Unter der Büchermasse, die ihren Druck dem bevorstehenden 100. Jahrestag des Beginns des 1. Weltkrieges verdankt, nimmt der Band von Hirschfeld/Krumeich[1] eine besondere Stellung ein. Sein Umfang schreckt nicht und er ist auf den ersten Blick und auch durch seine vielseitige Illustrierung als eine Darstellung erkennbar, die sich nicht nur an Spezialisten wendet, sondern als Leser ein ungleich breiteres Publikum sucht und wohl auch erreichen wird. Die Begrenzung des Umfangs war möglich, weil sich die Verfasser auf den deutschen Geschichtsaspekt konzentrieren. Auf die Darstellung der Vorkriegszeit und der so genannten Julikrise folgt die Schilderung der Massenstimmung zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns. Dann wird in nur drei Kapiteln die Spur der Ereignisse an den Fronten aufgenommen. Mehr Platz ist dem Leben an der „Heimatfront“, der Rolle der Kriegspropaganda, der Bedeutung der industriellen Produktion für die Kriegsdauer und der Politik im Kriege eingeräumt. Auch das belegt den Abschied von jener weithin überwundenen Fixierung der Kriegsgeschichte auf das Militär, auf Schlachten, Gefechte und Scharmützel. Auch das Leben des „gemeinen „Mannes“ oder der „Muschkoten“ im Kriege wird plastisch geschildert. Kapitel über den Zusammenbruch des militärischen Widerstandes an der Westfront, die Revolution, den Versailler Vertrag und die einsetzenden Nachkriegsentwicklungen beschließen den Band.
Dessen Autoren sind erstrangige Fachkenner. Gerd Krumeich hat bis 2010 an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf gelehrt. Er ist durch Publikationen zu verschiedensten Themen, die der Weltkrieg aufgibt, ausgewiesen und dies mit dem besonderen Blick in die deutsche und die französische Geschichte. Auch für Gerhard Hirschfeld, Professor an der Universität Stuttgart und Direktor der Bibliothek für Zeitgeschichte in Baden-Württembergs Hauptstadt, bildet der Erste Weltkrieg seit Jahrzehnten einen großen Gegenstand seiner Forschungsarbeit. Beide sind wiederholt gemeinsam als Autoren und Herausgeber hervorgetreten und haben sich 2003 mit der Enzyklopädie zum Ersten Weltkrieg gleichsam ein literarisches Denkmal gesetzt,[2] das eine Herausforderung darstellt und hoffentlich eines nicht fernen Tages Spezialisten den Anstoß für einen „Nachfolgeband“ über den Zweiten Weltkrieg geben wird.
Wider Christopher Clarks Revisionismus
Nun ist dieses Buch zu einem Zeitpunkt auf den Markt gelangt, da sich auf deutschen Bestsellerlisten eine Publikation des in Großbritannien lebenden australischen Forschers Christopher Clark, die im September 2013 deutschsprachig erschien[3], auf dem Wege zu Platz eins befand. Der Reklametext, mit dem sie der Verlag herausbrachte, lautet u. a.: „Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass das deutsche Kaiserreich wegen seiner Großmachtträume die Hauptverantwortung am Ausbruch des Ersten Weltkriegs trug.“ Die Sätze verbreiten Dunkelheit und ihr Inhalt ist schlicht falsch: Erstens beträgt die „lange Zeit“ ein halbes Jahrhundert. Zweitens hatte niemand, nach Art einer Verabredung zum nächsten Skatspielertreffen, ausgemacht, wie Geschichte zu betrachten sei. Vielmehr legte ein Forscher, der in Hamburg an der Universität lehrende Fritz Fischer, auf der Basis seiner Archivstudien Anfang der sechziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts Ergebnisse vor, die seine Schüler weiter fundierten und die in der Zunft der Historiker akzeptiert wurden. Sein Fazit wird auch in Schulgeschichtsbüchern der Bundesrepublik zitiert. Davon sogleich in einem knappen Exkurs einige Worte mehr.
Es waren – dies drittens – nicht Großmachtträume der zivilen und militärischen Führer im Reich Wilhelms II., denen die Hauptverantwortung für den Weg in den Weltkrieg zuzuschreiben ist, denn eine Großmacht war das 1871 gegründete Reich ökonomisch wie militärisch binnen drei Jahrzehnten schon geworden, sondern Weltmachtpläne. Weiter heißt es dann im Text: „In seinem bahnbrechenden neuen Werk kommt ... Clark zu einer anderen Einschätzung. Clark beschreibt minutiös die Interessen und Motivationen der wichtigsten politischen Akteure in den europäischen Metropolen und zeichnet das Bild einer komplexen Welt, in der gegenseitiges Misstrauen, Fehleinschätzungen, Überheblichkeit, Expansionspläne und nationalistische Bestrebungen zu einer Situation führten, in der ein Funke genügte, den Krieg auszulösen, dessen verheerende Folgen kaum jemand abzuschätzen vermochte.“ Erstens gehört die Allerweltsvokabel von der komplexen – zu deutsch: vielschichtigen oder vielgestaltigen – Welt zu den Lieblingsphrasen auch von Historikern, die eine Situation, ein Ereignis oder einen Prozess genauer nicht beschreiben können oder wollen, denn eine andere als die komplexe Welt gibt es nicht. Zweitens waren es nicht nur Irrtümer, Eitelkeiten, Pläne und Bestrebungen, die, wo Menschen agieren, stets anzutreffen sind, waren es nicht nur einzelne Akteure, deren unbeabsichtigtes Handeln oder Unterlassen eine Situation entstehen ließ, die keiner gewünscht oder gewollt hatte, an die jener junge Serbe Gavrilo Princip nur noch die Lunte zu legen und zu entzünden brauchte. Drittens ist es nicht wahr, dass die Folgen des Schritts über die Kriegsschwelle für niemanden absehbar gewesen wären. Dem widersprechen ein paar „Ausnahmen“, von denen drei – und zwar nach Herkunft, Denkweise und gesellschaftlicher Stellung sehr unterscheidbare – Zeitzeugen genannt werden sollen: Der Gesellschaftstheoretiker und Historiker Friedrich Engels (1820-1895), der 1887 auf die grundstürzenden politischen Ergebnisse verwies, die auf einen sich abzeichnenden Weltkrieg folgen könnten. Sodann der preußische Generalstabschef Helmuth Graf von Moltke (1880-1891), der 1890 sich in einer Reichstagsrede gegen die naive Vorstellung von einem kurzen Weltkrieg wandte und seine Ansprache mit einem „Wehe dem“, der die Lunte legt und zündet, schloss. Des Weiteren der Hamburger Lehrer Wilhelm Lamszus (1861-1965), ein Pazifist, der, was da nahte, 1910 als Menschenschlachthaus[4] identifizierte, ein Begriff, der später aus vieler Munde und Feder immer wieder benutzt wurde.
Ein Blick in Schulgeschichtsbücher
Welchen Platz eine bestimmt Sicht auf Personen, Ereignisse und Prozesse der Geschichte einnimmt, lässt sich nicht zuletzt an den Texten von Büchern erkennen, die im Geschichtsunterricht der Schulen benutzt werden. Das trifft auch auf die Sicht Fritz Fischers zu. Das Lehrbuch, das für Schulen Mecklenburg-Vorpommerns[5] bestimmt wurde, zitiert Fritz Fischer mit seiner Kernthese, wonach „die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges“ trägt. Darauf lassen die Autoren Thomas Nipperdey (1927-1992) mit dem Satz zu Wort kommen: „Der Krieg kam, weil alle oder einige am Frieden zweifelten, nicht weil alle oder einige zum Krieg unter allen Umständen entschlossen waren.“[6] Also kam er so, obwohl ihn eigentlich niemand wollte. Daran wird der „Arbeitsauftrag“ für die Schüler geschlossen: „Wie beurteilst du die Auffassung, dass der Imperialismus der europäischen Großmächte eine wesentliche Ursache für den Ersten Weltkrieg war? Begründe deine Meinung.“ Die Autoren halten sich zurück und den Schülern wird, wenn ihr Lehrer es nicht versucht, keine Meinung aufgedrängt. Man mag sich vorstellen, wie nach diesem didaktischen Grundsatz Unterrichtsstunden im Fach Physik oder Chemie verlaufen würden.
Ein anspruchsvolleres Schulbuch, zum Gebrauch in der Oberstufe gedacht[7], zu dessen Herausgebern Imanuel Geiss (1931-2012) gehört, der wohl durch seine Arbeiten bekannteste Fischer-Schüler, eröffnet die Zitatenreihe ebenfalls mit der schon angeführten Textstelle aus Fischers Hauptwerk. Darauf folgt Gerhard Ritters (1888-1967) Gegenposition, der zufolge Deutschland seit 1911 „eingekreist“ und in eine Situation gebracht worden sei, in der nur „eine Regierung von Abenteurern“ daran gedacht haben könnte, einen Krieg zu provozieren. Die aber, darf der Schüler hinzudenken, besaß Deutschland nicht. Und gerade den Militärs, fährt Ritter dann fort, wäre in jenem Zeitraum „klar bewusst“ geworden, wie unzulänglich ihre Land- und Seerüstungen waren, so dass auch sie sich auf das Abenteuer eines Zweifrontenkrieges nicht einlassen wollten. Das kann nur als Kriegsverzicht aufgrund des Wissens um die eigene Schwäche gelesen werden. Daran schließen sich Kurztexte von Andreas Hillgruber (1925-1989) und Klaus Hildebrand an, also von Vertretern der ersten Reihe bundesrepublikanischer Fachleute: Nach Hillgruber kann von einer zielbewusst auf den großen Krieg orientierten Reichspolitik, „wie sie Fritz Fischer zu sehen meint ..., keine Rede sein“. Hildebrand hingegen schreibt dem Deutschen Reich die initiierende Verantwortung „für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges“ zu. Doch hat er zuvor dargelegt, klargestellt, dass es dazu als Folge einer Politik gekommen sei, mit der die Reichsregierung den „Ring“, der um Deutschland gelegt worden war, entweder diplomatisch oder auf dem risikovollen Kriegsweg aufsprengen wollte. Also demnach vollzog sich so etwas wie eine Politik in Ab- und Notwehr. Hier lautet der anschließende Arbeitsvorschlag: „Stellen sie die Argumente der Kontroverse gegenüber“, was eigentlich auf den Seiten zuvor die Autoren schon taten, und weiter: „Überlegen Sie, woher der polemische Tonfall herrührt, wenn Sie an die Rolle Deutschlands im 20. Jahrhundert denken!“[8] Dieser rätselhafte Auftrag soll von den Schülern in Gruppenarbeit erledigt werden.
In einem noch unter Mitwirkung von Geschichtspädagogen und Historikern der DDR herausgegebenen Schulgeschichtsbuch für Mittelschulen in Sachsen[9], an dem wiederum auch Imanuel Geiss mitgearbeitet hat, wird zunächst Fischer mit seiner Kernthese zitiert und dahinter die ebenfalls schon vorgestellte Gegenposition Gerhard Ritters gesetzt. Daran schließt sich die Position Fritz Kleins (1924-2011) an, eines der bekanntesten Weltkriegsforschers im ostdeutschen Staat, der zufolge der deutsche Imperialismus „das größte Interesse an einer Neuaufteilung der Welt besaß“. Endlich kommt Thomas Nipperdey, jedoch mit einer anderen Textstelle, wieder zu Wort. Er meint: „Und wenn man ... die Entscheidungsfreiheit der Handelnden bedenkt, so haben alle Anteil an der Zuspitzung der Krise, wenn auch unterschiedlich“. Das ist, dies nebenbei, eine bemerkenswerte Logik, denn unter Berufung auf die gleiche Freiheit ließe sich doch begründen, dass alle ohne Anteil gewesen wären. Daran schließt sich die Forderung an die Schüler: „Entscheide Dich für ein Historiker-Urteil oder für Teilaspekte. Erkläre, warum Du Dich so entschieden hast.“[10] Die 14- oder 15jährigen Knaben und Mädchen sollen leisten, was die Buchautoren unterlassen haben. Damit genug von diesem Teil pluralistischer Schulpädagogik, die vor allem belegt, dass Fischers Auffassung den Schülern vorgestellt wurde, jedoch verbunden mit einer mehr oder weniger großen Zahl von Einwänden. Jedenfalls war die Auffassung über Deutschlands „Hauptverantwortung“ unter deutschen Schulbuchautoren keineswegs so „ausgemacht“, wie vom Verlag im Werbetext zu Clarks Buch behauptet. Damit zurück zu Clark und seiner zentralen These von der im Wesentlichen gleichen Schuld der europäischen Staaten und deren Politiker am Weg in den Weltkrieg.
Das englischsprachige Original war 2012 erschienen und Gerd Krumeich hatte in einer Rezension ihm ein Willkommen geschrieben und gefragt, ob nun nicht die Sicht Fritz Fischers auf die Rolle des Deutschen Kaiserreichs, seiner Zivilisten und Militärs an der Staatsspitze, entwickelt und begründet in dessen Werk „Griff nach der Weltmacht“[11], verabschiedet werden müsse. In ihrem Buch gehen Krumeich/Hirschfeld auf Clarks Version ausdrücklich nicht ein, sein Name fällt nicht und Fischer wird nur en passant als Entdecker jener Denkschrift erwähnt, in der die Reichsregierung 1914 im September ihre Kriegsziele zusammenfasste.
Ohne wissenschaftliche Debatte
Wie die deutschen Historiker, namentlich die an den Universitäten und Hochschulen Lehrenden, die doch für eine Auseinandersetzung mit dem australischen Hochschullehrer in erster Linie zuständig sein sollten, auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges blicken, ließ sich an der Zahl der Entgegnungen ablesen, die Clarks Buch herausforderte. Im Ganzen waren es zwei Stimmen, die sich, diese aber bestimmt, dem Revisionsversuch widersetzten. Die eine stammte von dem emeritierten Freiburger Hochschullehrer und vieljährigem Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr Wolfram Wette und wurde in einer politikwissenschaftlichen Zeitschrift gedruckt.[12] Die andere war die des Historikers und Publizisten Volker Ulrich, langjähriger leitender Mitarbeiter der Wochenzeitung „Die Zeit“, die seine Wortmeldung auch druckte.[13] Diese beiden Äußerungen sind die einzigen, die sich, unbekümmert um den argumentationslosen Beifall in Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen, auf Dokumente gestützt und auch in der Wortwahl deutlich von der jüngsten Verzeichnung der Vorgeschichte des Weltkrieges distanzierten.
Mit dem Schweigen der Mehrheit der Zuständigen war dafür gesorgt, dass die Medien in der Bundesrepublik ihre Begrüßungshymnen ungestört singen und senden konnten. Eine die Öffentlichkeit erreichende Debatte der Fachleute fand nicht statt. Wo sich Spezialisten in Sälen mit Clark trafen und sich deutschem Publikum in Talkshows präsentierten, war eine weitgehende Übereinstimmung gesichert. Die eigentlichen Kontrahenten wurden nicht zu Tische gebeten. Ein Abwägung der Auffassung Fischers und ihre genaue Punkt-für-Punkt-Konfrontation mit der Clarks, also eine Debatte, die das Kennzeichen „wissenschaftlich“ verdient hätte, fand nicht statt. Deutschlands Beitrag zum Weg in den Krieg wurde auf allgemeines Niveau herabgesetzt, so etwas wie eine zumindest partielle Rehabilitierung der deutschen Eliten von einst vorgenommen und das Bild der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschönt. Denn Fischer, dessen Geschichtsbild nun als veraltet und überholt markiert wurde, betraf nicht nur die Vorgeschichte von 1914, sondern stellte den Zusammenhang beider Weltkriege her, indem der Nachweis der Kontinuität der Politik des deutschen Imperialismus erbracht wurde.
Im einleitenden Kapitel „Vor dem Krieg“ benennen auch Hirschfeld/Krumeich die Kriegsursachen und charakterisieren insbesondere Deutschlands Rolle. Sie setzen bei den seit der Jahrhundertwende verschärften Auseinandersetzungen über die „imperiale Aufteilung der Welt“ (S. 11) ein, erwähnen den „kolonialen Wettlauf“ Deutschlands mit Frankreich und Großbritannien (S. 12), konstatieren die „aggressive Weltpolitik“ des Deutschen Reiches (S. 15), und einen „neuen deutschen Expansions- und Konfrontationskurs“ (S. 16), verweisen auf das Streben Deutschlands, „den Durchbruch zur ‚Weltmacht’ zu schaffen“ (S. 22) und „ein mehr oder minder zusammenhängendes Kolonialimperium zu erobern“ (S. 27). Sie zitieren aus der berühmten Rede August Bebels die beiden Sätze: „Dann kommt die Katastrophe. Alsdann wird in Europa der Generalmarsch geschlagen. auf den hin 16 bis 18 Millionen Männer, die Männerblüte der verschiedenen Nationen, ausgerüstet mit den besten Mordwerkzeugen gegeneinander als Feinde ins Feld rücken.“ (S. 28) Auch das ein Beleg gegen die These, es sei generell nicht voraussehbar gewesen, was für ein Krieg bevorstand, die übrigens ebenso durch den lange vor Kriegsbeginn anzutreffenden Gebrauch des Begriffs „Weltkrieg“ fragwürdig und unhaltbar ist.
Die gemiedene Frage nach den sozialen Ursachen
An der Existenz und dem Wirken „imperialistischer Kreise des Deutschen Reiches“ (S. 18) lassen die Autoren keine Zweifel. Indessen verzichten sie darauf, sie und deren Antriebe näher zu identifizieren, weder durch eine Zuordnung in der Gesellschaft noch in persona. Das erinnert doch an die Wendung in Bertolt Brechts Drama vom Herrn Puntila und seinem Knecht Matti, wonach, solange kein Name gefallen ist, nichts passiert sei. Indessen geht es um etwas mehr: Unter „imperialistisch“ wird nicht mehr als die Kennzeichnung einer Politik verstanden, die bestimmte Macht- oder kolonialpolitische Ziele verficht und die von den einen Politikern verfolgt, von anderen mit Skepsis gesehen, von dritten abgelehnt wird. Aus welchem Boden sie hervorgeht und gespeist wird, denn sie ist doch historisch entstanden und war nicht zu allen Zeiten anzutreffen, wird nicht erfragt und erforscht. Die Vorkriegsgesellschaften mit ihren Widersprüchen und Interessen bleiben uncharakterisiert und werden auf ihre Ursprünge nicht untersucht. Das ist ein bemerkenswertes Verfahren verglichen mit dem jedes Justizgerichts, das, vermutet es hinter einer Explosion eine Untat und einen Verbrecher, nicht nur nach dessen Absicht und Antrieb fragt, sondern auch nach den sozialen und individuellen Entstehungsgründen für sein Handeln fahndet und darüber hinaus nach Interessenten oder gar Auftraggebern, die es für das Geschehen womöglich ursächlich verantwortlich zu machen hat.
Das Forschen nach den Kriegsursachen nicht nur des Ersten Weltkrieges stößt, wie viele weitere Publikationen zeigen, auf eine Grenze. Wie akribisch auch immer betrieben, seine Reichweite endet bei den zumeist an der Rampe der historischen Bühne agierenden Personen. Diese werden nach Denken und Tun, Erfahrung und Unbedarftheit, Wissen und Unkenntnis, Rechnungen und Spekulationen, auch nach Eigenschaften ihres Charakters durchmustert, auch nach Einflüssen weiterer Personen und anderem mehr. Die gesellschaftlichen Zustände aber, in die sie gestellt sind, in denen sie ihren Platz und ihre Rolle fanden und besetzten – und das nicht nach dem Prinzip „Sie haben die freie Auswahl“ –, erfahren keine Analyse und Charakteristik. Es müsste sonst von der bürgerlichen Gesellschaft gehandelt werden, in der bei allem Wandel, der sich in einem Jahrhundert vollzog, die Europäer noch immer leben – und das wiederum ließe unbeliebte Fragen entstehen.
Zurück zu den Kennzeichnungen der imperialistischen Politik des Kaiserreiches bei Hirschfeld/Krumeich, die sie auch nicht zu der Aufnahme des Begriffs vom „imperialistischen Krieg“ führen. Sie spenden den Verfechtern dieser Politik eine Art Absolution, wenn sie behaupten: Von einem „zielbewussten Steuern in Richtung auf einen europäischen oder gar einen Weltkrieg kann nicht die Rede sein“. (S. 29) Gewiss nicht, wenn man sich darunter naiv vorstellt, es müsse so etwas wie einen Fahrplan mit Abfahrts- und Ankunftszeiten, Halte- und Zielbahnhöfen gegeben haben, wie ihn die Deutsche Reichsbahn besaß, und dazu eine vollständige Liste, in der alle denk- und wünschbaren Kriegsziele aneinandergereiht wurden. Als hätten die überkommene, unaufgegebene Grundhaltung, dass Krieg ein legitimes Mittel der Politik sei, und die erfahrungsgesättigte Überzeugung führender ziviler und militärischer Kreise, dass ihre imperialistischen Forderungen sich nur auf dem Wege militärischer Gewalt durchsetzen lassen würden, für ihren Entschluss nicht genügt. Der Anlass, die Schwelle zum Kriege zu überschreiten, würde sich finden, und ob der genutzt würde, war dann einzig von dem zu treffenden Urteil über Gunst oder Ungunst der Stunde abhängig.
Gar so weit sind die Autoren von dieser Sicht nicht entfernt, benutzen sie doch für die Charakteristik der deutschen Politik in der Juli-Krise Bilder wie die vom „deutschen Spiel mit dem Feuer“ (S. 42), das kein Spiel war, und vom Hantieren „mit der Lunte“ (S. 49). Die Tatsache, dass die politischen und militärischen Größen des Kaiserreiches einen anderen Krieg bekamen, als alle, die sie sich zuvor vorgestellt haben mochten, besagt nichts dagegen, dass sie ihn planvoll und zielbewusst begannen und manche von ihnen mindestens mit eine Vorahnung des Risikos, die sie zaudern und zögern, dann aber doch Ja sagen und mitmachen ließ.
Man muss den russischen Imperialismus, der nach dem Balkan und dem Bosporus gierte, nicht schön reden, nicht über die ebenfalls imperialistischen Interessen Großbritanniens und Frankreichs hinwegsehen, die ihre Macht strikt zu behaupten und auf die letzten nicht kolonialisierten Territorien auszudehnen suchten, man braucht von Italien nicht abzusehen, dass sich soeben durch einen Krieg gegen das osmanische Reich eine Kolonie im Norden Afrikas zugelegt hatte, auch nicht von Deutschlands Bundesgenossen Österreich, der seine slawischen Untertanen zu vermehren gedachte, und kommt doch zu dem Ergebnis, dass niemand mehr und ausdauernder und entschlossener auf einen Krieg hinarbeitete als das Deutsche Kaiserreich. Dieses Urteil steht auf sicherem Faktengrund. Und so braucht es keine Prophetie zur Aussage, dass es der bahnbrechenden Erkenntnis des Christopher Clark nicht anders ergehen wird als jener, die vor etwa zwei Jahrzehnten der US-amerikanische Soziologe Daniel J. Goldhagen mit „Hitlers willige Vollstrecker“ vorlegte. Wer erinnert sich des Reklamelärms noch, der um ihn und seine Entdeckung in der Bundesrepublik erzeugt wurde, und wer von jenen, die daran teilnahmen, will daran heute noch erinnert sein?
Interessanter als die Entdeckung Clarks ist die Frage, wie sich deren Aufnahme hierzulande erklären lässt. Das ist mit allen Verästelungen nicht leicht herauszufinden. Doch mit dem Bemerken, dass hinter Publikationen Verlage stehen, die Kasse machen, ist es nicht getan. Auch damit nicht, dass Journalisten aller Medien hinter Nachrichten her sind, denen sich ein sensationeller Anstrich geben und damit Aufmerksamkeit erzielen lässt. Doch: Clark hat „den Deutschen“ für 1914 zwar keinen Freispruch ausgestellt, aber sie doch – genauer: ihre Vorfahren –, von der Anklage einer eigenen größeren Verantwortung für das Völkergemetzel vor einem Jahrhundert schmerzlos entbunden. Er hat sie gleichsam auf das „europäische Niveau“ zurückgeholt. Das war Balsam auf alle deutschen Seelen, die beim Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts schon mit Hitler und den Seinen (und mit denen verbinden sich weitere Generationen ihrer Vorfahren) schon genug zu bewältigen haben. Da liegen die Dinge offen zu Tage und dennoch wird auch deren partielle Verdunkelung versucht. Der bevorstehende 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges wird da alte und neue Akteure auf den Plan rufen.
Die Abwehr gegen die Kriegsschuldfrage
Clarks These über Deutschlands Rolle auf dem Wege in den Ersten Weltkrieg hat für die Leser seines Buches eine Frage weitgehend aus dem Blickfeld gerückt[14], die er im gleichen Zusammenhang und sein Werk abschließend aufwirft. Sie lautet, ob es überhaupt die Geschichtswissenschaft und ihre Vertreter voranbringt, wenn nach der Kriegsschuld geforscht werde. Wörtlich fragt er, und zwar nicht allein im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg, sondern erkennbar mit Bezug auf jegliche Kriege: „Ist es wirklich nötig, dass wir ein Plädoyer gegen einen einzigen schuldigen Staat halten oder eine Rangordnung der Staaten nach ihren jeweiligen Anteil an der Verantwortung für den Kriegsausbruch aufstellen?“[15] Darauf antwortet der Autor nicht mit einem Ja oder einem Nein. Er listet vielmehr eine Reihe von Gefahren und Irrwegen auf, die sich auftun, würde mit diesem Ziel geforscht und geurteilt. Sein erster Einwand besagt, eine Darstellung, die sich „in erster Linie mit der Schuldfrage befasst“ (von solcher Linie war freilich nicht die Rede) und einem „schuldorientierten Untersuchungsmodell“ (was mag das sein?) folgt, gehe „oft mit Vorurteilen einher“. Das ist ein Bluff. Denn es gibt keine Frage und auch keine an die Geschichte zu stellende, die aufgrund von Vorurteilen nicht mit einer falschen Antwort versehen werden, nicht statt zur Wahrheit in den Irrtum führen könnte. Und es gibt keine Zählung und folglich keinen Beweis, dass dies bei der Erforschung der Kriegsschuldfrage oft geschehen würde. Der zweite Einwand behauptet, eine solche Darstellung neige zu „der Prämisse“, dass „ein Protagonist letztlich Recht und der andere Unrecht haben muss.“ Indessen ist die Frage nach historischem Recht oder Unrecht eine andere als die nach Schuld oder Unschuld an einem Kriege. Dass jemand einen Anspruch rechtens geltend machen kann, gibt ihm nicht das Recht, ihn kriegerisch durchzusetzen, und also kann, wer im Recht sein mag, dennoch die Schuld an einem Kriege tragen. Drittens hafte dem „anklägerischen Ansatz der Nachteil“ an, das Blickfeld der Forschenden einzuengen, denn es würde auf einen Staat eingegrenzt statt auf die Summe der Beteiligten und deren Handeln ausgeweitet. Wen mag sich der Autor hier als einen Erforscher vorstellen? Kaiser Wilhelm II., Hindenburg oder einen aus der großen Schar derer, welche die Lügen von deutscher Unschuld und der Vaterlandsverteidigung verbreiteten? Einen Historiker jedenfalls nicht, denn dessen Ansatz bildet die Erhellung der Frage nach Kriegsursachen und Kriegsverursachern und, sofern das nicht eindeutig ist wie im Falle des Zweiten Weltkrieges, die Untersuchung und, soweit möglich, Abwägung der Anteile aller. Erst am Ende lässt sich dann urteilen, wem welche oder welcher Teil der Verantwortung und der historischen Schuld zuzumessen ist. Sodann, Clark weiter, würden die Schuldsucher dazu neigen, die Handlungen der Mächtigen als geplant und absichtsvoll zu konstruieren. Ins Extrem getrieben, bringe dieses Vorgehen „Konspirationsnarrative hervor, in denen ... Einzelpersonen wie die Bösewichte ... die Ereignisse hinter den Kulissen nach einem bösen Plan“ steuern würden. Hier nun lässt Clark seiner Phantasie freien Lauf – nicht völlig, sondern angeregt und gelenkt durch James-Bond-Filme, auf die er verweist, um diese „Neigung“ zu veranschaulichen. Dieser Ansatz, meint der Autor zusammenfassend, könne wohl eine moralische Befriedigung derer bewirken, die ihm folgten. Nebenbei: Alle diese Gefahrenthesen erscheinen dem Autor so am Tage zu liegen, dass er auf jeden Literaturverweis verzichtet, mit der die eine oder andere belegt worden wäre. Der Krieg von 1914, so schließt er, zu seinem Hauptthema zurückkehrend, sei ohne Absicht, Plan und Ziel zustande gekommen[16], schlafwandelnd eben.
Clarks Zurückweisung der Frage nach der Kriegsschuld, das kann hier nicht unerwähnt bleiben, bezeugt die Haltung eines Historikers, der gesellschaftliche Bedürfnisse ignoriert. Denn Antworten darauf suchten Millionen Menschen, Angehörige vieler Nationen und Völker. Und sie fragten umso mehr und lauter, je mehr die Menschenverluste, die zerstörten Landschaften und Werte aller Art mit den Kriegsjahren ins unermessliche wuchs. Und können, um beim Ersten Weltkrieg zu bleiben, Forscher die Frage abweisen im Wissen, das schon vor Kriegsbeginn von den Herrschenden im Deutschen Kaiserreich dafür gesorgt wurde, dass der Verdacht der Kriegsschuld nicht auf sie falle, im weiteren Wissen, dass der deutsche Kaiser wie der Österreich-Ungarns in Appellen an ihre Untertanen beteuerten, dass sie diesen Krieg nicht wollten, ja nichts mehr wünschten, als in Frieden zu leben? Sollen sie diese Lügen unwiderlegt stehen lassen? Oder die Frage der Kriegsschuld an Moralphilosophen, Psychologen und Psychiater überweisen und an die Juristen? Und soll ihr Schweigen aus vorgeblich innerwissenschaftlichen Gründen diejenigen bedienen, die heute wünschen, dass nach ihrer Rolle bei der Entstehung von Kriegen nicht gefragt wird? Diese Fragen sind nahezu rhetorisch. Doch gilt das nicht für die eine, wie erklärt werden kann, dass die Kritik hierzulande Clarks Zurückweisung der Kriegsschuldfrage hingenommen hat.
Konnten „wir“ nicht doch siegen?
Lässt sich das Buch des Australiers, ohne dass die vielen Details, die er zum Hergang der politischen und diplomatischen Aktionen erforscht und ausgebreitet hat, gering geschätzt oder gar ignoriert werden, in seinem Kern als ein zum Scheitern verurteilter Versuch der Geschichtsrevision ablegen, so gilt das für die ebenfalls und von deutschen Wissenschaftlern wiederbelebte Frage, ob das Kaiserreich Wilhelms II. den Ersten Weltkrieg nicht doch hätte gewinnen können, nicht. Diese Frage erscheint als grotesk, zu Deutsch etwa: grillenhaft. Dennoch haben sich zwei ernst zu nehmende Männer die Frage wieder gestellt, die, kaum dass die Waffen 1918 deutscherseits gestreckt waren, vor allem die Militärs beschäftigte, pensionierte wie in die Reichswehr übernommene. Sie waren die ersten, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten begannen, Lehren für ein anderes Mal zu gewinnen. Das ging nicht ohne reichliche Schuldzuweisungen an jene ab, denen die Verhinderung oder gar die Sabotage des Sieges angelastet wurde. Hitler gab die Schuld der Vorkriegspolitik, die sowohl die rechte Erziehung der Massen verfehlt wie den besten Zeitpunkt für den Kriegsbeginn verpasst habe. Andere apostrophierten Fehler und Versäumnisse der Diplomatie und Bündnispolitik, dritte Mängel des Schlieffenplans und seiner Modifikation, wieder andere die zaudernde Politik von Zivilisten an der Reichsspitze und die unentschlossene Unterdrückung der Kriegsgegner sowie die demoralisierenden Friedensangebote im Kriegsverlauf usw.
Nun also hat der von deutschen Medien viel bemühte Herfried Münkler, Professor für Politische Wissenschaften an der Humboldt-Universität, dessen Studien jüngst auch von der Volkswagen- und der Thyssen-Stiftung kräftig gefördert wurden, sich dieses Gegenstands erneut angenommen. Und er hat eine schlichte Antwort wieder gefunden. Er sieht, wie er Lesern ebenso wie Fernsehzuschauern mitteilte, den Sieg bei Beginn des Krieges möglich und dennoch vergeben, weil der deutschen Streitmacht, angetreten zur Verwirklichung des Schlieffen-Plans, dazu „unter dem Strich drei Armeekorps“ gefehlt hätten[17], um auf dem Boden Frankreichs im August und September 1914 zu siegen. Mit ihnen kein „Wunder an der Marne“, mit ihnen kein Rückzug und kein immer tieferes Eingraben in endlose Gräben von der deutsch-schweizerischen Grenze bis an die belgische Nordseeküste, kein elendes Leben hunderttausender Soldaten in Unterständen, die sie mit Läusen und Ratten teilten. Mit ihnen der Sieg im Westen und sodann der Einsatz der geballten Kraft im Osten gegen das Zarenreich und seine Armee und das erfüllte Versprechen, „Weihnachten sind wir wieder zu Hause“.
Wer hat da im preußisch-deutschen Generalstab, fußend auf dem Plan des Alfred von Schlieffen aus dem Jahre 1905, den Triumph sichernden Bedarf nicht richtig errechnen können? Sein Nachfolger auf dem Platze des Generalstabschefs, der Neffe des berühmten Helmuth von Moltke? Der war nach dem Scheitern des Plans, für den kein Ersatz existierte, noch 1914 ab- und in die zweite Reihe getreten, dann aber 1916 einem Schlaganfall erlegen, so dass er das vollständige Ende seiner Unternehmung nicht mehr erlebte. Nein, konstatiert Münkler, es handelte sich überhaupt nicht um einen Fehler, herrührend aus Unkenntnis in niederer Mathematik. Hingegen: Die Vergrößerung des kaiserlichen Heeres vor dem Kriege hätte mehr Offiziere verlangt, und diese mussten, da die Söhne des Adels dann nicht ausgereicht hätten, aus bürgerlichen Schichten gewonnen werden. Das war nicht gewollt. Und für den notwendig zu vergrößernden Bestand an Unteroffizieren wäre auf Männer aus Arbeiterschichten zurückzugreifen gewesen – und das galt wegen der dort in Teilen eingerissenen Frontstellung gegen den Mordspatriotismus ebenso wenig als annehmbare Problemlösung. So sind die letzten Ursachen für Deutschlands Niederlage und deren Folgen in zwei so gegensätzlichen Erscheinungen ausgemacht wie dem Hochmut des Adels, der, womöglich auch aus Konkurrenzangst, nicht Seite an Seite mit Bürgerlichen habe kommandieren und befehlen wollen, und der Sabotage der Sozialdemokratischen Partei, die in der Arbeiterklasse die Liebe zum Vaterland und die Treue zum Kaiserhaus jedenfalls partiell untergraben hatte. Zudem setzte diese Vergrößerung des Heeres finanzielle Mittel voraus, die der Reichstag in diesem Umfang nicht genehmigt hatte, sodass dessen Abgeordnete eine besondere Schuld für den verpassten Sieg trifft.
Nun hätten die unter dem Strich Fehlenden insgesamt etwa 30.000 Soldaten ausgemacht. Das ist, gemessen an der Gesamtzahl der in Westen eingesetzten Streitmacht, eine geringfügige Zahl, die für sich aber nichts besagt. Denn an einem entscheidenden Punkt eingesetzt konnten sie für den Ausgang einer Offensive eine entscheidende Rolle spielen. Doch wer glaubt im Ernst, dass diese Korps nach fünf Wochen Krieg mit Gewaltmärschen und Kämpfen anders verfasst gewesen wären, als die tatsächlich vorhandenen, die aufs äußerste strapaziert mit ihren Spitzen 50 Kilometer vor Paris standen? Wer sagt, dass ihr Nachschub weniger anfällig gewesen wäre, als jener der anderen Korps? Wer, dass der Zustand ihrer Pferde, des hauptsächlichen Zugmittels für Kriegsgerät, Munition und Verpflegung, sich besser befunden hätte als der allgemeine? Ein Zustand, den ein Militär in die Feststellung fasste, die Armee besäße kein Tier mehr, das schneller als Schritt gehen könne? Wer, dass diese Korps mehr französische Gefangene gemacht hätten als ihre Nachbarn, wozu der geordnete Rückzug des Gegners hätte verhindert werden müssen? Mit der Rechnung „unter dem Strich“ ist das Feld der Wissenschaft verlassen und das der Spekulation betreten, und so lässt sich fragen, welcher Reiz auf einen Autor ausging, diesen Schritt vom sicheren Grund in einen Sumpf zu tun.
Mehr Verwunderung noch löst die Tatsache aus, dass die Frage, ob Deutschland aus diesem Kriege schließlich doch und nicht nur, wie verlogen behauptet, als „im Felde unbesiegt“, sondern als wirklicher Sieger hätte hervorgehen können, auch den Historiker Gerd Krumeich beschäftigt hat. Wie Münkler stellt er eine contrafaktische Überlegung zum Ausgang des Weltkrieges an. Das geschieht in einer kleinen Schrift, einem Vorwort zu einem 2013 erschienenen Buch, dessen Herausgeber zwei französische Fachleute sind und an dem weitere Kenner der Materie mitwirkten. Darin ist in einem Abschnitt unter der Überschrift „Schluss mit dem Gemetzel, wir wollen frei sein!“ von der im Frühjahr 1917 sich geltend machenden Kriegsmüdigkeit französischer Soldaten die Rede, von Verweigerungen, sich in sinnlose Angriffe und den Tod befehlen zu lassen und der brutalen Wiederherstellung der Disziplin durch mörderische Erschießungen. Dies und die Geschichte der letzten deutschen Offensive in Frankreich, unternommen unter dem Namen „Michael“ und rasch gescheitert im Frühjahr 1918, meint Krumeich „kann uns Deutsche auf neue Gedanken bringen bei einer Gesamteinschätzung des Krieges“. Und fährt fort: „Man spürt in dieser Darstellung förmlich etwas, was im deutschen Historikerdiskurs über diese Zeit vollständig verloren gegangen ist, nämlich die Tatsache, dass eventuell noch im Sommer 1918 Deutschland den Krieg hätte siegreich beenden können.“[18] Ob dieses Ende überhaupt – und wenn ja für wen – wünschenswert gewesen wäre, bleibt bei Krumeich so wenig erörtert wie bei Münkler. Vertieft diskutieren möchte er hingegen auch „den damaligen Vorwurf vieler deutscher Soldaten, von der Heimat im Stich gelassen worden zu sein“. Diese Kernthese und Hauptstütze der Legende vom im Felde unbesiegten Heer, schreibt er, ließe sich heute erörtern, ohne Gefahr zu laufen, Nationalisten zu bedienen. Dessen ist sich Krumeich sicher. Wo lebt der Mann?
Zunächst: Dieses Bild vom Kräfteverhältnis auf Frankreichs Schlachtfeldern im Frühjahr und Sommer 1918 ist nicht nur abstrus. Es ist auch in der Sache falsch. Und das hat, was ein weiteres Rätsel aufgibt, Krumeich an anderer Stelle selbst überzeugend dargelegt. Davon sogleich. Zunächst aber: Dass Deutschland diesen Krieg gewinnen könne, hatte sich für weitsichtigere Militärs mit dem Scheitern 50 Kilometer vor Paris erledigt. Da schon, im Herbst 1914, wurden Stimmen, wenn auch nicht öffentlich, hörbar, dass ein politischer Ausweg aus dem Krieg gesucht werden müsse. Doch selbst diejenigen, die sich im dann einsetzenden Ermattungskrieg einen deutschen Sieg noch auszurechnen vermochten, mussten 1917 mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und dem Eintreffen immer neuer ausgeruhter, gut ernährter, bestens bewaffneter US-amerikanischer Soldaten jeden Gedanken aufgeben, dass Deutschland aus diesem Krieg auch nur glimpflich herauskommen könnte. Gemeinsam haben Hirschfeld/Krumeich die Entwicklung der Kriegslage seit Anfang 1918 in ihrem mehrfach zitierten Buch so geschildert: Es sei von da an an der Westfront nicht mehr um einen Endsieg gegangen. sondern allein noch darum, durch einen „kolossalen Durchbruch ... die Gegner zu einem ebenso ‚ehrenvollen’ wie einträglichen Waffenstillstand“ zu bewegen. (S. 246) Zu diesem Zweck befahl die Oberste Heeresleitung ein bis dahin nicht da gewesenes Aufgebot von 1,4 Millionen Männern in die Schlacht, die nach Anfangserfolgen, die sich nur vor dem Hintergrund der geringen Geländegewinne der Offensiven in den Jahren zuvor als bedeutend ausnahmen, am 5. April als gescheitert abgebrochen werden musste. Was folgte war ein zielloses Anrennen deutscher in partielle Offensiven befohlener Soldaten, denen die Sinnlosigkeit ihres Sterbens immer mehr zu Bewusstsein kam und die diese Einsicht mit einem „verdeckten Militärstreik“ beantworteten (S. 252). Die schwindenden deutschen Kräfte sahen sich der unausgesetzt wachsenden Masse US-amerikanischer Soldaten, insgesamt schließlich 1,3 Millionen, gegenüber. Da war im Juli 1918 „der Wendepunkt des Krieges“ schon erreicht. Die „entmutigten deutschen Soldaten“ hätten en masse begonnen, die Front zu verlassen. (S. 253) Eine Massenflucht habe eingesetzt, von den einen angetreten in Richtung Heimat, von anderen in die Gefangenschaft (S. 254/255). Das Fazit der Autoren lautet, das schließlich die überwiegende Mehrheit der Deutschen, Zivilisten wie Soldaten, „nicht die geringste Neigung verspürte, den seit längerem verlorenen Krieg fortzusetzen“. (S. 260) Nach alledem mag sich ein Leser fragen, was einen Autor mit diesen Kenntnissen auf den Gedanken verfallen ließ, „dass eventuell noch im Sommer 1918 Deutschland den Krieg hätte siegreich beenden können.“ Jedenfalls stellt sich das Bild eines schwankenden Rohres ein, ohne dass zu erklären ist, was solch Schwanken verursacht.
Hunderttausende deutsche Soldaten, die nach dem Großangriff der Gegner am 8. August 1918, dem so genannten „schwarzen Tag“, sich auf den Rückzug begeben hatten, wussten mithin aus eigenem Erleben, dass sie die Geschlagenen waren. Am sichersten konnten das des Kaisers Generale beurteilen, was sie nicht hinderte, später Untersuchungskommissionen der Nationalversammlung und des Reichstages skrupellos die Mär vom „im Felde unbesiegten Heer“ aufzubinden, mit der sie ihr Debakel und ihre Verantwortung wegzureden trachteten.
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Die gewiss unvollständige Durchmusterung literarischer Produktionen, die dem 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges vorausgeschickt wurde, kann jedenfalls vor einem Irrtum schützen und erweisen, dass die viel gerühmte „Bewältigung deutscher Vergangenheit“ zu kurz greift, wenn sie auf die Geschichte des deutschen Faschismus – der Ideologie, der Bewegung und des Staates – begrenzt bleibt. Das zu erledigende Pensum ist etwas umfangreicher.
[1] Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich. Deutschland im Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2013.
[2] Gerhard Hirschfeld mit Gerd Krumeich und Irina Renz (Hrg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2003. Aktualisierte und erw. Studienausgabe (UTB), Paderborn 2009. Vgl. die englische Ausgabe 2012: BRILL’S Encyclopedia of the First World War, ed. by Gerhard Hirschfeld,. Gerd Krumeich, Irina Renz, in cooperation with Markus Pöhlmann. English ed. supervised by James S. Corum, 2 Vol,, Leiden, Boston. Mass. 2012.
[3] Cristopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog, München 2013.
[4] Wilhelm Lamszus, Das Menschenschlachthaus – Bilder vom kommenden Krieg, kommentierter Nachdruck der 1. Auflage von 1912, München 1980.
[5] Geschichte plus, Klasse 10, Ausgabe Mecklenburg-Vorpommern [Verlag Volk und Wissen], Berlin 2003.
[6] Ebd. S. 38.
[7] Epochen und Strukturen: Grundzüge einer Universalgeschichte für die Oberstufe, hrg. v. Imanuel Geiss, Band 2: Vom Absolutismus bis zur Gegenwart [Diesterweg-Verlag], Frankfurt/M. 1996.
[8] Ebd. S. 222f. und 226.
[9] Expedition Geschichte 4, Klasse 8 [Diesterweg-Verlag], Frankfurt am Main 2006.
[10] Ebd. S. 31f.
[11] Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des Kaiserreichs 1914-1918, Düsseldorf 1961.
[12] Wolfram Wette, 1914: Der deutsche Wille zum Zukunftskrieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik,1/2014, S. 41 – 53.
[13] Volker Ulrich, Erster Weltkrieg. Zündschnur und Pulverfass, in: Die Zeit, 38/2013, 17. September 2013.
[14] Nicht jedoch für Volker Ulrich, a. a. O.
[15] Clark, a. a. O., S. 715.
[16] Ebenda, S. 716.
[17] Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013. „Die Deutschen haben gerade mal 50 Prozent der wehrtüchtigen jungen Männer wehrtüchtig ausgebildet. Das haben sie unter anderem darum nicht getan, weil, wenn sie das getan hätten, es dazu geführt hätte, dass sehr viele Bürgerliche Offiziere geworden wären, was fast noch schlimmer ist, sehr viele Sozialdemokraten Unteroffiziere. Das heißt, es wäre eine andere Armee gewesen. Das führt dazu, dass sie im Prinzip zu wenige Männer im August/September 1914 haben, es fehlen ihnen unterm Strich drei Armeekorps, die sie gebraucht hätten.“ Herfried Münkler im Interview, RBB Fernsehen, Sendung Stilbruch, 9. Januar 2014, 22.15 Uhr.
[18] Gerd Krumeich, Vorwort zu: Bruno Cabanes, Anne Duménil (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe, Darmstadt 2013, S. 9.