland als Angreifer erscheinen zu lassen. Jetzt ist er am Ziel. Der 1. August, der Tag der Kriegserklärung „an die Russen“ ist ein Samstag. Die Biergärten sind voll, die Extrablätter druckfeucht. Wer macht da noch einen Unterschied zwischen dem, was ein Russe im Innersten an sozialistischen Gedanken hegt und dem zaristischen Soldaten, der nun sein Bajonett aufpflanzt?
Angriff
Am 2. August marschieren die Soldaten des Kaisers ohne Kriegserklärung über die luxemburgische Grenze. Der Hauptmann von Köpenick hat, auf einer Brücke stehend, noch einmal preußisches Militär „unter sich“. Erst am 3. August geht die Kriegserklärung an Frankreich hinaus. Als die SPD am 4. August den Kriegskrediten zustimmt, haben die deutschen Truppen schon ihren Marsch durch Belgien begonnen.
Man hatte nicht für oder gegen den Krieg entscheiden wollen, sondern nur über die Kredite. So feine Unterschiede gedachte man zu machen. Am 25. und 28. August brennen im belgischen Löwen ganze Straßenzüge, Geiselerschießungen folgen, Deportationen. Der Monat ist noch nicht zu Ende, da ist man schon hineingezogen mit Haut und Haaren in den imperialistischen Raubkrieg.
Im Krieg mit dem russischen Despotismus, der sich mit dem Blut des eigenen Volkes befleckt habe, stehe viel, wenn nicht alles auf dem Spiel, so hatte es am 4. August geheißen. Es sind aber nicht die Despoten, denen man gegenübertritt, sondern Millionen Bauern und Arbeitern. Ihnen hatte man 1905 feierlich Solidarität geschworen. Nun füllen sie Massengräber und Gefangenenlager. Wilhelm II., der an einen schicksalhaften Endkampf zwischen Slawen und Germanen glaubt, kann nun ausrufen: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“
Als sich die Reichsregierung nach dem Krieg bei der Niederschlagung der Revolution in Berlin und München nun ihrerseits „mit dem Blut des eigenen Volkes befleckt“, da kennen die Noske-Söldner keine Kameraden mehr, sondern nur noch „Bolschewisten“. Das Einverständnis mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gibt Noske per Telefon.[17]
Der Leitspruch des 4. August wird zum Dauerbrenner. Erich Maria Remarque schreibt über den Sommer 1918: „Unsere Artillerie ist ausgeschossen…, die Rohre sind so ausgeleiert, dass sie unsicher schießen und bis zu uns herüberstreuen.“[18] „Die Artillerie kennt keine Parteien mehr“ karikiert Ernst Jünger diese Zustände.[19]
Abgewürgt
Am 28. Januar 1918 waren die Berliner Arbeiter in den Streik getreten. Die Arbeitsniederlegungen breiteten sich rasch über das ganze Reich aus. Vertreter der SPD-Führung würgten den Streik nach sieben Tagen ab. 1924 rechtfertigte sich Philipp Scheidemann vor Gericht gegen den Vorwurf des Hochverrats: „Wenn wir nicht in das Streikkomitee hineingegangen wären, dann wäre der Krieg und alles andere schon im Januar erledigt gewesen… Durch unser Wirken wurde der Streik bald beendet und alles in geregelte Bahnen gelenkt. Man sollte uns eigentlich dankbar sein…“[20]
Ganz ähnlich beklagt sich 1969 der Organisator des Mordes an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht: Denkmäler hätte man ihm eigentlich errichten müssen und Straßen nach ihm benennen. Man ehrte aber, wie allgemein üblich, den Metzger und nicht die Würste. In vielen Städten halten noch heute die Ebert- und Hindenburg-Straßen „Seit’ an Seit’“ diese dunkle Stunde der Arbeiterbewegung in Erinnerung.
Scheidemanns Aussage im Magdeburger Prozess gegen den Reichspräsidenten ist ungeheuerlich. Im Durchschnitt sterben während des Krieges 6.000 Soldaten pro Tag[21], in den 283 Tagen und Nächten der Verlängerung also 1.698.000.
Der Ersatz, der nun in die Front einrückt – das sind, wie Remarque schildert, „blutarme, erholungsbedürftige Knaben, die keinen Tornister tragen können, aber zu sterben wissen.“ „Deutschland muss bald leer sein“, sagt einer der Altgedienten. Das war nun wirklich eine „Verjüngung“, aber nicht ganz die, von der Dichter und Schriftsteller in den „Augusttagen“ und noch im Herbst 1914 geschwärmt hatten.[22]
Erich Maria Remarque listet auf: „Ruhr, Grippe, Typhus – Würgen, Verbrennen, Tod. Graben, Lazarett, Massengrab. Mehr Möglichkeiten gibt es nicht.“[23] Ernst Jünger notiert nach einem Gasangriff: „Ein junges Kerlchen, dessen blaue Lippen als schlimmes Vorzeichen aus dem schneeweißen Gesicht leuchteten, stammelte: ‚Ich bin zu schwer… ich werde nicht wieder…ich – muss – sterben.“[24] Das war 1916. Wie viele dieser halben Kinder waren seither elendiglich umgekommen? – und das Morden geht weiter. „Sommer 1918“, schreibt Remarque, „Nie ist schweigend mehr ertragen worden. Warum macht man kein Ende?“
Frieden
Die Matrosen der Hochseeflotte, die Soldaten, die Frauen und die Mädchen in den Rüstungsbetrieben, die Arbeiter: Sie haben schließlich doch den Frieden erzwungen, wie im Jahr zuvor die russischen Revolutionäre.
Friedrich Ebert steht auf der Tribüne, als die Berliner Truppen durch das Brandenburger Tor einziehen.[25] Er schwenkt den Zylinder und gibt den Militaristen das Stichwort: „Im Felde unbesiegt!“ Noch setzt er darauf, mit diesen Truppen in Berlin reinen Tisch machen zu können. Aber die Soldaten verweigern sich, und – kaum an der Tribüne vorbei – lösen sich die Kolonnen auf…
Doch das ist eine andere Geschichte.
[1] Vulkane und ihre Tätigkeit. 3. Aufl., Stuttgart 1981.
[2] Vgl. Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich, Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt 2013. Ergänzend die Übersicht „Der Erste Weltkrieg“ in der Geschichtsreihe des „Spiegel“, 5/2013.
[3] P.C. Ettighoffer, Verdun, Gütersloh 1936, Abb. vor S. 257.
[4] Elfi Müller (Bearb.), Organisiert Euch! Vom Fall des Sozialistengesetzes bis zur Novemberrevolution 1890-1918, Nürnberg 1984. Hier auch die folgenden Dokumente.
[5] Elfi Müller, Organisiert Euch!, S. 207 f. Vgl. auch Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd.1, Berlin 1958, S. 17 f.
[6] Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht, 2. Aufl. Düsseldorf 1962, S. 105.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 95.
[10] Meyers Konversations-Lexikon, Leipzig 1893.
[11] Der Spiegel: Geschichte, a,.a.O., S. 59.
[12] Fischer, a.a.O., S. 428.
[13] Vgl. Kurt Pohl/Frauke Werner, Die freien Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg, in: Frank Deppe u.a., Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, 4. A., Köln 1989, S. 115 ff. Zum Hilfsdienstgesetz vgl. Michael Kittner, Arbeitskampf, München 2005, S. 380.
[14] Anton Fendrich, „Wir“: Ein Hindenburgbuch, Stuttgart 1917, S. 62 f.
[15] Wachsam Tag und Nacht: Die Flugzeugbauer von Speyer, Speyer 2011.
[16] Dazu ausführlich Rosa Luxemburg in ihrem „Kriegsbuch“ (wie sie selbst es nennt), der Junius-Broschüre „Die Krise der Sozialdemokratie“, niedergeschrieben im April 1915, 1. Aufl. Zürich 1916.
[17] Vgl. Klaus Gietinger, Der Konterrevolutionär – Waldemar Pabst: Eine deutsche Karriere, Hamburg 2008. Pabst 1969: „Daß ich die Aktion ohne Zustimmung Noskes gar nicht durchführen konnte – mit Ebert im Hintergrund – und auch meine Offiziere schützen mußte, ist klar. Aber nur ganz wenige Menschen haben begriffen, warum ich nie vernommen oder unter Anklage gestellt worden bin. Ich habe als Kavalier das Verhalten der damaligen SPD damit quittiert, dass ich 50 Jahre lang das Maul gehalten habe über unsere Zusammenarbeit.“
[18] Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues, Köln 1998 ( Erstauflage 1929).
[19] Ernst Jünger, In Stahlgewittern, 48. Aufl. Stuttgart 1978, S. 306.
[20] Der Prozess des Reichspräsidenten. Bearb. Karl Brammer. Nebst jurist. Gutachten von Friedrich v. Payer; Gustav Radbruch; Eugen Schiffer; Hugo Sinzheimer u. a., Berlin 1925, S. 89.
[21] Der Spiegel 1/2014, S. 34. „Eine gigantische Tötungsmaschinerie sorgte dafür, dass im Durchschnitt täglich 6.000 Soldaten starben.“
[22] Unter vielen anderen auch Ricarda Huch in der „Frankfurter Zeitung“ v. 16. Oktober 1914 nach der Beschießung der Kathedrale von Reims durch deutsche Artillerie: „ Europa ist reich genug, um es sich mehr als einen Dom kosten lassen zu dürfen, wenn nur aus den Trümmern eine gereinigte, verjüngte Menschheit aufersteht.“ (FAZ 4.2.2014).
[23] Remarque, a.a.O., S. 191.
[24] Jünger, a.a.O., S. 95.
[25] Vgl. Sebastian Haffner, Die deutsche Revolution 1918/1919, München 1991.
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