Martin Hundt (Hrsg.), Der Redaktionsbriefwechsel der Hallischen, Deutschen und Deutsch-Französi-schen Jahrbücher (1837-1844), Bd. 1: Der Briefwechsel um die Hallischen Jahrbücher, Bd. 2: Der Briefwechsel um die Deutschen Jahrbücher und die Deutsch-Französischen Jahrbücher, Bd. 3: Apparat, Akademie Verlag, Berlin 2010, 1369 und 281 S., geb., 298 Euro.
Nicht mehr vielen Leserinnen und Lesern von heute werden die im Buchtitel benannten Jahrbücher geläufig sein. Sie waren aber das ‚Zentralorgan’ des sogenannten Junghegelianismus, das von ihrem ‚Cheforganisator’ Arnold Ruge (1802-1880) herausgegeben wurde. Mit diesen Jahrbüchern soll nach dem enthusiastischen Urteil prominenter Anhänger der Junghegelianer der Diskurs der von Hegel eröffneten Moderne dauerhaft etabliert worden sein. So meint z.B. seit seiner Dissertation Jürgen Habermas: “Wir sind im Grunde alle Junghegelianer“. Die Fragen dabei sind jedoch: Wer ist „wir“ und wer sind eigentlich die Junghegelianer? (33ff; alle Seitenangaben beziehen sich wenn nicht anders angegeben auf den 3. Band)? Darüber gibt es seit über zwanzig Jahren eine engagierte Debatte: wer zu den Junghegelianern zu zählen ist und was ihre nähere sozialhistorische und ideengeschichtliche Bestimmung ausmacht, wenn es denn mehr sein soll, als die frühere wenigstens politische Einteilung als Links- und Rechtshegelianer, die allerdings auch nicht zweifelsfrei war.
Eine pragmatische Möglichkeit aber, die Martin Hundt ausgiebig nutzt, besteht darin, fast alle Mitarbeiter an den hier genannten, von Arnold Ruge herausgegebenen Jahrbüchern als Junghegelianer zu betrachten. Wie viele Briefe dieser Mann zwischen 1837 und 1844 in noch nicht zehn Jahren neben dem Verfassen eigener Artikel und Bücher mit knapp 450 Korrespondenten und Autoren (ohne Redaktionsteam und technische Medien!) gewechselt hatte, grenzt schon selbst dann ans Unglaubliche, wenn man die verlorenen Korrespondenzen nicht berücksichtigt (Hundts Edition umfasst 1.222 Stück). Nur wer sich dieses Ausmaß vor Augen führt, kann einen Begriff davon gewinnen, was es nach bald zweihundert Jahren für den Herausgeber bedeutete, diesen Redaktionsbriefwechsel zu rekonstruieren, die vielfältigen Archive zu sondieren (trotz des glücklichen Erhalts der auf drei Archive verteilten Briefe, die bei der Redaktion eingegangen waren) und die ausgegangenen Briefe zu finden, die verschiedenen Handschriften zu lesen, zu transkribieren und zu kommentieren sowie ihre keineswegs immer bekannten Autoren zu identifizieren und die Anonyme wie Pseudonyme zu ‚knacken’ (vgl. 194-206). All dieses leistete der Herausgeber wie Ruge ganz alleine und ist mit diesem, was die Arbeitsleistung betrifft, mindestens ebenbürtig. Obendrein hat er die noch vorhandenen Handschriften einer Reihe von Briefen, die seit dem Vormärz bereits publiziert worden waren, noch einmal kritisch kontrolliert und korrigiert.
Auf die wichtigsten inhaltlichen Aspekte dieser Edition, die einen ersten Eindruck von dem thematischen Reichtum vermitteln können, kommt Hundt in seiner Einleitung zu sprechen. Zunächst wird die Bedeutung von Briefen für die Erforschung der Junghegelianer als die neben der altbekannten Broschürenliteratur und der Presse dritte, bislang stark vernachlässigte Quellenart herausgearbeitet (3-12). Sodann werden die Bestimmungen vom Charakter und Beginn des Junghegelianismus (Halle als Ausgangspunkt sowie die Bedeutung von Hegel, Heine und den Burschenschaftern für diese Richtung) beleuchtet (13-27): Nach dem „Wer war Junghegelianer?“ behandelt Hundt die Breite der Bewegung und das junghegelianische Verhältnis zu emanzipatorischen Tendenzen (Frauen/Sozialismus) und das Ende des Junghegelianismus u.a. mit und durch Bruno Bauer, den Hundt zutreffend als den „Totengräber“ des Junghegelianismus fast gegen die gesamte herrschende Forschung (von Barnikol über Tomba und Moggach bis jüngstens Kodalle) bezeichnet (43f). Darüber hinaus aber macht erst diese erste umfassende Edition des Redaktionsbriefwechsels zweierlei noch deutlicher: (1) Dass sich nämlich im Verlauf der Ruge’sche Redaktion von den Hallischen zu den Deutschen Jahrbüchern eine nicht zuletzt von der preußischen Zensur geförderte ‚radikalisierende Tendenz’ der vormärzlichen Opposition abzeichnete, die viele anfängliche Mitstreiter insbesondere des süddeutschen Liberalismus abschreckte. (2) Ein wirkliches Spezifikum der Hundtschen Betrachtungsweise ist die Einbeziehung der Fortsetzung der Jahrbücher-Konzeption bis hin zur Herausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher von Ruge und Karl Marx – geplant war anfangs noch Karl Nauwerck als Mitherausgeber – (33-50), die Beiträge von Marx und Friedrich Engels enthielten und das politisch-theoretische Paradigma einer ‚links’hegelianischen Entwicklung bis heute hin überhaupt erst diskutierbar machten.
Ein gewichtiger Abschnitt ist der Philosophiegeschichte (50-58) gewidmet, die für die Vormärzphase nach Hegel in den traditionellen Darstellungen fast gar nicht (57) oder negativ als ‚Niedergang’ behandelt worden ist, ging es hier doch gegen die gigantischen ‚Denkfabriken’ von Kant bis Hegel nur um ‚kleine Meister’ (D. Henrich). Diese Lücken sind längst überfällig und von der künftigen Forschung zu füllen, die dabei Hundts Urteil folgen kann: „Mit dem Junghegelianismus – und nicht vor ihm – bricht also eine lange Entwicklung ab […]. Er war eine ‚letzte Form’ der klassischen „Gesamtphilosophie der Gesellschaft.“ (58) Darüber hinaus aber wird ohne diese Briefsammlung eine Gesamtdarstellung der Junghegelianer und dieser letzten eigentlichen Vormärzphase nicht möglich sein, da nach den anfänglichen größeren Quelleneditionen von Paul Nerrlich über Franz Mehring bis zu Gustav Mayer Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Hundtschen Arbeit wieder erstmalig ungenutzte Materialien zur Verfügung gestellt worden sind.
Aber – und das ist Teil unserer kleinen scientific community in der Junghegelianismusforschung – Hundt hebt völlig zu Recht hervor, dass die Bedeutung der junghegelianischen Bewegung keineswegs auf die Philosophie zu beschränken wäre (35). Denn zu groß sind Anteil und Wirkungen dieses frühen Interdisziplinaritätsprojektes gewesen, die Teilnahme von Theologen, Pädagogen, Literaturwissenschaftlern, Philologen, Dichtern und angehenden Journalisten, Historikern, Juristen, ‚Politikwissenschaftlern’ und Politikern usw. Indem Hundt nicht müde wird, die beteiligten Personen aufzuzählen (34-36, 59f), ermöglichen die Briefdaten ertragreiche Biographieforschung (5) wie auch das, was heute Netzwerkanalysen anstreben, und sie geben die Chance, die beteiligte junghegelianische Intellektuellengruppe einschließlich ihres unbeteiligten Sympathisantenkreises als „Bewegung“ begreifbar machen zu können (34). Oder sollten wir nicht doch besser von intellektuellen Gruppen sprechen, von denen der liberale Großteil seinen ‚revolutionären Jugendsünden’ schon bald abgeschworen hatte? Denn Hundt benennt doch selber die mannigfaltigen Aspekte, wenn er den Junghegelianismus „als Teil des politischen Vormärz“ (58) sieht, der wesentlich auf Deutschland (24f, 38) beschränkt war, zum Teil den „revolutionären“ (?) Burschenschaften (26) entstammte, vergleichbar den Enzyklopädisten (2) auf die 48er Revolution zielte (1, 38, 59, 75) und die demokratische Bewegung (3), die „emanzipatorischen Frauenbewegung“ und die Arbeiterbewegung inspirierte (40f) und sogar bereits einer „antifaschistischen Konstellation“ (42) ähnelte. Und am abrupten Ende war der Junghegelianismus als Bewegung „gescheitert“ und „vergessen“ (56, 75). Wenn aber Hundt den Beginn des Junghegelianismus nicht auf eine Person oder wie gewöhnlich auf das Erscheinen von D. F. Strauß’ Leben Jesu 1835 reduzieren will, sondern mit Recht auf das vorgängige Denken verschiedener Personen wie u.a. vor allem E. Gans und H. Heine bezieht (14), dann ergeben sich Fragen: Denn mit jenen Vorarbeiten und Vorläufern ist auch zeitlich ein Terrain abgesteckt, in dem der für 1838 erstmalig nachgewiesene Terminus ‚Junghegelianer’ noch gar nicht vorhanden war; letzteres galt sogar für das Beginnen von Ruge selbst, Strauß, Feuerbach u.v.m. Reicht es angesichts dieser Pluralität von den Junghegelianern zu sprechen und einem Junghegelianismus, der „Großes hervorgebracht“ hatte (56)? Es sei denn, es ist damit nur der ‚kritische Doktrinarismus’ der Ruge, Bauer und Konsorten gemeint, die nicht wenige Vorleistungen zum modernen Antisemitismus hervorbrachten. Waren hier nicht doch übergreifende Konstellationen einer Epochenwende am Werk, die sich als „Linien von weltgeschichtlicher Relevanz“ (58) nur im Junghegelianismus überschnitten? Darüber wird weiter zu verhandeln sein. Denn diese gewichtige Hundt’sche Edition ist von Quellenfunden abhängig, also unabschließbar, work in progress, und ein Ergänzungsband ist dem Verlag schon angekündigt.
Lars Lambrecht