Buchbesprechungen

Zwei neue Briefbände der MEGA/Alle Buchbesprechungen

von Georg Fülberth zu MEGA III/12 und III/30
Juni 2014

Zwei neue Briefbände der MEGA

Karl-Marx/Friedrich Engels, Gesamt-ausgabe (MEGA). Dritte Abteilung: Briefwechsel.

Band 12. Januar 1862 bis September 1864. Bearbeitet von Galina Golovina, Tat’jana Gioeva und Rolf Dlubek. Unter Mitwirkung von Hanno Strauß. Akademie Verlag Berlin. 1529 Seiten. 198,00 Euro.

Band 30. Oktober 1889 bis November 1890. Bearbeitet von Gerd Callesen und Svetlana Gavril’čenko. Unter Mitarbeit von Regina Roth und Renate Merkel-Melis. Akademie Verlag Berlin. 1532 Seiten. 198,00 Euro.

Mit dem Abschluss der Veröffentlichung aller Marx-Texte zum „Kapital“ 2012 und damit der zweiten Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe wendet sich dieses Großvorhaben nun anderen Schwerpunkten zu: den bereits von den beiden Begründern des Historischen Materialismus publizierten Werken, aber auch von dafür zwar vorgesehenen, aber dann doch liegen gebliebenen Arbeiten (Abt. I), der Korrespondenz (III) und den Exzerpten (IV). Bei der Bestimmung von Prioritäten mag es von Bedeutung sein, dass es bis heute keine historisch-kritische Ausgabe der „Deutschen Ideologie“ (ein Teil immerhin wurde 2003 im Band 1 des Marx-Engels-Jahrbuch publiziert), ja noch nicht einmal des „Manifests der Kommunistischen Partei“ gibt. Die Exzerpte-Abteilung verspricht erwartungsgemäß den höchsten Anteil an bislang völlig Unbekanntem. Bei den Briefen ist das Bild gespalten: die Korrespondenz zwischen Marx und Engels sowie ihre Schreiben an Dritte liegen längst vor. Neu sind deren bisher unveröffentlichte Varianten und Entwürfe. Diese fehlen in den Briefen prominenter Zeitgenossen (u.a. Bebel, Lafargue, Lassalle, Liebknecht) an Marx und Engels, die schon vor Jahrzehnten veröffentlicht wurden, jetzt aber noch einmal in die MEGA unter Anwendung von deren spezifischen Richtlinien aufgenommen worden sind. Neu dagegen sind die Anschreiben völlig Unbekannter. Hierdurch wird die Breite des Umgangs der beiden in höherem Maße sichtbar.

Diese Charakteristik der gesamten Brief-Abteilung gilt auch für den 2013 erschienenen Band III/12, der die Korrespondenz vom 1. Januar 1862 bis zum 30. September 1864 umfasst. Es handelt sich um insgesamt 425 Briefe, davon 147 von Marx und Engels selbst. Über die überlieferten Texte hinaus betrug die ursprüngliche Korrespondenz aus diesem Zeitraum über 550, eine erhebliche Zahl ist also verloren. 227 Briefe werden hier erstmals veröffentlicht, sie sind an Marx und Engels gerichtet und stellen insofern die Innovation des Bandes dar, als die Schreiben, die die beiden miteinander wechselten oder an Dritte richteten, ja schon durch die Studienausgabe MEW bekannt sind. Ein Text von Marx wird in diesem Band allerdings erstmals veröffentlicht: Marx hatte Lassalle für eine Italienreise ein Empfehlungsschreiben an Johann Philipp Becker ausgestellt, das nicht überliefert ist. Lassalle berichtete ihm später, dass er davon keinen Gebrauch gemacht habe, weil er dort, wo er hinkam, nur auf Leute getroffen sei, die Becker entweder nicht kannten oder nichts von ihm hielten. Dieser Brief war schon früher veröffentlicht, jetzt lesen wir ihn auszugsweise noch einmal: in einem Schreiben von Marx an Victor Schily, versehen mit der Ankündigung: „Ich werde ihm nach seiner Rückkehr nach Berlin für diese ‚Information‘ gehörig den Kopf waschen.“ Gemeint war Lassalle. Dem schrieb er: „Es ist in der That empörend, daß solche Leute wie Becker so schnöd verläumdet werden.“ Die persönliche Loyalität von Marx und Engels gegenüber alten Achtundvierzigern, die bei der gemeinsamen Sache blieben, ist ebenso charakteristisch für sie wie die schneidende Ablehnung derer, die sich abgewandt hatten. Um andere wird gekämpft, zum Beispiel Ferdinand Freiligrath. Als 1862 in Preußen eine Amnestie erlassen wurde, kehrten viele von ihnen zurück, darunter Wilhelm Liebknecht, dessen Leidensjahre unter den Kopfnüssen von Marx und vor allem Engels damit erst so richtig begannen.

Die bislang unveröffentlichten so genannten „Briefe Dritter“, deren Gegenstücke sich teilweise in der MEW finden, erweitern u.a. unsere Kenntnisse über die Londoner Emigrantengesellschaft. Einerseits gibt es Gegner wie Gottfried Kinkel, der in der Schmähschrift „Die großen Männer des Exils“ wie in den Briefen schlecht wegkommt. (Wer sich wirklich ein Bild von ihm machen will, darf sich auf derlei nicht allein verlassen.) Daneben dann die Genossen. Drittens, teils deckungsgleich, arme Teufel, die sich mühsam über Wasser halten, Handwerker, die, anders als Marx, keinen freundschaftlichen Mäzen hatten und denen immer wieder einmal geholfen werden musste. Damit kommen wir – viertens – zu einem weiteren Merkmal: Exilanten als finanzielle Notgemeinschaft. Da wird nicht nur bilateral Geld verliehen, sondern vielfältig über Bande gespielt: Wechsel werden ausgestellt, Bürgschaften geleistet, Fälligkeiten haarscharf vermieden. Lassalle stellte 1862 für Marx ein Papier über eine Summe aus, die er selbst nicht hatte, die deshalb Dritte zusammenbringen mussten und für die letztlich – na, wer wohl? – Engels gerade zu stehen sich verpflichtete, dies allerdings erst für einen späteren Zeitpunkt, da er aktuell selbst nicht flüssig war. Die Hilfsbereitschaft des Weinhändlers Sigismund Borkheim und des Kaufmanns Freiligrath war da ebenso gefragt wie ihr professioneller Scharfsinn beim Aufzeigen immer neuer Auswege. Dass Marx, der mit Zahlen bekanntlich Schwierigkeiten hatte, im zweiten und dritten Band des „Kapital“ verzwickte Berechnungen anzustellen imstande war, könnte u.a. auf diesem Training beruhen. 1862 nahmen, wie er selbst einräumte, Anstrengungen zur Bewältigung seiner finanziellen Probleme über lange Wochen hin ihn zeitlich mehr in Beschlag als sein ökonomisches Hauptwerk, und er wunderte sich darüber, dass er selbst unter diesen Umständen umstandslos daran weiterarbeiten konnte. Der Transfer von Privathaushalt zur Politischen Ökonomie dämmerte ihm in diesem Zusammenhang selbst: „Im übrigen arbeite ich jetzt stark drauf los u. sonderbarer Weise ist mein Hirnkasten unter all der misère rings herum besser im Gang als seit Jahren.“ (An Engels, 18. Juni 1862) In der Darbietung der wissenschaftlichen Ergebnisse mussten sachfremde Gesichtspunkte berücksichtigt werden: „Ich dehne diesen Band mehr aus, da die deutschen Hunde den Werth der Bücher nach dem Kubikinhalt schätzen.“ (Ebenda)

Die Qualität des Bandes besteht nicht nur in der sorgfältigen Textdarbietung, sondern auch in im Apparat ausgebreiteten Informationen und den Beilagen, die Material auch außerhalb des Kreises um Marx und Engels heranschaffen, so einen Zeitungsartikel vermutlich von Gustav Freytag: „Eine Erinnerung an den Communisten Wolff“ aus der Zeitschrift „Die Grenzboten“ von 1864, der Einblicke in Breslauer und schlesische soziale Zustände in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts gibt.

Der zweite Briefband, der 2013 herauskam, umfasst den Zeitraum Oktober 1889 bis November 1890 und enthält 406 Schreiben von und an Friedrich Engels. 173 davon werden hier erstmals veröffentlicht. Es fällt auf, dass die 425 Briefe von Band III/12 in einem Zeitraum von 33 Monaten entstanden (obwohl damals ja noch der intensive Schriftwechsel zwischen Marx in London und Engels in Manchester anfiel), während die 405 Briefe von III/30 sich in 14 Monaten zusammendrängen (siehe Einführung zu III/30, S. 675).

Ursache ist die inzwischen etablierte Stellung von Engels als Berater der internationalen Arbeiterbewegung, die sich nun als eine Vielfalt nationaler Parteien darstellte. So weit diese marxistisch orientiert waren, wandten sich deren Führungen immer wieder an ihn. Engels war Ghostwriter und Akteur hinter den Kulissen: Ohne ihn wäre der Pariser Kongress von Juli 1889, an dem er persönlich nicht teilnahm und aus dem die so genannte Zweite Internationale hervorging, entweder gar nicht oder doch in völlig anderer Weise zu Stande gekommen. Danach verdichtete sich der Briefverkehr noch. Immer wieder beklagte sich Engels darüber, dass er durch die Korrespondenz in seiner Hauptarbeit, der Herausgabe des dritten Bandes des „Kapital“, behindert werde. Wegen seines chronischen Augenleidens durfte er auf ärztliche Anordnung nur zweimal zwei Stunden am Tag lesen und schreiben, und einen erheblichen Teil davon nahm ihm der Briefverkehr weg. Dass dies beeinträchtigende Auswirkungen auf seine Editionstätigkeit hatte, lässt sich wohl auch daran sehen, dass er in der vierten Auflage des ersten Bandes des „Kapital“ von 1890 nicht alle Hinweise von Marx darauf, was gegenüber den drei vorangegangen zu ändern und zu ergänzen sei, beachtet hat. Das lag nicht daran, dass er sie prinzipiell vernachlässigen wollte, sondern: er musste fertig werden mit Band III. Anderes sollte dahinter zurückstehen. Und doch hatte dieser dritte Band ebenfalls nicht den unangefochtenen ersten Platz in seinem täglichen Arbeitsplan. Aufgaben der aktuellen internationalen Politik der Arbeiterbewegung gingen dann vor, wenn irgendwo mal wieder etwas anzubrennen drohte. Bei Marx war es ja ähnlich gewesen. Beide stellten, jeder für sich, den Idealtypus des Operativen Intellektuellen dar, wie er im rein Akademischen Marxismus undenkbar ist. Nach Marx‘ Tod hatte Engels den Vorschlag Bebels, nach Deutschland zurückzukehren, mit der Begründung abgelehnt, er brauche seine Ruhe für „Kapital III“, und die habe er am ehesten in England, wo es keine relevante Arbeiterbewegung gebe. Tatsächlich finden sich im Band III/29 nicht viele Briefe mit britischen Sozialisten. Der „Dalai Lama von 122 Regents Park Road“ – wie der mit ihm streng verfeindete Führer der Social Democratic Federation, Henry Mayers Hyndman, spottete – war zumindest von ihren intellektuellen Vertretern, darunter der Fabian Society, isoliert. Anteil an diesem Zustand hatte auch das, was man das familiäre Umfeld von Engels nennen könnte. Edward Aveling, der Lebensgefährte von Eleanor Marx, war wegen seiner – gelinde gesagt – Unseriosität weithin verachtet. Kontakte mit Engels – z.B. von Margaret Harkness, der er seinen berühmten Brief über realistische Literatur geschrieben hatte – brachen deshalb ab. Die Zeit, die er dadurch gewann, verlor er andererseits wieder durch die notwendige Sorge für seine unmittelbare private Umgebung. Zeitweilig wohnte Mary Ellen Burns, die Nichte seiner verstorbenen Frau Lizzie, mit ihrer ganzen Familie bei ihm, weil ihr Mann Pleite gemacht hatte und man sich keine eigene Wohnung mehr leisten konnte.

Eine hohe Frequenz hatte Engels‘ Briefwechsel mit Laura und Paul Lafargue, der zugleich Themen der französischen Arbeiterbewegung behandelte. Zu Recht weisen die Bearbeiterinnen und Bearbeiter auf die wichtige Stellung Laura Lafargues bei diesem Austausch hin. Engels‘ nahe Beziehung zu Eleanor Marx bekam seit 1889 eine zusätzliche politische Note dadurch, dass letztere eine aktive Rolle in Streikbewegungen spielte. Er konnte und wollte letztlich sein Vorhaben, sich auf die Studierstube zu beschränken, nicht verwirklichen. Dass er dennoch in seinen letzten Jahren literarisch sehr produktiv war und tatsächlich den dritten „Kapital“-Band schließlich herausbrachte, ist Ausdruck großer Disziplin und Organisiertheit. Sie zeigt sich auch darin, dass Engels – Deutsch, Englisch, Französisch schreibend, Dänisch, Italienisch, Russisch lesend – in den Briefen jeweils zu gleicher Zeit sehr disparate Themen kompetent behandeln konnte.

Sehr zu loben ist die Einführung des Bandes. Hier ist eine Aufgabe gut gelöst, die um 1990 gestellt worden war. Die Einleitungen, die bis dahin geschrieben wurden, waren eben auch dadurch gekennzeichnet, dass die MEGA von zwei Partei-Instituten herausgegeben wurde. Künftig sollten sie nun „ideologiefrei“ sein. Zuweilen entstand danach der Eindruck, als sei da und dort Parteilichkeit durch individuelle Selbstdarstellung ersetzt worden. (Ein Extremfall: Bertram Schefolds Einführung zu Band II/15, an dessen Edierung er nicht beteiligt war. Er benutzte sie dazu, seine neoricardianische Position zu explizieren.) Nicht so in den Bänden III/12 und III/30. Die Texte sind hier streng auf die Charakterisierung der Briefe bezogen, ohne dass auf begründete Meinungsäußerung verzichtet wird.

In der Einführung zu III/30 wird die Vermutung geäußert, dass Engels‘ Briefpartner ihm immer wieder einmal gern nach dem Munde redeten, sogar Bebel. „Insgesamt scheint es so, daß Engels selten widersprochen wurde, zumal in politischen Fragen.“ (S. 701) Zu den Ausnahmen gehörten Paul Lafargue, Wilhelm Liebknecht und Hermann Schlüter. Ein Vergleich der beiden Bände, deren Dokumente eine Generation auseinander liegen, macht einen Wechsel des Tons sehr deutlich: 1862 tauschte man sich mit großer Lebhaftigkeit unter Gleichen aus, jetzt wird eine Dominanz des nunmehr siebzigjährigen Engels von seinen Partnern nahezu durchgehend vorausgesetzt. Das mag es ihm erleichtert haben, auch private Dinge, die ihm nicht passen konnten, zu ignorieren. Wenn es um die Rosher-Familie und Aveling ging, war er blind oder stellte sich wenigstens so. Irgendeine ideologische Sonderentwicklung seines engsten Mitarbeiters, Bernstein, war zu seinen Lebzeiten offenbar nicht bemerklich – aber ein Jahr nach Engels‘ Tod veröffentlichte jener schon seine revisionistischen Auffassungen, die ihm doch nicht über Nacht zugeflogen sein werden.

Die größte Forschungsleistung der Briefbände steckt in den Erläuterungen. Hier geht es nicht um historischen Faltenwurf, sondern um Details, in denen aus der jeweiligen Tagessituation sich ergebende Bemerkungen, Zeitungsberichte und Zitate verifiziert werden müssen. Das individuelle Profil der Bearbeiter(innen) kann dabei die Chance für Zusatzinformationen eröffnen. In Band III/30 gilt dies zum Beispiel für kenntnisreiche Ausführungen zur dänischen Arbeiterbewegung – kein nebensächliches Thema, handelt es sich dabei doch um Engels‘ Beurteilung der „kleinen“ Nationen. Die Einführung weist darauf hin, dass er seine ursprüngliche Ansicht, die ihnen keine große Bedeutung zumaß, im Laufe der Zeit revidiert hat. Ein Brief vom 18. Dezember 1889 an den dänischen Sozialisten Gerson Trier behandelt ein Thema, das in den damaligen Diskussionen international große Wichtigkeit hatte: das Verhalten von Sozialisten zu linksbürgerlichen Oppositionsparteien. Engels macht klar, dass taktisches Zusammengehen mit ihnen kein Prinzipienverrat sei, sondern ein Mittel sein könne, eigenen Zielen näher zu kommen. Marx und er hätten dies bereits im „Manifest der kommunistischen Partei“ festgestellt. Der Brief ist nur als Entwurf überliefert und versehen mit insgesamt 68 Änderungen: Einfügungen, Streichungen, Ersetzungen von Passagen. Solche Varianten sind für Bearbeiterinnen und Bearbeiter immer eine Herausforderung, zumal in der MEGA nicht ein deskriptives, sondern ein diskursives Verfahren angewandt wird: Statt das Schriftbild gleichsam fotografisch wiederzugeben, soll die Entwicklung der Argumente bei den Änderungen nachgezeichnet werden. Insbesondere wenn es – wie hier – um wichtige Fragen geht, ist ein solches Herangehen reizvoll und lehrreich: Man sieht Engels gleichsam beim Denken zu.

So wie die Briefwechsel in diesen beiden Bänden aufbereitet werden, geben sie einen zugleich kleinteiligen und eine riesige Materialfülle umfassenden Einblick in den Alltag von Politik, Gesellschaft, sogar Privatheit im 19. Jahrhundert. Aufschlussreich sind hier auch die Briefe aus der deutschen Engels-Verwandtschaft: Mutter Elisabeth – in Band III/12 – und Bruder Hermann – III/30 – gehen wie selbstverständlich davon aus, dass Friedrich Engels Interesse an ihren Familiennachrichten zeigt, und dieser zeigt sich unverstellt aufgeschlossen dafür. Zugleich akzeptierte er die Anhänglichkeit des Konservativen Rudolf Meyer, eines Schülers Hermann Wageners von der „Kreuzzeitung“. Zum Freundeskreis von Engels gehörten zwei auf je eigene Art wichtige Chemiker: Carl Schorlemmer aus Darmstadt, jetzt in Manchester, und Viktor Pauli. Ersterer aktiver Sozialdemokrat, letzterer immerhin Vorstandsmitglied der Höchster Farbwerke und Mitglied des Magistrats von Frankfurt am Main. Das Spektrum des Austauschs geht also über den Zentralbereich von Engels‘ Aktivitäten – Arbeiterbewegung – hinaus. Dieses Panorama und sein Wandel über Jahrzehnte wird sich in dem Maße komplettieren, in dem die Brief-Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe vorankommt.

Georg Fülberth

Rosa Luxemburg 1893 – 1906

Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 6: 1893 bis 1906. Herausgegeben und bearbeitet von Annelies Laschitza und Eckhard Müller. Mit einem Vorwort von Annelies Laschitza, Karl Dietz Verlag, Berlin 2014, 992 Seiten, 49,90 Euro

Die Rosa-Luxemburg-Werkausgabe (GW) ist auf dem Weg zur Gesamtausgabe. Mit Erscheinen von „Band 6“ haben Annelies Laschitza und Eckhard Müller als Editoren dieses und des noch folgenden siebenten Bandes im Weltkriegsgedenkjahr 2014 den ersten großen Schritt in diese Richtung gemacht. Band 8 mit den polnischen Schriften Rosa Luxemburgs bearbeitet Holger Pollit. Mit 990 Seiten einschließlich des von Laschitza verfassten bisher umfangreichsten Vorwortes zu einem Band ist das jetzt der voluminöseste dieser Reihe. Mit drei Ergänzungsbänden von insgesamt neun Werk- und sechs Briefbänden, deren letzter auch ein Ergänzungsband ist, wäre in absehbarer Zukunft das bisher bekannte Gesamtwerk der wohl bedeutendsten Sozialistin der II. Internationale erschlossen. Damit steht, wenn die Editoren so vital bleiben, wie es die Anstrengungen dieser Kärrnerarbeit erfordert, das in dieser Arbeitsphase von der Rosa Luxemburg-Stiftung und dem Karl-Dietz-Verlag getragene Jahrhundertprojekt vor dem absehbaren Abschluss.

Der Band 6 erfasst bisher nicht veröffentlichte und neu aufgefundene schriftliche und durch zweite Hand aufgezeichnete mündliche Äußerungen aus dem Zeitraum 1893 bis 1906. Ab 1898 verdichtet sich das neue Material massiv, einschließlich weiterer „magerer“ Jahre 1900/1901, 1903/1904. Annelies Laschitza definiert und erläutert dieses Material im Vorwort, würdigt und stellt es ausführlich in den Zusammenhang mit der Biografie der Urheberin und dem konkret historischen Hintergrund. Im Einzelfall wird der Leser auf besondere Arbeiten mit neuen Themen und Akzenten, auf neue biografische Erkenntnisse und brillante journalistische Leistungen Rosa Luxemburgs aufmerksam gemacht. Diese Hinweise lassen erkennen, dass sich die hochgebildete und vielseitig interessierte Rosa Luxemburg keineswegs nur auf die bislang von der Luxemburgforschung diskutierten Fragen fixierte, sondern ihre Themen sehr wohl breiter vor dem Hintergrund der zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Diskussion, die auch innerhalb der Sozialdemokratie reflektiert und mitgestaltet wurde, wählte. Das betrifft, wie im Vorwort hervorgehoben, auch ihre Differenzierung zwischen Glauben als zu respektierender Privatangelegenheit und repressive Staatspolitik unterstützender Kirche. Dass Rosa Luxemburg auch auf dem Themenfeld der Religionsgeschichte belesen war, teilt sie mit Karl Kautsky, Heinrich Cunow u. a., was beweist, dass zu dieser Zeit Marxisten nicht nur wie vor ihnen Friedrich Engels mit großem Interesse die Forschungsergebnisse des 19. Jahrhunderts zur Kenntnis nahmen, sondern diese auch als Teil der Erkenntnis- und Frühgeschichte des Sozialismus einzuordnen verstanden. Anzumerken ist hier, dass Rosa Luxemburg die erkenntnistheoretischen Wurzeln des Glaubens nicht mit naturwissenschaftlicher Blindheit, sondern allein mit dem Unverständnis gegenüber den sozialen Zusammenhängen begründet („Proletariat und Religion“, S. 406; „Antwort auf die Umfrage über Antiklerikalismus und Sozialismus“, S. 459), obgleich die Naturwissenschaften mit ihren gewaltigen Fortschritten seit Kant auch die Grenzen zwischen Wissen und Glauben sehr weit verschoben hatten.

Markant ist der auch im Vorwort zitierte Vergleich zwischen Arbeiterschutzgesetzgebung und den Jagdgesetzen („Bügerliche Sozialreform und Sozialdemokratie“, 1901, S. 331 ff., hier S. 335). Diese Äußerung Rosa Luxemburgs zum Charakter der bürgerlichen Sozialreform ist beachtenswert. Zum einen charakterisiert diese Polemik eigenem Eingeständnis zufolge „drastisch“ die zu dieser Zeit international diskutierten bevölkerungs- und gesundheitspolitischen Bestrebungen der Industriestaaten, den gesundheitsschädigenden Auswirkungen der rasanten Großstadtentwicklung und extensiven Arbeitskraftausbeutung real abzuhelfen. Zum anderen wirft sie die Frage nach dem Charakter gleichartiger sozialer Bestrebungen der eigenen Partei und realistischer Maximalforderungen auf. Subjektiv waren die „bürgerlichen“ Befürworter, meistens Ärzte, einer zeitgemäßen Gesundheitspolitik, Arbeits- und Mutterschutzgesetzgebung ebenso wenig Zyniker, wie die sich dem gleichen Thema zuwendenden Sozialdemokraten deshalb objektiv Revisionisten waren. Damit stellt sich schon die Frage, in welchem Maße dieser Vergleich theoretische Abstraktion oder agitatorische Polemik war und vor allem, welches die linken Alternativen gewesen wären. Die von Laschitza ausgewählten Beispiele zeigen einmal mehr, dass weder das ideengeschichtliche Potenzial des Werkes Rosa Luxemburgs noch die Themen ihrer Epoche der Arbeiterbewegung durch die bisherige Diskussion ausgeschöpft sind.

Anhand einiger Autografen aus dem Nachlass von Jürgen Kuczynski war es den Editoren darüber hinaus möglich, biografische Präzisierungen vorzunehmen. Dort fand sich z.B. ein aus dem Jahre 1897 stammender handschriftlicher Entwurf ihrer Klausurarbeit zur Lohnfondstheorie, mit der sie sich nach bisheriger Lesart erst viel später („Einführung in die Nationalökonomie“) befasst hatte. Und am Beispiel ihrer maßgeblichen Mitarbeit in der „Sächsischen Arbeiterzeitung“, der „Leipziger Volkszeitung“ und in der „Vorwärts“-Redaktion präzisierten die Editoren Rosa Luxemburgs journalistische Entwicklung, die manchen besonderen Lesegenuss in dem Band ermöglicht.

Die Hervorhebungen im Vorwort können nicht den gesamten Erkenntnisneuwert und die Anregungen der 270 veröffentlichten Dokumente benennen. Der Benutzer der Ausgabe wird sich aus den Ergänzungsbänden in Verbindung mit dem Gesamtwerk, aber auch den Biografien, Antworten auf seine Fragen erschließen. Und diese Fragen erwachsen aus den Erfahrungen des Jahrhunderts nach Rosa Luxemburg. Faszinierend dabei ist, dass Rosa Luxemburg aus ihrem Blickwinkel zu ihrer Zeit entstandene Jahrhundertfragen gestellt und beantwortet hat, deren Antworten – mit dem Abstand der Gegenwart kritisch hinterfragt – immer noch inspirierend sind.

Eines der wohl relevantesten Themen unter den Bedingungen ungleichmäßiger industrieller und agrarischer Entwicklung sowie imperialer Konkurrenz dürfte die nationale Frage in instabilen multiethnischen Reichen sein. Diese Frage durchzieht das gesamte Werk Rosa Luxemburgs in den Stellungnahmen zur Orientfrage, zur polnischen Parteispaltung und damit auch zur Revolution in den Großstaaten, die den eurasischen Kontinent beherrschten. Die Marginalie „Abermals ‚Orientfrage‘“ (S. 84) verweist auf einen Streit Luxemburgs mit Wilhelm Liebknecht in der Armenienfrage. Grundlage dieser Notiz aus der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ ist ihr Aufsatz „Die nationalen Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie“ (GW 1/2, S. 57), der wie andere in der wissenschaftlichen Diskussion bisher viel zu wenig Beachtung fand und im engen Kontext mit der 1908/1909 auf Polnisch verfassten Schrift „Nationalitätenfrage und Autonomie“ steht (dt. Ausgabe Berlin 2012). Bemerkenswert im Zusammenhang mit den Armenischen Gräueln ist die Position Wilhelm Liebknechts, der sich bei der Beurteilung der Sachlage offensichtlich zu sehr von der offiziösen deutschen Politik und ihren Eisenbahnprojekten beeinflussen ließ. Dies beweist einmal mehr, wie schwer es für eine Oppositionsbewegung ist, ohne Herrschaftswissen Zusammenhänge zu durchschauen.

Die Hälfte der in Band 6 enthaltenen Schriften thematisiert den Ausbruch der Russischen Revolution 1905, die Rosa Luxemburg hier von Berlin aus reflektiert. Diese Arbeiten lesen sich wie ein früher Liveticker der Ereignisse, durchsetzt mit ihren Kommentaren. Im Zusammenhang mit den in Band 1/2. Halbband und Band 2 enthaltenen Beiträgen ist dieses Material in seiner Gesamtheit eine eindrucksvolle Dokumentation der ersten russischen Revolution und veranschaulicht zugleich, welchen Stellenwert dieses Ereignis im Denken und Handeln Rosa Luxemburgs eingenommen hat. Die Tatsache, dass sie die persönliche Gefährdung in Kauf nahm, um die Revolution auch vor Ort zu „genießen“, zeichnet diese junge Frau wirklich als Revolutionärin aus.

Die Geschichte der Luxemburg-Edition gleicht einem Politkrimi, den Annelies Laschitza in ihrem Vorwort zu Band 6 mit Verweis auf ihre Vorbemerkungen zu den Nachauflagen der Bände 1/1 und 4 noch einmal streifend reflektiert. Indem sie Mutmaßungen, die hier in Rede stehende Reihe wäre ein „Oppositionsvorhaben“ gewesen, verneint, den Konsens zwischen KPdSU- und SED-Führung sowie Institut für Marxismus-Leninismus und Forschungsgruppe hinsichtlich der Publikation bejaht, zugleich aber auch die Schwierigkeiten und Labilität dieses Konsens hervorhebt, reflektiert sie den letzten spannungsgeladenen Akt dieser von den wechselnden politischen Verhältnissen des 20. Jahrhunderts geschriebenen Dramaturgie. Bemerkenswert hierbei ist die Tatsache, dass das Konzept der Forschungsgruppe, die Exklusivität des „Leninismus“ als der imperialen Epoche entsprechende revolutionäre Richtung zu entzaubern, Spielraum fand. Der Preis für diesen Spielraum war Enthaltsamkeit gegenüber jeder Kritik an der bisherigen kommunistischen Rezeptionsgeschichte. Doch dafür gab es während der Entstehung der ersten fünf Bände ohnehin weder Kapazität noch Quellenzugang, wie Laschitza im Vorwort erklärt.

So entstand das scheinbare Paradox, Rosa Luxemburg mit ihrer Kritik an Lenins Partei- und Revolutionskonzept gleichrangig neben ihn zu stellen und damit der Überhöhung Lenins entgegenzuarbeiten. Von den Kritikern des realen Sozialismus wurde dies de facto nicht wahrgenommen. Die kurzen Flitterwochen zwischen „Bürgerbewegten“ und Rosa Luxemburg in den Endachtzigern fanden nach dem Scheitern der DDR ihr Ende an der von Günter Radczun und Annelies Laschitza herausgestellten Tatsache, dass Rosa Luxemburgs Kritik an Lenins Partei- und Revolutionspraxis weit geringer wog als ihre Kritik am Versagen der Sozialdemokratie und an der verspielten Chance, die durch den Weltkrieg ausgelöste Krise für radikale Reformen auszunutzen. Denn Rosa Luxemburg verstand Lenins Revolutionspraxis durchaus als Reaktion auf die Sachzwänge der weltpolitischen Konstellation und maß dem Wagnis, mit der russischen Revolution die europäische auszulösen, welthistorische Bedeutung zu. Sie warnte „nur“ davor, unter den Umständen der notwendigen, aber ausbleibenden radikalen Reformen in Deutschland aus dieser Praxis eine Tugend zu machen und der dadurch zwangsläufig isolierten russischen Revolution Modellcharakter zuzusprechen.

Im Zusammenhang mit dem Revolutionsbegriff ist auf die beiden Rezensionen zu Kautskys „Soziale Revolution“ hinzuweisen („Sozialreform und soziale Revolution“, S. 437-439; „Am Tage nach der sozialen Revolution“, S. 440-443). Darin unterscheidet die Verfasserin zwischen Agitation, Propaganda und wissenschaftlicher Aussage. In der gebotenen Kürze gibt sie hier allgemein verständliche Definitionen für den Reform- und Revolutionsbegriff, die auch in der gegenwärtigen globalen Welt der deregulierten und sich jeder demokratischen Kontrolle entziehende Wirtschaft bedenkenswert sind und durch die Praxis durchaus bestätigt werden. Auch wenn sich heute im Rahmen der aktuellen Antagonismen andere sozialen Kräfte konfrontieren, stellen sich den politischen Parteien und Fraktionen der oppositionellen Kräfte immer noch die gleichen Fragen, die Rosa Luxemburg hier anspricht. Und dass ihr auch heute niemand ein durch die bürgerlichen Revolutionen geprägtes simples Verständnis der sozialen Revolution nachsagen kann, beweist die zweite Rezension. In ihren Augen bedeutete die Überwindung der Klassengesellschaft eine ganze Epoche des sozialen und politischen Wandels oder sogar einen noch längeren historischen Zeitraum des Experimentierens und Überwindens immer wieder neuer Antagonismen. Zu dieser Überlegung kehrte sie kurz vor ihrer Ermordung wieder zurück. Nicht nur die Linke im weitesten Sinne des Wortes, sondern alle, die sich ernsthaft die Frage stellen, in welcher Welt wir zukünftig leben wollen, wären gut beraten, hieran anknüpfend die Diskussion zu führen. Rosa Luxemburgs Sozialismusverständnis enthält mehr Zukunftspotenzial als ihr alle Rezipienten, welcher ideologischen Couleur auch immer, bisher zugesprochen haben.

Annelies Laschitza und Eckhard Müller bringen mit diesem und dem nachfolgenden Band der Luxemburg’schen Werke zum Abschluss, was im Politgerangel eines ganzen Jahrhunderts gedauert hat. Die Anstrengungen dieses letzten Rittes waren ohne Zweifel groß, aber, wie auch immer, sie waren auch eine Lebensentscheidung und dafür gilt beiden uneingeschränkter Respekt.

Hartmut Henicke

Zur Kritik der reinen Politik

Frank Deppe, Niccolò Machiavelli. Zur Kritik der reinen Politik, PapyRossa, Köln 2013, 529 Seiten, 29,00 Euro.

Obwohl er in seiner Streitschrift über die Erfolgserfordernisse von monarchisch Regierenden – den Verbrecher Cesare Borgia als Muster benutzend – deren Fähigkeit zu lügen und zu betrügen für unverzichtbar erklärte,1 ferner in seinen Geschichtsbetrachtungen über die Machtmethoden republikanischer Regierungen in alter Zeit den Zweck alle Mittel heiligen ließ,2 und dann noch in der dem Papst gewidmeten Historiographie seiner Heimatstadt Florenz rechtfertigend feststellte, dass man mit dem Rosenkranz in der Hand keine Herrschaft behaupten könne,3 war Machiavelli kein Machiavellist. Das haben u.a. Spinoza, Rousseau, Herder, Fichte, Hegel gewusst, und Marx hat in jungen Jahren aus Machiavellis wichtigstem Werk eindeutig demokratische Passagen exzerpiert. Anders freilich Preußens Friedrich II., der zwar in einem Pamphlet „gegen Machiavell, dieses Ungeheuer“ als Antimachiavellist posierte,4 dann aber ein Jahr später, als er seine Raubkriege begann, Machiavellismus praktizierte, wodurch er zum „Großen“ wurde.

Es ist das unbestreitbare Verdienst von Frank Deppe mit seiner nun in erweiterter Form vorliegenden Erstausgabe seiner Machiavelli-Analyse von 1987 diesem Großdenker, von vor fünfhundert Jahren historische Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Das war und ist höchsterforderlich. Machiavelli gehört nämlich nicht nur zu den meistzitierten Denkern der politischen Ideengeschichte, sondern ist der vielleicht auch am meisten missbrauchte. Was wurde ihm nicht alles unterstellt und nun, wofür auch alles verwendbar zu sein: Zynischer Amoralist; Verantwortungs- statt Gesinnungsethiker; erfolgs- statt ideenorientierter Pragmatiker; tugendvergessener weil machtversessener Realo; Prä-Faschist und Prä-Bolschewist; Brückenschläger zwischen Hitler und Stalin. In neuerer Zeit auch andersherum: Machiavellis Verdienst bestehe nicht darin, eine zynische Decouvrierung amoralischer Politik geliefert und unter dem Vorwand, den Fürsten Lehren gegen das Volk zu geben, tatsächlich die Völker gegen die Fürsten belehrt zu haben; der Machiavellismus praktiziere also genau das, was Machiavelli anprangere; Rechtsstaatlichkeit und Rechtsgleichheit seien die hauptsächlichen Ziele eines Staates à la Machiavelli, der entgegen allem Anschein ein Vordenker der pluralistischen, auf Menschenrechte gestützten Demokratie gewesen sei, ein „Theoretiker der partizipativen Parteiendemokratie“5; womit wohl ein von den zu seiner Zeit Herrschenden Gefolterter zum Hausgott gegenwärtiger, zu imperialen Wohlstandszonen ausgedehnter und von demokratischem Ballast nebst „moralisierendem Schnickschnack“ befreiter Herrschaftsverhältnisse „befördert“ werden würde.

Solche und andere Subjektivismen der sich in den Vorhöfen der Macht wichtig fühlenden akademischen Politikberater – etwa: die Kanzlerin Merkel habe „ihren Machiavelli“ gut studiert, und der Banker Ackermann habe ihn sogar „verinnerlicht“ – werden von Deppe angemessen auf ihren Subalternplatz verwiesen (S. 8). Doch nicht auf die Negation von Fehldeutungen, so erforderlich diese auch sein mag, beschränkt er sich. Indem er die Widersprüche in Machiavellis politischer Theorie als notwendige, ideologische Formen gesellschaftlicher Kräftekonstellationen in Krisenzeiten, auch von Formen des Widerspruchs zwischen objektiven historischen Entwicklungsprozessen und subjektiven Willensverhältnissen dechiffrierte (S. 54), hat er den Florentiner auch von dem Makel befreit, als freischwebende Intelligenz für jedermann und jede Sache, gewissermaßen beliebig benutzbar zu sein. In selbstbewusster Zugehörigkeit zur wieder wachsenden Gruppe marxistischer Gesellschaftsanalytiker, bei erforderlicher Bezugnahme auf Gramscis Machiavelli-Aufzeichnungen aus den Jahren 1932 bis 19346, auch die Erkenntnisse der insbesondere von Walter Markov und Manfred Kossok begründeten Methodologie einer vergleichenden Revolutionsgeschichte der Neuzeit auswertend, hat der bewundernswert belesene und problembewusste Autor eine in ihrer Bedeutung weit über ihre unmittelbare Themenstellung hinausreichende Monographie vorgelegt.

Ungeachtet seiner differenzierenden Urteilskraft bietet Deppe dennoch eindeutige Standpunkte. Dessen wichtigster ist zweifellos seine Handhabung einer materialistischen Politikanalyse einschließlich einer Kritik an jeder Verselbständigung der politischen von der ökonomischen und der medialen Macht innerhalb einer Gesellschaft. Politik sei eingebettet in jene Strukturen, die sich aus den Besonderheiten der Epoche und den jeweiligen Macht- und Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen und den Staaten ergeben; sie dürfe niemals auf die reine Machtsicherung reduziert werden, denn der Kampf um die Macht im Staat oder zwischen den Staaten sei stets darauf gerichtet, die Ordnung von Gemeinwesen und damit die Herrschaftsverhältnisse allgemeinverbindlich zu gestalten, und Machiavelli, seinen Intentionen nach ein politischer Revolutionär (S. 225), sei genau deshalb ein Klassiker, weil er den harten Kern der Machtpolitik hinter der Fassade der ideologischen Legitimation von Herrschaftsverhältnissen gnadenlos ins Zentrum gerückt und keinen Zweifel daran gelassen habe, dass Politik in letzter Instanz ein Gewaltverhältnis von Klassen- und Staatengegensätzen ist. Machiavellis „Entdeckung“ der Autonomie des Politischen sei an die Krisenstruktur der Spätrenaissance gebunden, die seiner Meinung nach nur durch einen starken Staat nebst einer kenntnisreichen Handhabung seiner Machtmittel aufgehalten werden kann; die Erklärung der Gesellschaftsgeschichte aus weltimmanenten Faktoren mache jeden Rekurs, aber auch jede Hoffnung auf göttliche Wunder überflüssig; der Mensch sei dazu verurteilt, die Vergangenheit zu begreifen, um seine Zukunft zu gestalten. Werde allerdings die Lösung der Krise ohne gesellschaftliche Reform von Unten gedacht, dann manifestiert sich ein Machiavellismus als ein reaktionäres Konzept zur Verhinderung gesellschaftlicher Veränderungen mittels einer Diktatur zur Bewahrung der bestehenden Herrschafts- und Klassenverhältnisse (S. 12). In genauem Gegensatz zu jeder machiavellistischen Lesart Machiavellis zielt Frank Deppes Monographie darauf, die Größe Machiavellis durch die konsequente Historisierung seiner politischen Theorie zu bewahren (S. 514). Das ist ihm in bewundernswerter Weise gelungen.

Um, etwas ungewöhnlich, mit einem Machiavelli-Gedanken zur gegenwärtigen Ukraine-Politik Russlands angesichts der Imperialpolitik der USA und ihrer europäischer Vasallen zu enden: Im 15. Kapitel des Principe, in dem Machiavelli auch seine vielzitierte Zielstellung offenbart, dass er nicht Wahngebilden, sondern der wirklichen Wahrheit der Tatsachen („la verità effetuale delle cosi“) nachzugehen vorhabe, findet sich auch sein verallgemeinerbarer Gedanke, dass ein Herrscher, der unter unmoralisch handelnden anderen Herrschern selbst immer nur moralisch handelt, notwendiger Weise zugrunde gehen müsse.

Hermann Klenner

„Marburger Schule“

Lothar Peter, Marx an die Uni. Die Marburger Schule. Geschichte, Probleme, Akteure, PapyRossa Verlag, Köln 2014, 224 S., 14,90 Euro

Knapp formuliert Lothar Peter den Unterschied zwischen seiner Studie und einigen wenigen anderen Texten, die – wie etwa Heinz Jung 1994 in seinem Eintrag im ersten Band des HKWM – zumeist von einer „Abendroth-Schule“ sprachen: „erstens bezieht sie die (Marburger, RR) Soziologie explizit mit ein und zweitens lässt sie die Marburger Schule nicht mit Abendroths Emeritierung enden.“ (20) Von einer „Marburger“ Schule zu sprechen macht für Peter Sinn, weil sich hier ein besonderer, dauerhafter Interaktionszusammenhang von Produzenten und Vermittlern wissenschaftlichen Wissens – also einer „epi- stemischen Gemeinschaft“ – konstituiert habe, der sich „zu institutioneller Stabilität, häufig räumlicher Bindung an bestimmte Standorte“ und dauerhafte Aktivitäten (Projekte, Publikationen, Tagungen etc.) verdichtete (10). Zwei Besonderheiten hebt er dabei hervor: die Akteure dieser Schule wollten „die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit nicht nur interpretieren, sondern auch explizit durch ihre wissenschaftliche Praxis verändern“ (19) und bei dieser Praxis handelte es sich „weniger um eine ori-ginäre paradigmatische Neuschöpfung (…) sondern vielmehr um die Rekonstruktion, Aktualisierung und Anwendung einer bereits vorhandenen Geschichts- und Gesellschaftstheorie, die … aus dem ‚kollektiven Gedächtnis’ (Maurice Halbwachs) verdrängt und intellektuell marginalisiert worden war: die marxistische Theorie.“ (14)

In der Entwicklung dieser Schule unterscheidet Peter drei Phasen. Sie beginnt mit der Berufung Wolfgang Abendroths an die Universität Marburg – „Allmähliche Konturbildung. 1951 bis Mitte der sechziger Jahre“ –als erste Phase, gefolgt von der zweiten Phase: „Ansätze einer ‚epistemischen Gemeinschaft‘ Mitte der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre“. In ihrem Mittelpunkt steht das „Dreigestirn“ (Schäfer) Wolfgang Abendroth, Werner Hofmann und Heinz Maus. Ergänzend zu der in den vorliegenden Analysen der „Abendroth-Schule“ natürlich durchgängigen Betonung Abendroths als zentraler politischer und wissenschaftlicher Figur hebt der Verf. dabei zu Recht die beträchtliche Rolle einer informellen Gruppe hervor, die den starken Marburger SDS auch als intellektuellen Akteur deutlich prägte und repräsentierte. Zu ihr gehörte die große Mehrheit der in der Anfangskonstellation der entstehenden „epistemischen Gemeinschaft“ agierenden Personen (32-37, 101-107). „Erst jetzt bildete sich so etwas wie eine ‚epistemische Gemeinschaft’ heraus, die auf der Aneignung sozialistischer bzw. marxistischer Theorie sowie eines die Grenzen des akademischen Feldes überschreitenden Engagements beruhte. Anerkennung der Theorie von Marx und Engels als Basis der eigenen wissenschaftlichen Arbeit, intellektuelle Loyalität gegenüber der Arbeiterbewegung, theoretische und praktische Mitwirkung an gewerkschaftlichen Aktivitäten, Solidarität mit antikolonialen Befreiungsbewegungen und Antikapitalismus stellten einige der Essentials des Selbstverständnisses dieser Gruppe dar.“ (102) In das Zentrum der dritten Phase „Kontinuität und neue Herausforderungen. Von der Emeritierung Abendroths bis Anfang der 1980er Jahre“ stellt Peter vor allem die Hochschullehrer Frank Deppe, Reinhard Kühnl, Georg Fülberth und Dieter Boris sowie weitere Wissenschaftler wie Karl Hermann Tjaden oder Peter Römer, die – ungeachtet aller Widersprüche oder Konflikte – wissenschaftlich mit „Marburg“ in Verbindung blieben oder sich ihm zurechneten (auch wenn sie sich den Begriff der „Marburger Schule“ zum Teil bis heute nicht – oder heute nicht mehr – zu eigen machen würden).

In dieser „Dritten Phase“ liegt das Schwergewicht zunächst auf den 70er Jahren und den akademischen Institutionalisierungen der linken sozialwissenschaftlichen Marburger Schule. Allerdings hätte vielleicht der scharfe Bruch Mitte der 70er Jahre mehr betont werden müssen: eine personelle Erweiterung an der Marburger Hochschule selbst gelang nicht mehr. Eine relevante universitäre und auch im „Zentrum“ der Schule verankerte erweiterte Reproduktion war politisch unmöglich, so dass die Expansion der Institutionalisierung einer marxistisch-sozialistischen „epistemischen Gemeinschaft“ vor Ort frühzeitig nach einem knappen Jahrzehnt abbrach. Daher fand auch kein kontinuierlicher oder kohärenter Wechsel politisch-wissenschaftlicher Generationen statt. In der Schärfe ist dies für Schulenzyklen eher untypisch. Die Folgejahrzehnte sahen hochschulpolitisch nur noch eine Sicherung des Bestands, die seit den 80er Jahren in langsamen, langen Abbau überging. Die Gründe sind bekannt. Allerdings zeigt Peters Studie, dass diese dritte Phase begleitet gewesen ist von der Ausbildung und relativen Stabilisierung eines recht breiten Anschlussfeldes oder affiner Milieus von kleineren Institutionen, Medien, Projekten und Arbeitszusammenhängen jüngerer WissenschaftlerInnen (darunter nicht wenige auch in größeren Einrichtungen der politischen Bildung, Gewerkschaften oder Medien und auch der Wissenschaft wie dem IMSF), die vor allem themenpolitisch und kulturell wie auch im generellen Wissenschaftsverständnis und der Einbeziehung verschiedenster marxistischer Positionen an den Grundorientierungen der Marburger Schule anknüpften oder auch als Hochschullehrer eigene kritische, linke Profile ausbildeten. Auch an den zahlreichen Initiativen zur Gründung von bundesweiten kritischen, demokratischen und linken WissenschaftlerInnen-Initiativen, Fach- oder Berufsverbänden (Medizin, Psychologie, Informatik, Naturwissenschaftler etc.) waren einzelne Angehörige der Marburger Schule zum Teil führend beteiligt.

Die Entwicklung dieser Orientierungen in den Umbrüchen seit den 80er Jahren werden dann in den noch folgenden zwei weiteren Kapiteln behandelt: „Die Marburger Schule seit den achtziger Jahren“ und „Wissenschaftliche Schwerpunkte seit den neunziger Jahren“. Der Verf. versucht hier zu zeigen, dass wissenschaftliche Produktivität und politische Aktivität der Marburger Schule durchaus auf hohem Niveau blieben und die verbreitete Annahme, dass mit der Emeritierung Abendroths auch diese „epistemische Gemeinschaft“ rasch zerfallen sei, nicht zutreffe: die Totgesagten leben länger, zuweilen sogar in der schnelllebigen Wissenschaft. Das Spektrum der von Peter diskutierten Themen und Schwerpunkte reicht vom Historikerstreit (Kühnl) bis zu den Analysen der Veränderungen in Lateinamerika (Boris) und den Bilanzierungen des „Epochenbruchs“ 1989ff. (Fülberth) bzw. des politischen Denkens seit Ende des 19. Jahrhunderts (Deppe). Im Unterschied zu den 70er Jahren kam es seit dieser Zeit jedoch kaum zu gemeinsamen wissenschaftlichen Projekten und die wechselseitigen inhaltlichen Bezugnahmen waren sporadisch, ja selten – übrigens keine Besonderheit der Marburger Schule, auch die „Frankfurter Schule“ der kritischen Theorie entwickelte in ihrer späteren Phase eher wenig gemeinsame Arbeit an einem übergreifenden Theorieprojekt. Die internen politischen Präferenzen differierten ohnehin beträchtlich. Die „Community“ selbst mutierte mit der Zeit langsam zu einem „Netzwerk mit schwachen Verbindungen“ oder besser: die Schlüsselpersonen der Community bildeten eigene kleine Sub-Communities aus, die sich kaum überschnitten und eigene Präferenzstrukturen entwickelten. Das Feld der Marburger Schule faserte aus. Äußerst vorsichtig formuliert Peter dann, dass diese Schule „in den Jahren nach 2000 endete“ (12) – also insgesamt keineswegs eine bloß kurzatmige Verirrung in der bundesdeutschen Sozialwissenschaft gewesen sei.

Die Rede von „wissenschaftlicher Schule“ meinte zunächst, dass eine aparte Gruppe einem eigenen speziellen wissenschaftlichen Paradigma folgte und dabei über und zwischen „Generationen“ hierarchische gruppeninterne Vergesellschaftungsformen wirksam waren. Die mittlerweile erreichte Vielfalt der Vergesellschaftungsformen und externen Funktionszusammenhänge von Wissenschaft macht es wenig sinnvoll, den Begriff der „Schule“ derart nur auf das Vorliegen klar abgegrenzter Paradigmen und gruppeninterner Dominanzverhältnisse (Exzellenz, Avantgarden, Macht über Ressourcen, autoritatives Wissen etc.) zu beschränken. Die Charakterisierung der „Marburger Schule“, wie sie Peter entwickelt, geht deutlich darüber hinaus. Es kommen zusammen (1) geteilte kognitive, besonders theoretische, konzeptionelle, paradigmatische und methodische Orientierungen in der materialistischen bzw. marxistischen Tradition – wobei es nicht um eine Neuerfindung, sondern um eine einer Erfindung oder Entdeckung praktisch gleichkommende Rekonstruktion, Aktualisierung, Weiterentwicklung und Anwendung eines extrem marginalisierten und verdrängten, fast immer diskriminierten und verloren gegangenen Ideenkorpus geht. Dabei war die Aneignung eines solchen Ideenkorpus immer verbunden mit sporadischen oder systematischen kritischen Bearbeitungen konkurrierender und „herrschender“ Gedanken – von Hofmanns „Sozialökonomischen Studientexten“ über Tjadens „Soziale Systeme“ oder seine von Peter nicht erwähnte frühe Analyse der „Klassenverhältnisse im Spätkapitalismus“ (zusammen mit Margarete Tjaden-Steinhauer) , Kühnls „Faschismustheorien“, Boris zahlreiche Analysen zu Imperialismus und Unterentwicklung, Fülberths diverse Kapitalistiken bis hin zu Deppes großem Streifzug durch das „Politische Denken“ im 20. Jahrhundert. Die gemeinsame Ratio aber war „die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse auf ihre politische Veränderbarkeit hin zu untersuchen“ (58). (2) Einander überlappende oder miteinander verknüpfte und anschlussfähige Forschungsgegenstände, die über längere Zeiträume bearbeitet und wechselseitig kommuniziert werden – Kapitalismusanalyse und Politische Ökonomie, Arbeiterbewegung und Gewerkschaften, Demokratie, Hegemonie und Herrschaft, Faschismus, Gesellschafts- und Klassenanalyse, Sozialismus. (3) Eine dezidiert normative, linke, sozialistische und politisch-praktische Orientierung der Forschungs-, Lehr- und Bildungstätigkeit nicht nur als bloße Legitimation nach außen, sondern als zentrale kulturelle Praxis und Sinngebung. Endlich (4) darauf aufbauend die Ausbildung gemeinsamer wissenschaftlich-praktischer Identität und eines Selbstverständnisses, dessen Figur zwischen organischem oder kritisch-autonomem Intellektuellen und politischem Akteur oszillierte.

Den wissenschaftlichen Kooperationsbeziehungen und Vernetzungen, die in diesem Kontext entstanden, geht Peter leider wenig systematisch nach, sieht man u.a. von einer kurzen Bemerkung zum Aufbau internationaler Kontakte ab (173, 188). Sie wären relativ leicht zu ermitteln und ein zusätzlicher Indikator für den tatsächlichen Wirkungsgrad dieser Marburger epistemic community. Dabei wäre auch der wissenschaftliche Einfluss innerhalb der Marburger Universität (Erziehungswissenschaften, Germanistik) zu berücksichtigen. Ein Beispiel ist das Wissenschaftsfeld Kultur – zu nennen wären u.a. Dieter Kramer, Gert Mattenklott und Günter Giesenfeld. Auch Sozial- und Politikwissenschaftler der Marburger Schule im engeren Sinn (!) waren damit befasst (etwa Heinz Maus, Lothar Peter, Herbert Claas, später David Salomon oder Ingar Solty).

Peter vermerkt nüchtern Schranken, Selektion durch Prioritätensetzungen oder allerlei notorische strukturelle Defizite wie nicht wenige politische oder „theoretische Vorurteilsstrukturen“ (eine Formulierung von Alex Demirovic mit Bezug auf die „Frankfurter Schule“): die anfangs deutliche, später zum Teil revidierte Ignoranz gegenüber den Traditionen des Feminismus und der Geschlechteranalyse wie auch generell der „subjektiven Dimension“ (123): „Zwischen der Analyse politökonomischer Entwicklungen zum einen und den politisch-ideologischen Tendenzen von Organisationen und Institutionen fehlt die gesamte Dimension des Handelns der Akteure, ihrer subjektiven Erfahrungen, Habitusformen, kulturellen und geschlechterbezogenen Wertorientierungen.“ (132f.). Weiter die auch mit dem Hinweis auf die makrosoziologische Herangehensweisen schwach begründete Blindstelle in Sachen empirischer Sozialforschung, die weitgehend fehlende Produktivkraft- und Technikanalyse, das merkwürdige Abebben der Bemühungen um Klassenanalyse (82), das Mensch-Natur-Verhältnis (97). Oft wird freilich übersehen, dass nicht wenige dieser Defizite mit der Zeit thematisiert und für spätere Vertreter der Marburger Schule in der Folgezeit Anlass für eigene Arbeiten wurden bzw. für einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die der Verf. zu dieser Schule rechnet, bereits frühzeitig Thema waren. Aus ihrem Kreis kamen auch entsprechende Initiativen für publizistische (wie „Z“ oder „Forum Wissenschaft“) und wissenschaftliche Aktivitäten im weiteren Umfeld der Marburger Schule. Eine schwer zu entwirrende Mischung aus deutlichen politisch-administrativen Beschränkungen und selbstgewähltem Verzicht kam wohl zusammen, wenn es jenseits der Wissenschaftsinhalte um disziplin- oder hochschulpolitische Interventionen ging. Einschlägige Aktivitäten blieben in aller Regel auf die Mühen der Fachbereichs- und lokale Universitätspolitik beschränkt, sieht man von den Aktivitäten im BdWi vor allem von Reinhard Kühnl und unterstützende Aktivitäten der Studierendenbewegungen ab. Allerdings gehörte zum Arbeitsprofil der Marburger Schule seit Abendroth auch der arbeitsaufwendige und mühevolle praktische Alltag einer partizipativen, demokratischen Lehre und einer möglichst humanen Prüfungspraxis, der weit entfernt war von der einstigen Willkür der Ordinarienuniversität und versuchte, sich aus einer Minderheitsposition den neoliberalen Positions-, Konkurrenz- und Exzellenzkämpfen der 90er und 00er Jahre entgegenzustellen. Tausenden von Studierenden dürfte dies in Erinnerung geblieben sein.

In einer Zeit, in der die „unternehmerische Hochschule“ geradezu zum universitären Standardmodell geworden ist, kann eine explizit auf politische Veränderung zielende Wissenschaft dadurch beim besten Willen nicht mehr die katastrofischen Untergangsschreie über die „kommunistische Unterwanderung“ herbeizaubern, die vor allem zwischen 1965 und 1975 gang und gäbe waren, bevor sie von der praktischen Kombination aus Berufsverbotspolitik und neoliberalen Versprechungen abgelöst wurden. Sie hatten allerdings auch mit dem Skandal der Affinität zur oder Organisierung in der DKP zu tun. Peters nüchterne Beantwortung der Frage, warum „sich die Marburger Marxisten gerade von der DKP politisch angesprochen“ fühlten (136ff.) ist geradezu eine Erstaufführung. Er nennt die Präsenz der DKP namentlich in der industriellen Arbeiterschaft, ihre Gewerkschaftspolitik und Bemühungen zur Kooperation zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, die zwischen Reform und Revolution vermittelnde Programmatik der Partei, das Verständnis der DDR als Systemalternative, die Unterstützung antikolonialer und nationaler Befreiungsbewegungen und die Forderung nach Abrüstung. Sie wurde als Protestalternative wahrgenommen und hatte zeitweise großen Zulauf auch unter Jugendlichen. Ergänzt werden könnte diese Position mit dem Hinweis auf die kontinuierliche Rezeption einer Reihe beeindruckender theoretischer (vor allem ökonomischer und historischer) wissenschaftlicher Arbeiten aus der DDR. Wissenschaftliche Akzeptanz und auch Hochschätzung marxistischer Arbeiten aus der DDR wie des IMSF und politische Parteinahme kamen hier zusammen. Ob Peters Einschätzung Abendroths, wonach dieser „primär politisch und praktisch dachte“ (63), auch auf die Marburger Schule insgesamt übertragen werden kann, lässt er offen und belässt es dabei, als ihre Eigenart die kommode „Verbindung wissenschaftlicher Analyse und politischer Praxis“ auszumachen (205). Vieles spricht aber dafür, dass hier ein dauerhaftes „Asset“ der Marburger Schule lag, das ihre besondere Attraktivität entscheidend begründete. In der auch parteipolitischen Konstellation, wie sie sich mit dem Aufstieg des Neoliberalismus und dann nach 1989 allmählich herausbildete, stellte sich diese Frage kaum noch. Nicht nur Fülberth („Der große Versuch“), sondern auch Deppe („Jenseits der Systemkonkurrenz“, „Fin de Siècle“) oder Boris mit seinen kritischen Einschätzungen des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ versuchten, die 1989 entstandene Situation der „Defensive“ (203) und „Niederlage“ (Deppe) mit historischen und kapitalismusanalytischen Analysen aufzuarbeiten und neue politische Transformationen zu befördern. Nicht als Schule, aber als Maulwurf scheinen ziemlich viele Marburger noch unterwegs zu sein.

Lothar Peter hat ein präzises, höfliches, zutreffendes Buch geschrieben.

Rainer Rilling

Aide-Mémoire

Friedrich-Martin Balzer (Hg.), Heinz Düx, Justiz und Demokratie – Anspruch und Realität in Westdeutschland nach 1945 – gesammelte Schriften (1948 - 2013), Pahl-Rugenstein Verlag Nf. GmbH, 2013, 982 Seiten, 39,99 Euro

Als der Sammelband der Publikationen des 1924 geborenen Richters Heinz Düx im Herbst 2013 erschien, wurde in Deutschland gerade der „Fall Gurlitt“ diskutiert. Nur durch Indiskretionen war bekannt geworden, dass bayerische Behörden seit zwei Jahren auf einer Anhäufung von Kunstwerken saßen, die mindestens zum Großteil unter Ausnutzung der Notlage NS-Verfolgter zusammengetragen worden waren. Die Behörden konnten oder wollten nicht die juristischen Konsequenzen aus dem aufgedeckten Tatbestand ziehen. Dass der Umgang mit NS-Taten auch anders geht, bewies Heinz Düx als Ermittlungsrichter des Ausschwitz-Prozesses. Wie Werner Renz vom Fritz-Bauer-Institut in einem Vortrag zur Vorgeschichte dieses Verfahrens feststellte, eröffnete Heinz Düx beim Landgericht Frankfurt am Main bereits drei Wochen nach Antragstellung und Übergabe von 52 Bänden Hauptakten mit 600 Vernehmungsprotokollen und Schriftstücken weiterer 200 Zeugen die gerichtliche Voruntersuchung. Von August 1961 bis Oktober 1962 vernahm er die Beschuldigten zum Teil mehrmals sowie 129 Zeugen in der Bundesrepublik Deutschland und im (auch östlichen) Ausland und schloss die Voruntersuchung im Oktober 1962 ab, wobei die Zahl der Hauptakten um weitere 22 Bände und die Anzahl der Beschuldigten von 24 auf 28 angewachsen war. Zu Recht bezeichnete Renz die Bestellung von Heinz Düx zum Ermittlungsrichter als Glücksgriff. Düx war jedoch nicht nur ein Glücksgriff für den Ausschwitz-Prozess, sondern ein seltener Glücksfall und Lichtblick in der trüben Geschichte der westdeutschen Nachkriegsjustiz. Wie der Sammelband ausweist, war er als Jurist und Publizist einer der wichtigsten Anwälte für die Rechte aller, die durch NS-Verfolgung oder NS-Unrecht zu Schaden gekommen waren, seien es Juden, Kommunisten und Sozialisten, Sinti und Roma, Zwangsarbeiter, Deserteure und Kriegsdienstverweigerer, Homosexuelle oder aus religiösen Gründen Verfolgte, und zugleich hellsichtiger Kommentator der deutschen Geschichte seit 1945.

Der Sammelband ist Erinnerungshilfe und Geschichtsbuch, Chronik der Skandale oder besser des Skandals des Umgangs der Bundesrepublik und ihrer Politik mit der deutschen Vergangenheit sowie deren Protagonisten, die vielfach zugleich Protagonisten des Skandals waren. Düx’ Bilanz von 2004 unter dem Titel „Die Beschützer der willigen Vollstrecker“, vom Herausgeber Friedrich-Martin Balzer (neben der Dissertation aus dem Jahre 1948, einem höchst lesenswerten Beitrag zur Geschichte der deutschen Gewerkschaften) an den Anfang des Bandes gestellt, entlarvt weite Teile der westdeutschen Justiz in den entscheidenden Jahren als Schutzgemeinschaft der Nazi-Täter (kein Mitglied des Volksgerichtshofs wurde je bestraft). Als langjähriges Präsidiumsmitglied der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes, als Gründungsmitglied der Vereinigung Demokratischer Juristen, als Mitherausgeber der Zeitschrift Demokratie und Recht (neben u.a. Wolfgang Abendroth und Helmut Ridder), als Gutachter in parlamentarischen Anhörungen, als stets bereiter Referent, kommentierte Düx nicht nur die bundesdeutsche Schäbigkeit bei der Wiedergutmachung gegenüber den NS-Opfern, den Ausschluss der Kommunisten von der Entschädigung, die Verbrechen der Ärzte und Psychiater in der sog. Euthanasie, die langjährige Verdrängung der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma. Der Band ruft die unsägliche Verjährungsdebatte in Erinnerung, thematisiert das Friedensgebot des Artikels 26 Grundgesetz, erinnert an die Initiativen der Friedensbewegung, stellt die Bedeutung der Nürnberger Prozesse heraus. Ausgestattet mit einem hervorragenden Gedächtnis und historisch beschlagen fielen Düx bei den Absurditäten aktueller Diskussionen und Argumentationsmuster stets die treffenden Parallelvorgänge der Vergangenheit ein, nie verlegen um ein passendes Zitat. Wenn ihn der Herausgeber als „distanzierten Insider“ der bundesdeutschen Justiz bezeichnet, so war er Insider niemals im Sinne von zugehörig zum Kartell, distanziert niemals im Sinne von abgeklärt, sondern kompromisslos und ohne Rücksicht auf Konventionen. So wenn er z.B. der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zügellosen rechtsfremden Irrationalismus vorwarf. Ob in rechtswissenschaftlichen Aufsätzen, durch ein (erstmals veröffentlichtes) Theaterstück in lyrischer Form oder durch journalistische Arbeiten, stets waren seien Beiträge eingedenk des deutschen Chauvinismus und der Möglichkeit der Wiederkehr des Schreckens, wobei seine Aktivitäten bis zur Gefährdung der eigenen Existenz führten. So versuchte die hessische CDU, ein Disziplinarverfahren nach dem deutschen Richtergesetz gegen ihn in Gang zu setzen u.a. wegen Unterzeichnung eines Aufrufs zum 30. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg. Man wäre geneigt, zahlreiche Beiträge zu referieren, ließe es der für eine Rezension zur Verfügung stehende Raum zu. Hätte man vergessen, was einem an Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs missfallen hat und missfallen musste – nach der Lektüre des Sammelbandes wüsste man es wieder. Dem Herausgeber gebührt großer Dank für die offenkundig riesige Arbeit der Zusammenstellung dieses Kommentars der deutschen Zustände.

Joachim Schwammborn

Gewerkschafter:
Kritische Haltung, fehlende Perspektive?

Richard Detje/ Wolfgang Menz/ Sarah Nies/ Dieter Sauer/ Joachim Bischoff, Krisenerfahrungen und Politik. Der Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat, VSA Verlag, Hamburg 2013, 151 Seiten, 12,80 Euro

Die Studie „Krisenerfahrungen und politische Orientierungen“ von Richard Detje, Wolfgang Menz, Sarah Nies, Dieter Sauer und Joachim Bischoff will einen „Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat“ ermöglichen. Sie schließt dabei an die Vorgängerstudie „Krise ohne Konflikt?“ an und setzt sich das Ziel, „tiefere Dimensionen von Alltagsbewusstsein“ der Beschäftigten im Verlauf der krisenhaften Entwicklung der letzten Jahre aufzuzeigen. Mit ihrer Studien wollen die Autoren Anregungen für weitere Diskussionen insbesondere auch über Interessen- und Handlungsorientierungen im Kontext von Krisen geben. Die Studie stützt sich auf zehn Gruppendiskussionen und zwölf Einzelinterviews mit insgesamt 70 Befragungspersonen aus der Metall- und Textilindustrie und aus der stationären Krankenpflege und dem Erziehungsbereich.

Um es gleich vorneweg zu sagen: Die Autoren betonen selbst, dass die Ergebnisse nicht bruchlos auf alle Beschäftigtengruppen verallgemeinert werden können. Neben der geringen Teilnehmerzahl muss bei der Bewertung der Ergebnisse besonders die Auswahl der Teilnehmer_innen ausschließlich aus dem Kreis „basisnaher“ gewerkschaftlicher Interessenvertreter_innen, die am Rande von gewerkschaftlichen Qualifizierungsmaßnahmen befragt wurden, berücksichtigt werden. Bei diesem Teilnehmerkreis kann generell ein höheres Maß an Organisationserfahrungen in betrieblichen Konflikten unterstellt werden als im Durchschnitt der Belegschaften.

Dies berücksichtigt, liefert die Studie einen wertvollen Beitrag zur Fundierung politischer und gewerkschaftlicher Handlungsstrategien unter den Bedingungen der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus.

Die Autoren stellen in einem ersten Schritt Ergebnisse von Meinungsumfragen zur Krisenbetroffenheit zusammen und kontrastieren sie mit den Erfahrungen und Auffassungen betrieblicher Interessenvertreter_innen. Dabei gehen sie von der Erkenntnis aus, dass ohne Berücksichtigung des Betriebs als einem zentralen Ort der Krise ein tieferes Verständnis des Krisenbewusstseins der Beschäftigten nicht möglich ist.

Demoskopische Befunde der einschlägigen Meinungsforschungsinstitute zur Stimmungslage der Bevölkerung vermitteln ein widersprüchliches Bild. Eine deutlich Mehrheit der Befragten gibt an, von der Krise nicht oder nur gering betroffen zu sein und ist – jedenfalls auf kurze Sicht – durchaus zuversichtlich, was im deutlichen Kontrast zur Stimmung in den „Krisenländern“ steht. Die gängige Erklärung der Meinungsforscher hierfür ist, dass „die Schuldenkrise in Europa die Deutschen bisher kaum erreicht und für sie eher ein virtuelles Ergebnis ist“ (Allensbach). Dies wird so gedeutet, dass das „Systemvertrauen“ wieder zugenommen hat. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie relativieren diese Einschätzungen.

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass es trotz schneller Überwindung des Einbruchs von 2008 bei den Untersuchungsteilnehmer_innen kein gewachsenes Vertrauen in das kapitalistische System à la Modell Deutschland gibt. Vielmehr dominiert die „Erfahrung eines zur Permanenz gewordenen Krisenverlaufs“. Dies liegt vor allem am permanenten Rationalisierungs- und Effektivierungsdruck in den Betrieben. Auch wenn es dem eigenen Betrieb zurzeit wirtschaftlich gut geht, bedeutet dies nicht ein Nachlassen dieses Drucks. Die Krise wird vielfach als machtpolitische Inszenierung gedeutet, bei der die Krise nur vorgeschoben wird, um im Betrieb weitere Rationalisierungsmaßnahmen durchzusetzen.

„Die betriebliche Prosperität schafft keine neuen Sicherheiten“ – auch bei guter wirtschaftlicher Situation bleibt der Druck auf die Arbeitskraft bestehen“ – so das Fazit der Autoren. Mit diesem Befund setzten sich die Autoren auch von den Ergebnissen der Jenaer Forschungsgruppe um Klaus Dörre ab, die bei ihren Untersuchungen festgestellt hatte, dass viele Stammbeschäftigte den Betrieb als sicheren Hafen erleben – nach dem Motto „guter Betrieb“ – „schlechte Gesellschaft“.

Trotzdem: Ob es möglich ist, durchaus verbreitete Formen „exkludierender Solidarität“ zurückzudrängen, hängt stark davon ab, wie es gelingt, betrieblich und gesellschaftlich Widerstand gegen weitere Ausgrenzung und Deregulierung zu organisieren.

Bereits in der Vorgängerstudie haben die Autoren mit dem Begriff „adressatenlose Wut“ versucht, Krisenerfahrungen und Krisenverarbeitung zu beschreiben. Nicht einzelne Akteure wie das Management vor Ort oder „die Politiker“ werden von den Befragten als Verantwortliche der Krise angesehen, auch diese sind Getriebene, weil letztlich alle nur Systemvorgaben folgen. Realistische Alternativen zum Profitsystem werden nicht gesehen. Dies ist nach dem grandiosen Scheitern des Realsozialismus auch nicht anders zu erwarten.

Die in der Studie festgestellte durchweg kritische Haltung zu den betrieblichen und gesellschaftlichen Verhältnissen führt aber nicht einfach zu verstärkten Auseinandersetzungen im Betrieb. Die Befragten selber sehen sich in einem „Mobilisierungsdilemma“. Die Aktiven spüren zu wenig Unterstützung „von unten“. Durch den fehlenden Druck aus der Belegschaft fühlen sie sich in eine Art Stellvertreterpolitik gedrängt. Als Erklärungsmuster für die Passivität der Belegschaften wird neben der um sich greifenden Individualisierung der Interessenpositionen innerhalb der Belegschaft die Auffassung vertreten, dass es den „Leuten erst schlechter gehen (muss), damit sie sich bewegen“. Die Autoren der Studie weisen zu Recht auf die Problematik dieser Einschätzung hin. Hatte sich doch auf dem Tiefpunkt der Krise 2009/2010 gerade gezeigt, dass es insbesondere die Angst um den Arbeitsplatz ist, die lähmt.

Die mangelnde Beteiligung von unten, die die befragten gewerkschaftlichen Interessenvertreter_innen vermissen, führt bei ihnen andererseits zu höheren Anforderungen an Unterstützung durch die Gewerkschaft. Dies gilt sowohl für die betriebliche und Branchenebene als auch für die politische und gesellschaftliche Ebene. Deregulierung und prekäre Arbeitsverhältnisse können nicht allein auf betrieblicher Ebene zurückgedrängt werden. Die Gewerkschaften sollen politischer werden. Sie sollen auch im politischen Raum die Interessen der Beschäftigten wahrnehmen, wobei der parteipolitischen Unabhängigkeit ein hoher Stellwert eingeräumt wird. Dies ist auch Ausdruck einer zunehmenden „Verachtung des Politischen“. Von „der Politik“ werden Lösungen nicht mehr erwartet. Maßnahmen im Interesse der Beschäftigten können allenfalls durch Druck der Gewerkschaften durchgesetzt werden.

Nach Jahren der Deregulierung, von permanenten Restrukturierungs- und Reorganisationsprozessen und des Rückbaus der sozialen Sicherungsnetze ist es mühsam, Erfolge zu organisieren. Dass dies in Ansätzen möglich ist, zeigt sich beim Kampf gegen Leiharbeit und für einen gesetzlichen Mindestlohn. Gegenüber der Vorgängerstudie ist bei den befragten betrieblichen Aktiven ein deutlich geschärftes Bewusstsein für die Notwendigkeit der Eindämmung prekärer Arbeitsverhältnisse festzustellen. Die Ausgrenzungsprozesse gegenüber den Randgruppen der Belegschaft und gegenüber Arbeitslosen, die die Forschungsgruppe um Dörre bei ihren betrieblichen Befragungen festgestellt hat, sind also nicht in Stein gemeißelt.

Aufmerksamkeit verdient auch die These der Autoren, dass unter den Bedingungen der „permanenten Krise“ und der von den Beschäftigten verlangten „Ultraflexibilisierung“ die Sicherung der Arbeitskraft immer mehr ein einigendes Band zwischen den Beschäftigten unterschiedlicher Branchen werden kann. In Bezug auf den Druck, der auf die Arbeitskraft ausgeübt wird und wie er das Bewusstsein der Beschäftigten prägt, zeigen sich deutliche Übereinstimmungen zwischen den untersuchten Produktions- und Dienstleistungsbereichen. Hier sind sicher ausbaufähige Ansatzpunkte für branchenübergreifende gewerkschaftliche Strategien (Gute Arbeit) zu sehen.

Am Schluss ihrer Untersuchung verweisen die Autoren auf die zunehmenden autoritären Tendenzen im gegenwärtigen Kapitalismus. Die „Verachtung des Politischen“ und die „adressatenlose Wut“, die sie als Ausdruck von Systemerfahrungen bei den Befragten festgestellt haben, können durchaus auch Anknüpfungspunkte für rechtspopulistische politische Bewegungen sein. Einen Königsweg für die „politische Revitalisierung“ durch „Demokratisierung von unten“ liefert die Studie selbstverständlich nicht, aber sie zeigt, wie sich Gegenwehr entwickeln kann.

Michael Boedecker

Anregungen für eine Revitalisierung politischer Bildungsarbeit in den Gewerkschaften

Heinz-J. Bontrup, Krisenkapitalismus und EU-Verfall, PapyRossa Verlag, Köln 2013, 231 S., 15,90 Euro

In einem Beitrag für das „Neue Deutschland“ stellt Hans-Jürgen Urban fest: Auch die deutschen Gewerkschaften konnten (oder wollten?) keinen markanten Beitrag zur Stabilisierung oder gar Reaktivierung einer dezidierten Kapitalismuskritik leisten.1 Will man in den Gewerkschaften dieses Defizit ernsthaft beheben, muss man auch die Frage beantworten, welchen Stellenwert dort die politische Bildungsarbeit seit Ende der 1980er Jahre eingenommen hat und welche Rolle dabei die Vermittlung des nach wie vor vorhandenen Grundwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit spielte. Kapitalismuskritik ohne grundlegende Kenntnisse der politischen Ökonomie und deren Vermittlung in den haupt- und ehrenamtlichen Funktionärsapparat der Gewerkschaften findet ihren Ausgangs- und Endpunkt in der Standortlogik des Kapitals und im dazugehörigen Co-Management.

Heinz-J. Bontrup hat im PapyRossa Verlag Ende 2013 ein kleines Buch vorgelegt, dass sich mit Grundfragen der kapitalistischen Produktionsweise und deren Auswirkungen befasst. Dazu gehört es dann auch, sich mit ökonomischen Formeln und Statistiken zu beschäftigen, so wie dies in dem Buch getan wird.

In den Kapiteln 1. und 2. (kapitalistischer Produktions- und Akkumulationsprozess) lässt Bontrup keine Zweifel daran aufkommen, dass sich Kapital und Arbeit bis heute unversöhnlich gegenüberstehen, dass die kapitalistischen Strukturen den Lohnarbeiter auf der einen und den Eigentümer der Produktionsmittel auf der anderen Seite geschaffen haben. Aufbauend auf diese Erkenntnis zeigt er im 3. Kapitel (Wertschöpfungsprozess, Profitrate, Shareholder-Value-Prinzip, Kartellbildung und Monopolisierung) auf, wie in der Produktion der Mehrwert entsteht und wie dieser verteilt wird. Weiterhin erläutert er die Doppelfunktion des Arbeitseinkommens und geht auf die Frage ein, wie sich die in der Produktion geschaffene Wertschöpfung am Markt realisieren lässt. In diesem Zusammenhang zeigt er die Funktionsweise des kapitalistischen Wettbewerbsprozesses auf, der in den letzten 20 Jahren durch eine Welle von Insolvenzen zu einem Verdrängungs- und Konzentrationsprozess geführt hat. Globalisierung und Liberalisierung sind für Bontrup nichts anderes als die schlichte Folge kapitalistischer Bewegungsgesetzte die nach einer permanenter Expansion (Akkumulation) verlangen (60ff). Eingegangen wird bspw. auch auf die „einzelwirtschaftliche Rationalitätsfalle“, die aus Sicht des Kapitals die Löhne in den Betrieben möglichst niedrig halten will, dies dann aber andererseits zu Nachfrageausfällen der einheimischen Lohnarbeiter führt, die durch zusätzliche Auslandsnachfrage ausgeglichen werden sollen.

In Kapitel 4 geht Bontrup auf die Besonderheiten der Ware Arbeitskraft ein. Hier erläutert er Begrifflichkeiten wie Bruttoinlandsprodukt (BIP), Produktionsrate, Produktivitätsrate und Arbeitsvolumen und stellt sie in ihrer Beziehung zueinander dar. Anhand der historischen Entwicklung des Arbeitsmarktes in Deutschland und der damit verbundenen z.T. dramatischen Folgen für die ausgegrenzten und prekarisierten Schichten, bezeichnet Bontrup die von den Unternehmerverbänden und ihrer „medialen Claqueure“ in den Raum gestellte Vollbeschäftigung als Volksverdummung. Er entwickelt in diesem Kapitel eine aus seiner Sicht notwendige und ökonomisch machbare Konzeption für eine weitere kollektive Arbeitszeitverkürzung, mit dem Ziel einer 30-Stundenwoche (83ff).

In Kapitel 5 befasst sich Bontrup mit der Rolle des Staates in seiner „Ersatzrolle als Akteur auf dem kapitalistischen Spielfeld für eine im Akkumulationsprozess versagende Privatwirtschaft“ (94). Er geht auf die von den Neoliberalen gegeißelte Staatsquote ebenso ein wie auf die von den Neoliberalen zwar verteufelte, aber im Zusammenhang mit Steuer- und Abgabesenkungen zu Gunsten der Gewinneinkommen und zu Lasten der Lohneinkommen in Kauf genommene Staatsverschuldung. Er erläutert außerdem die zu berücksichtigende Tatsache, dass den Schulden immer entsprechende Vermögenswerte gegenüberstehen und deshalb die politische Frage im Raum steht, wer für die Schulden aufkommen soll, der „Faktor“ Arbeit durch mehr Lohnsteuer, oder der „Faktor“ Kapital und die reichen Schichten durch eine stärkere Besteuerung der Gewinne und Vermögenswerte (114).

In Kapitel 6 werden die Entwicklungsphasen des Kapitalismus nach dem zweiten Weltkrieg aufgezeigt und in ihrer jeweils spezifischen Ausprägung dargestellt. Reflektiert werden hier das System von Bretton-Woods, dessen Zusammenbruch 1973 sowie die angebotsorientierte Politik von Ronald Reagan und Margret Thatcher. Für die Bundesrepublik verortet Bontrup ab Mitte der 1970er Jahre eine wirtschaftspolitische Wende „weg vom wohlfahrtsstaatlichen orientierten Keynesianismus hin zum marktradikalen Neoliberalismus“ (127). Er geht im Folgenden auf die Verschärfung des neoliberalen Kurses, den Wegfall der Systemkonkurrenz und den Zusammenbruch der „New Economy“ im Jahre 2000, sowie auf die im Jahr 2007 in den USA einsetzende Finanz- und Wirtschaftskrise ein, deren verheerende Folgen bis heute nachwirken.

Behandelt wird weiterhin die Thematik von sinkenden Wachstumsraten und tarifpolitisch zeigt Bontrup die möglich gewesenen Verteilungsspielräume und die tatsächlichen Verteilungsverluste der Lohnarbeiter der vergangenen Dekade auf.

In Kapitel 7 wird die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise behandelt. Bontrup erläutert hier die besondere Rolle der Finanzmärkte, die Geldpolitik der EZB und die Rolle der Banken in diesem Prozess und er geht auf den „Teufelskreis“ aus Umverteilung, Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit ein. Weiterhin zeichnet er kurz die Politik der Europäischen Union seit Mitte der 1980er Jahre nach, mit all ihren politischen Fehlern und daraus resultierenden Katastrophen.

Im letzten Kapitel befasst sich Bontrup folgerichtig mit der Frage nach Alternativen zur herrschenden neoliberalen Politik in Europa und gibt Anregungen hinsichtlich einer wirtschafsdemokratischen Konzeption, die durch eine Demokratisierung der europäischen Institutionen zu begleiten wäre. In diesem Zusammenhang sei eine völlig andere Wirtschaftspolitik zu konzipieren und er plädiert für eine Ausweitung gesetzgeberischer Reglungen bzgl. des Wettbewerbs- und Kartellrechtes, des Arbeits- und Umweltschutzes und der betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmungsgesetzte.

Die Themen, die in diesem Buch behandelt werden, erschließen sich m.E. am Besten in der praktischen Reflektion und Analyse betrieblicher Fragestellungen (bspw. die Geschäftspolitik der Deutschen Post DHL2, die kein Zufallsprodukt ist, sondern der Profitlogik des Kapitals folgt). Im Zusammenhang mit einer solchen Wissens- und Erkenntnisvermittlung wäre dann auch die Frage zu diskutieren, wie in den Gewerkschaften wieder stärker eine betriebsnahe politische Bildungsarbeit vorangebracht werden kann, so wie sie Harald Werner3 für die 1980er Jahre beschrieben hat.

Dem Buch ist eine weite Verbreitung als Lern- und Arbeitsbuch für die politische Bildungsarbeit in den Gewerkschaften zu wünschen. Gemeinsam mit dem neuen Buch von Harald Werner könnten hier m.E. viele Anregungen für die Entwicklung einer wirklich progressiven Bildungsarbeit gewonnen werden, vorausgesetzt, der Wille für eine entsprechende offen Debatte in den Gewerkschaften kann mobilisiert werden.

Falk Prahl

„Uns hat der Krieg behütet für den Krieg“

Arndt Weinrich, Der Weltkrieg als Erzieher. Jugend zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte – Neue Folge, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Bd. 27), Klartext Verlag Essen 2012, 351 S., 39,95 Euro

Gern wird, dem Urteil des US-amerikanischen Diplomaten und Historikers George F. Kennan folgend, vom Ersten Weltkrieg als der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts gesprochen. Auch wenn diesem Begriff etwas Naturgesetzliches, etwas anscheinend nicht zu Erfassendes und die Kriegsursachen letztlich Verklärendes anhaftet – er bezeichnet durchaus zutreffend jene außerordentlich weitreichenden, zerstörerischen und unmenschlichen Folgen dessen, was im August vor nunmehr 100 Jahren begann. Der direkte Zusammenhang zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg liegt auf der Hand, ebenso der mit dem Kalten Krieg. Nicht allein in der deutschen Gesellschaft offenbart sich die generelle Verschränkung dieser Kriege mit allen großen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Auseinandersetzungen des vergangenen Jahrhunderts und auch unserer Zeit.

Seit einiger Zeit befassen sich Historiker speziell mit den geistig-mentalen Auswirkungen des Krieges von 1914/18. Diese prägten weitgehend das Leben in der Weimarer Republik und beförderten in hohem Maße die Entwicklung hin zur hitlerfaschistischen Diktatur. Zudem wird die systemstabilisierende Rolle untersucht, welche das Instrumentalisieren des Gedenkens an Opfer und Folgen für das braune Regime auf dem Weg zum Zweiten Weltkrieg spielte. Jüngst erschienene Publikationen – u.a. die von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz – wären da zu nennen.

Aus dem Umfeld dieser Autoren stammt auch das aus einer Dissertation hervorgegangene und hier vorzustellende Buch. Sein Verfasser untersucht vor allem die Formen und Inhalte sowie die mobilisierenden Funktionen des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg, welches es – neben dem der Institution Schule – in den Jugendverbänden vieler Parteien gab. Gründlich analysiert er den intensiv betriebenen Kult um jene, die im Krieg „heldenhaft“ gekämpft hatten oder gefallen waren. Dieser Kult bestimmte nach seiner Auffassung weitgehend das Leben und Denken weiter Teile der organisierten Jugend vor allem in den letzten Jahren der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Er bewertet ihn als „Multiplikator eines heroischen Männer- und Soldatenbildes“.

Der Band bietet eine Fülle an gründlich recherchiertem Material, entnommen vor allem aus diversen zeitgenössischen und systematisch ausgewerteten Zeitschriften, Leitfäden, Veranstaltungsprogrammen und -berichten. Wenngleich die Wiederholung gleicher oder ähnlicher Aussagen das Lesen nicht unbedingt erleichtert, so entsteht doch ein ernüchternder, zugleich erschreckender Gesamteindruck von Umfang und Wirkung zielorientiert betriebener Geschichtspolitik. Diese suchte rigoros alle Erinnerungen an den „Großen Krieg“ zu nutzen, um unter den männlichen, aber auch unter den weiblichen Jugendlichen Bereitschaft zum Selbst-Opfer in weiteren Kriegen bewirken zu können. Vermeintlich positive Werte wie Tapferkeit, Kameradschaft, Opferbereitschaft und Solidarität der Kriegs-„Helden“ wurden vehement umgedeutet und dienten als Grundlage der Jugend-„Erziehung“.

Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Rezeption des Krieges durch die Hitler-Jugend (HJ). Für den Titel dieses vierten Kapitels nutzte Weinrich die abschließende Zeile des Gedichts „Des Daseins Sinn“ von Baldur von Schirach, das 1929 entstand. Mit den Worten „behütet“ (oder auch „bewahrt“) für den Krieg zielte es auf eine kriegerische Revision der Nachkriegsverhältnisse und suggerierte, dass der verlorene Krieg in denen der Zukunft gleichsam rückwirkend gewonnen werden könne und müsse. Der Autor verfolgt detailliert, welche Konjunkturen und Verschiebungen es zwischen 1926 und 1945 in der Erinnerung der HJ an den Krieg gab und wie sich ein ausufernder Kult um die heldenhaft „Gefallenen“ entfaltete. Zugleich wird untersucht, welche Auseinandersetzungen um diese geistige Vorbereitung auf einen neuen Waffengang stattfanden. Bei diesen – es gab sie insbesondere zwischen der HJ und anderen Wehrverbänden – ging es vor allem um Deutungshoheit und politische Machtinteressen. Erstere, so der Verfasser, habe sich mehr und mehr selbst als Trägerin des „Vermächtnisses der Front“ in Szene setzen können und solchen Organisationen wie dem Kyffhäuser-Bund oder auch dem Stahlhelm jegliche Berechtigung abgesprochen, das Fronterlebnis als Legitimationsfolie für eigene politische Forderungen zu instrumentalisieren.

Der Leser findet im HJ-Kapitel oftmals Rückgriffe auf die – nach Meinung des Rezensenten interessanteren und wirklich Neues bietenden – Kapitel zwei und drei. Hier stellt er das Helden- und Opfergedenken der späten 1920er und frühen 1930er Jahre dar und analysiert, wie in bürgerlichen, christlichen und ansatzweise auch in sozialdemokratischen Jugendorganisationen – insbesondere der Deutschen Freischar, dem Großdeutschen Jugendbund, dem Katholischen Jungmännerbund Deutschlands und dem sozialdemokratischen Jungbanner im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold – über den Ersten Weltkrieg, seine Ursachen und die deutsche Niederlage gedacht worden ist. Bemerkenswert eindeutig urteilt W. über die Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen, die es in allen nationalistisch sowie nationalsozialistisch agierenden Jugendverbänden gegeben hat. Allgegenwärtig waren auch in den untersuchten Verbänden ein mehr oder weniger striktes Bekenntnis zu Soldatentum und nationalistisch interpretierter Opferbereitschaft, ferner die Verklärung und Sakralisierung des Tötens und des Getötet-Werdens. Das Gefühl war weit verbreitet, man sei dem Vermächtnis der Opferhelden zu eigenem opferbereitem Heldentum verpflichtet.

Natürlich fragt W. nicht allein nach den Schnittmengen von rechter und rechtsradikaler Ideologie, sondern auch nach den Unterschieden. In inhaltlicher Hinsicht lässt sich allerdings kaum originär Faschistisches benennen. Mit Recht meint Weinrich, die Bedeutung beispielsweise von Gorch Fock, Hermann Löns und Walter Flex als im Ersten Weltkrieg gefallener Dichter sei kaum zu überschätzen. Vor allem Letzterer hätte einen bildungsbürgerlichen Kanon vorgegeben, der ein zeittypisches Kondensat aus nationalistischem Idealismus, sozialdarwinistisch-vitalistischer Kriegsbejahung, Sehnsucht nach Volkseinheit, bedingungsloser Hingabe des einzelnen für das Vaterland und opfermythischem Heldenkult darstellte. Als eine der wichtigsten Differenzen dieser Kreise zu den Nazis bezeichnet er neben deren rassistischer Ideologie die vehemente Mobilisierung zur Gewalt. Doch da beschönigt er wohl eher das Auftreten, die Auffassungen und die Wirksamkeit der zahlreichen paramilitärischen Organisationen, die zu Weimarer Zeiten neben der HJ agierten. Grundsätzlich schlussfolgert Weinrich aber völlig berechtigt, dass der 30. Januar 1933 „für die Weltkriegsrezeption der Jugend keine Zäsur darstellt. Vielmehr machte die HJ mit zentralen Elementen ihres Kriegs- und Heldengedenk-Diskurses ein weitgehend konsensfähiges Deutungsangebot, das gemeinhin nicht als NS-spezifisch betrachtet, sondern eher als selbstverständlich hingenommen wurde und damit – so kann vermutet werden – die Integration in die sich rapide zur Staatsjugend entwickelnden HJ erleichterte.“ (66) Im Vorwort zum Buch, das Ian Kershaw beisteuerte, heißt es, Hitler „hätte nicht allzu viele Zuhörer gefunden, wenn es nicht Millionen gegeben hätte, die bereit waren, wenigstens partiell seiner Diagnose des deutschen Missgeschicks und der seiner Ansicht nach notwendigen Abhilfe zuzustimmen. Der Band macht deutlich, wie sehr diese Bereitschaft auf die zahllosen Methoden und Praktiken zurückzuführen ist, mit denen die Nationalsozialisten das Trauma des Ersten Weltkriegs ausbeuteten.“

Den Band beschließt ein lesenswertes fünftes Kapitel über das militärisch sinnlose, indessen mythisch nahezu unvergleichlich verklärte Opfer, das junge und auch ältere Männer in der Schlacht bei Langemarck am 10. November 1914 bedenkenlosen Befehlen folgend gleichsam rauschhaft erbracht hatten. Auch hier enthüllt Weinrich die teils erbittert ausgefochtenen Machtkämpfe um die geschichtspolitische Deutungshoheit zwischen der HJ und der nazistischen Studentenorganisation. Dargestellt werden auch die Versuche, den Langemarck-Mythos als Mittel zur Überwindung von Konflikten zwischen den älteren Frontkämpfern und der jüngeren Generation zu nutzen. Dabei wurde letzterer „der ritualisierte, ehrfürchtige Kotau vor dem zeitlosen Heldentum der Soldaten der alten Armee“ abverlangt.

Alles in allem kann der Leser zu interessanten und überzeugend-verallgemeinernden Schlussfolgerungen gelangen. Beispielsweise belegt das Material eindeutig, dass sowohl die Zerstörung der Weimarer Republik als auch die Zustimmung einer großen Mehrheit der Deutschen zur Politik der regierenden NSDAP ermöglicht worden sind durch das nationalistisch geprägte, auch geistig und mental vorbereitete Bündnis zwischen den rechten bürgerlichen Parteien einerseits und den Nazis andererseits. Dem Band ist auch zu entnehmen, dass dieses Bündnis zustande kam trotz aller Erinnerungen an die Schrecken des Krieges, trotz allgemeiner Ablehnung von Kriegen und der lebhaft befürworteten Losung „Nie wieder Krieg!“ Kriegskritische und heroisierende Auffassungen hätten einander nicht ausgeschlossen, meint W. und erklärt, dass die weitgehende Kompatibilität von Kriegsverdammung und Glorifizierung soldatischer Opferbereitschaft „zum Signum der Weimarer Kultur“ gehört habe.

Der Frage, wie generell das Thema „Krieg“ und sein Platz in der Geschichte der Menschheit von den Nazis als Mittel militaristischer Erziehung und Kriegsbereitschaft genutzt worden ist, wird nicht gestellt. Gelegentliche Einsprengsel und Anklänge an die in Bundesdeutschland landläufig vorgegebene These vom Zusammenspiel rechts- und linksextremer Parteien bei der Zerstörung der Weimarer Republik mögen eine dem Autor vielleicht als notwendig erscheinende Verneigung an den Zeitgeist sein – den quellengestützten Befunden und dem Dargestellten entsprechen sie nicht.

Manfred Weißbecker

Weißer Fleck der
Faschismusforschung

Manfred Wichmann, Waldemar Pabst und die Gesellschaft zum Studium des Faschismus 1931-1934, Berlin, Edition Organon 2013, XXV / 276 S. (Bulletin für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Beihefte, Hg. Werner Röhr, Bd. 8), 24,- Euro

Bis heute war die im Dezember 1931 gegründete und zwei Jahre später in den Nationalen Klub aufgelöste Gesellschaft zum Studium des Faschismus (GSF) ein weißer Fleck auf der Landkarte der historischen Faschismusforschung. Handelte es sich bei ihr nur um eine Randerscheinung im vielstimmigen Konzert der Mobilisierung zur „nationalen Erhebung“ oder stellte sie eine einflussreiche Schnittstelle im Geflecht der politischen Klubs, Pressiere Groups, Kampfbünde und Parteien dar, in der sich die Ambitionen des italienischen Faschismus auf den Export seines seit dem Umsturz von 1922 entwickelten Herrschaftsmodells zur Geltung brachten? Oder verbargen sich hinter der GSF lediglich die irredentistischen Ambitionen ihres geschäftsführenden Vorsitzenden, des faschistischen Umstürzlers und Rüstungslobbyisten Waldemar Pabst, der sich dank seiner Verdienste bei der Liquidierung der deutschen Novemberrevolution und seines anschließenden Engagements beim Kapp-Lüttwitz-Putsch und bei der mit den italienischen Interessen abgestimmten Organisation der österreichischen Heimwehr den Ruf eines allzeit bereiten „Stabschefs“ der europäischen Konterrevolution erworben hatte?

Diese Fragen lassen sich nun dank der von Manfred Wichmann vorgelegten Untersuchung hinreichend beantworten. Es handelt sich um die überarbeitete Fassung einer aus langjährigen Forschungen hervorgegangenen und von Wolfgang Wippermann betreuten Promotionsarbeit, die an der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Im einleitenden Kapitel referiert der Verfasser zunächst die deutsche Rezeption des italienischen Faschismus seit 1922 und insbesondere seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, wobei er die Debatte über ihren möglichen Vorbildcharakter in den Mittelpunkt rückt. Danach porträtiert er die drei Schlüsselakteure der GSF, nämlich ihren treibenden Motor Waldemar Pabst, den als Galionsfigur fungierenden Herzog Carl Eduard von Sachsen-Coburg und Gotha sowie Giuseppe Renzetti, der in Berlin als Geheiminformant Mussolinis und Präsident der Italienischen Handelskammer aktiv war. Im dritten Kapitel rekonstruiert Wichmann die Gründungsgeschichte und den organisatorischen Aufbau der GSF und analysiert anschließend die soziale Zusammensetzung ihrer etwas mehr als 100 ordentlichen sowie etwa 220 Studienmitgliedern, die den politischen, publizistischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und militärischen Funktionseliten angehörten; sie waren ausnahmslos in den durch die „Harzburger Front“ gebündelten nationalkonservativ-faschistischen Organisationen zur autoritär-revanchistischen Beseitigung des Weimarer Status Quo aktiv. Im vierten Kapitel nimmt der Autor die Aktivitäten der GSF unter die Lupe: Sie wiesen sie mit ihren exklusiven Vortrags- und Diskussionsabenden sowie – wenig aktiven – Arbeitsgruppen als „Politischen Club“ aus, in dem sich die Repräsentanten der Funktionseliten mit den arbeits- und sozialpolitischen, wirtschaftspolitischen und paramilitärischen Aspekten des italienischen Faschismus und den sich auf diesen Feldern ergebenden Fragen einer Übertragbarkeit auf die deutschen Verhältnisse auseinandersetzten. Hier handelte es sich um das Kernanliegen, das die Existenz der GSF im vielschichtigen institutionellen Geflecht des „nationalen Aufbruchs“ spezifisch legitimierte, und deshalb war der Verfasser gut beraten, als er diese Problemstellung im anschließenden fünften Kapitel auf die Analyse der Publizistik einiger in Fragen der „Übertragbarkeit“ des italienischen Modells besonders engagierter GSF- Mitglieder – darunter Ernst Wilhelm Eschmann und Gerhard Albrecht – ausdehnte. Das letzte Kapitel ist dem Schicksal der GSF nach der am 30. Januar 1933 erfolgten Etablierung der Regierung Hitler-Papen-Hugenberg gewidmet. Wichmann weist nach, dass die GSF für die überwiegende Mehrheit ihrer Mitglieder dysfunktional wurde, weil diese nun in erheblichem Ausmaß in die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtapparate aufrückten und infolgedessen– so wie auch ihr herzoglicher Vorsitzender – die Agenda der GSF für erfolgreich abgeschlossen hielten. Diese Auffassung teilte jedoch eine qualifizierte Vorstandsminderheit – darunter der geschäftsführende Vorsitzende Waldemar Pabst und der Unternehmer Friedrich Minoux – keineswegs. Sie hielten im Gehenteil gerade jetzt die Stunde der GSF für gekommen und gründeten einen Aktionsausschuss, der die Koalitionsregierung des „nationalen Aufbruchs“ beraten sollte. Daraus wurde jedoch nicht viel. Wichmann hat in den Überlieferungen lediglich Diskussionsprotokolle zur Einflussnahme auf die Beschäftigungspolitik des neuen Regimes lokalisieren können, deren Ergebnis Minoux schließlich beim Reichsarbeitsministerium einreichte; sie wurden dort aber offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Ganz offensichtlich hatte die Gruppe um Pabst den Anschluss verpasst. Ende Dezember 1933 beschloss der Vorstand die Selbstauflösung und überführte seine noch aktiv verbliebenen Mitglieder als „Faschistische Studiengesellschaft“ in den Nationalen Klub. Dort verloren sich ihre Spuren dann neun Monate später, als Pabst das Büro kündigte. Zuvor war ein knappes Dutzend früherer GSF-Mitglieder in die Fänge der Greif- und Killertrupps des 30. Juni 1934 geraten, die im Auftrag der NS-Führung die bis zu diesem Zeitpunkt noch verbliebenen Kontrahenten innerhalb des nationalkonservativ-faschistischen Lagers beseitigten. Auch Pabst wurde verhaftet, jedoch wenige Tage später nach der Intervention seiner Freunde und Kameraden wieder auf freien Fuß gesetzt.

Soweit der orientierende Überblick über die Forschungsergebnisse Wichmanns. Seine Untersuchung gewinnt durch eine dem Anhang beigefügte Gruppe von Schlüsseldokumenten aus der Feder Pabsts sowie einen mustergültig erstellten Apparat zusätzlich an wissenschaftlichem Wert. In methodischer Hinsicht hat sich Wichmann die soziologische Netzwerkanalyse zu Eigen gemacht. Dieses Verfahren hat sich in den vergangenen Jahren in der historischen Forschung breit durchgesetzt, weil es die Herausarbeitung der Spezifik und der Bedeutung kleinerer Verbände, Kampfbünde, Vereine und Lobbygruppen unterhalb der „großen“ institutionellen Komplexe der politischen Sozialgeschichte ermöglicht. Anhand dieses Verfahrens kann der Verfasser überzeugend nachweisen, dass es sich bei der Gesellschaft zum Studium des Faschismus keineswegs um eine – wie der Name und auch die Satzung suggerierten – harmlose akademische Vereinigung, sondern um einen hoch motivierten Politischen Klub handelte, der den auf eine autoritär-faschistische Variante der Krisenüberwindung setzenden deutschen Funktionseliten eine Plattform bot, auf deren Grundlage sie die mögliche Vorbildfunktion des italienischen Faschismus abklären konnten. Insofern handelte es sich um eine typische organisatorische Schnittstelle, die ihre Mitglieder aus dem gesamten Spektrum der politischen Rechten rekrutierte und dezidiert darauf hinarbeitete, durch einen am italienischen Modell orientierten Brückenschlag den für den politischen Umsturz erforderlichen Homogenisierungsprozess zu erleichtern.

Durch ihre erfolgreich umgesetzte Orientierung an diesem methodischen Ansatz zeigt die Untersuchung Wichmanns aber auch die Schwachstellen der soziologischen Netzwerkanalyse auf. Letztlich lässt sich die tatsächliche politische Bedeutung der GSF für den Umschlag der Weimarer Präsidialkabinette zur NS-Diktatur nur dann einschätzen, wenn die Netzwerkanalyse mit anderen Verfahren der historischen Forschung kombiniert wird. Dazu gehört meines Erachtens erstens die historische Komparatistik: Wie schneidet die GSF ab, wenn sie mit anderen typischen Netzwerkstrukturen der nationalkonservativ-faschistischen Lagers verglichen wird, innerhalb derer die deutschen Funktionseliten den Diskurs um die Ziele und Modalitäten des autoritären Umbruchs vorantrieben? Aus einem Vergleich mit einigen typischen Parallel- und Konkurrenznetzwerken könnten darüber hinaus auch Rückschlüsse auf die Relevanz oder Irrelevanz der GSF für die späteren Karrieren so exponierter Mitglieder wie Hermann Göring, Hans-Heinrich Lammers, Hans Frank, Hjalmar Schacht, Walther Funk, August Heinrichsbauer und andere gezogen werden. Und daraus ließe sich dann drittens die besonders wichtige Frage ableiten, inwieweit sich die innerhalb der GSF geführten und protokollierten Debatten über die „Kompatibilität“ des italienischen Faschismus mit dem deutschen das spätere Handeln dieser Akteure wirklich beeinflusst haben. Zu diesem Zweck hätte Wichmann die in dieser Hinsicht durchaus aussagekräftigen Personalakten des ehemaligen Berlin Document Center konsultieren können.

Des Weiteren hätte es ein solcher komparativer Ansatz dem Autor erleichtert, sich um eine möglichst durchgängige Kontextualisierung seines Untersuchungsobjekts zu bemühen. An Ansätzen dazu fehlt es keineswegs, wie etwa die Überlegungen Wichmanns über das doch recht selbstbewusste wie spezifische Selbstverständnis des faschistischen Europäers Waldemar Pabst oder über das rasante Tempo der Ausschaltung der Koalitionspartner des Hitler-Papen-Hugenberg-Regimes durch die NS-Führung belegen. Dabei handelt es sich jedoch nur um sporadische Exkurse. Infolgedessen entgeht dem Verfasser beispielsweise, dass es unterhalb der „großen“ Aktionsebene der „Gleichschaltung“ wichtige Unterströmungen gab, in denen die korporatistisch-ständestaatlichen und mit den nationalkonservativen Restaurationsbestrebungen verwobenen Tendenzen einer „italienischen“ Variante weiterexistieren, bevor sie ab Frühjahr 1934 durch den uneingeschränkten Primat der Hochrüstung und der beschleunigten Kriegsvorbereitung eliminiert wurden. Hätte sich Wichmann um eine stringente historische Kontextualisierung bemüht, dann hätte er vielleicht auch eine plausible Erklärung dafür gefunden, warum sich Waldemar Pabst, der unumstrittene Spiritus Rector seines Untersuchungsobjekts, im Spätherbst 1931 so schnell von einen – offensichtlich mit seinen italienischen Mentoren abgesprochenen – Visionen einer sich europaweit etablierenden „Weißen Internationale“ verabschiedete und zu einer alles in allem doch recht betulich daherkommenden Mini-Ausgabe in Gestalt der Gesellschaft zum Studium des Faschismus herbeiließ. Und schließlich hätte der Verfasser anhand einer genauer kontextualisierenden Analyse der Veranstaltungsprotokolle nachweisen können, dass es dem Vorstand der GSF nicht gelang, seine auf die Liquidierung der Weimarer Republik setzenden Mitglieder von der Stringenz zentraler Charakteristika des italienischen Faschismus –insbesondere seines Milizsystems und des Aufbaus eines starken staatlichen Wirtschaftssektors – zu überzeugen. Meines Erachtens war dies der entscheidende Grund, der die um Pabst und Renzetti gescharten Aktivisten der GSF daran hinderte, rechtzeitig mit einem eigenen Aktionsprogramm hervorzutreten und sich offensiv in die Gestaltung des faschistischen Umsturzes einzumischen.

Doch sind dies Fragen, die heutzutage nur noch die Fachleute der historischen Faschismusforschung tangieren, und deshalb will ich sie hier auch nicht weiter ausbreiten. Dass die Lektüre der von Wichmann so entlegen veröffentlichten Studie dessen ungeachtet ein politisches „Muss“ ist, ist den aktuellen Zeitläuften geschuldet. 1933/34 gelang es der NS-Führung ohne große Mühe, die in der Gestalt Pabsts, Renzettis und vieler anderer Akteure verkörperte Vision eines europaweit koordinierten faschistischen Herrschaftssystems zu marginalisieren. Wer sich kritisch mit den gegenwärtigen europaweiten Koordinationsbestrebungen des Neo-Faschismus beschäftigt, bemerkt schnell, dass die Kenntnis der u.a. in der GSF verkörperten europäischen Variante einer faschistisch-neokonservativen Symbiose heute wieder hochaktuell ist.

Karl Heinz Roth

Kolonialismus und Siedlergesellschaften

Thomas Kiefer, Die britischen Kolonien Kenia, Nord- und Südrhodesien in der Entkolonialisierung 1945 – 1965. Politische Strukturen von Siedlergesellschaften in der Krise, Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert Stiftung, LITVerlag, Münster 2013, 416 S, 44,90 Euro

Was genau den Autor bzw. dessen Doktorvater dazu bewogen hat, die ehemaligen britischen Kolonien in Ostafrika bzw. in Zentralafrika gemeinsam zu behandeln ist unklar. Zwar hatten Zimbabwe (Südrhodesien), Nordrhodesien (Sambia) und Njassaland (Malawi) kolonialpolitisch gewisse Gemeinsamkeiten (u.a. der Versuch zur Bildung einer zentralafrikanischen Förderation in den 1950er Jahren), Kenia hat aber definitiv eine völlig andere Entwicklung genommen. Dafür klammert der Autor Njassaland völlig aus. Ein roter Faden oder eine seriöse erkenntnisleitende Fragestellung ist nicht sichtbar. Der in der Einleitung aufgestellten These: „In beschränktem Umfang kann die Geschichtsforschung zu Kolonialismus und Dekolonisierung dazu beitragen, die Ursachen für heutige Probleme der ehemaligen Kolonien darzustellen“ (7) nachzugehen wäre interessant gewesen, das wird vom Autor aber noch nicht einmal versucht. Dies wäre im Übrigen auch von der Anlage der Untersuchung her unmöglich gewesen: Der Autor analysiert die politischen Strukturen der kleinen, letzten Endes nur einige zehntausend Menschen zählenden Siedlergesellschaften penibel. Dagegen werden die beiden anderen kolonialpolitischen ‚player’, nämlich die Gesellschaft des kolonisierenden Großbritannien einerseits und vor allem die der afrikanischen Mehrheitsgesellschaften andererseits nur oberflächlich behandelt. Daher kann das Buch auch kaum einen seriösen Beitrag zu einer eingangs erwähnten Debatte leisten, nämlich ob es sich bei der Entkolonialisierung um einen von den ‚Mutterländern’ mehr oder weniger planmäßig gesteuerten Prozess handelte oder ob er das Ergebnis des Freiheitskampfes der afrikanischen Völker gewesen war: Die Afrikaner als politisch handelnde Gruppen werden nur gelegentlich und sehr summarisch erwähnt.

Die gemeinsame Behandlung von Kenia, Südrhodesien und Nordrhodesien (nicht aber Njassaland) ist auch deshalb kaum nachvollziehbar, weil der Charakter der jeweiligen Siedlergesellschaften, um die vor allem es dem Autor geht, völlig unterschiedlich war: Während in Kenia, in geringerem Maße in Südrhodesien, die Landwirtschaft im Vordergrund stand und die Siedlergesellschaften mehrheitlich aus Farmern bestanden, die sich längerfristig ansiedeln wollten, handelte es sich bei den Weißen in Nordrhodesien vielfach um Ingenieure und Facharbeiter, die im Kupferbergbau rasch Geld verdienen und nach Europa zurückkehren wollten (285). In Kenia und in Südrhodesien verteidigten die weißen Siedler vor allem den exklusiven Zugriff auf Land, während in Nordrhodesien die Privilegierung der Europäer in der Minenindustrie im Vordergrund stand. Entsprechend stehen die abwechselnd geografisch und chronologisch geordneten Abschnitte des Buches weitgehend unverbunden nebeneinander, was es dem Leser schwer macht, ein Bild der einzelnen Kolonien zu gewinnen.

Für die kleinen Siedlergesellschaften (es ist bei den Zahlen – maximal 200.000 in Südrhodesien bzw. 70.000 jeweils in Kenia und Nordrhodesien – in Rechnung zu stellen, dass nur ein Teil dort dauerhaft lebte) ging es bei den vom Autor liebevoll und detailliert geschilderten politischen Auseinandersetzungen fast ausschließlich um die Frage, wie man als kleine Minderheit die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft gegenüber der afrikanischen Mehrheit sichern könnte. „Liberale“ Strategien der partiellen Einbindung von relativ privilegierten Gruppen standen „konservativen“ (373) Herrschaftsmodellen gegenüber, die sich mehr oder weniger am südafrikanischen Beispiel der Gewaltherrschaft und der Ausgrenzung orientierten. Dass die Siedlergesellschaften keinen einheitlichen politischen Block bildeten, sondern dass es eine starke „politische Binnendifferenzierung“ (367) gab, belegt der Autor mit großem Aufwand – ein Ergebnis, das angesichts der prekären Stellung der Siedler aber kaum überraschen kann. Warum sich in Kenia, Nordrhodesien (und auch Njassaland) letzten Endes jene Fraktionen durchsetzten, die die Vorgaben der britischen Regierungen, für welche die Kolonien politisch und wirtschaftlich zur Belastung geworden waren, nolens volens akzeptierten, während in Südrhodesien die Scharfmacher siegten, wird in der Arbeit leider nicht deutlich. Aber selbst die detaillierten und gut belegten Analysen der politischen Strömungen innerhalb der Siedlergesellschaften, eigentlich eine Stärke des Buches, hängen gewissermaßen in der Luft, weil die entsprechenden politischen Entwicklungen in der afrikanischen Gesellschaft, auf welche die Siedler sich ja beziehen mussten, nur sehr oberflächlich geschildert werden.

So ist der Erkenntnisgewinn des Buches trotz fleißiger Quellenarbeit sehr begrenzt. Immerhin bleibt festzuhalten, dass die britische Kolonialmacht keineswegs von Anfang an – d.h. nach 1945 – einen Kurs der Entkolonialisierung verfolgte. Anhänger von John Maynard Keynes werden mit Unbehagen lesen, dass er 1945 die Regierung Attlee ausdrücklich davor warnte, die Kolonien aufzugeben: Dies sei „erniedrigend“ und würde Großbritannien zu einer Mittelmacht herabstufen (75).

Jörg Goldberg

Demografie und Ökologie

Demografischer Wandel im Spannungsfeld zwischen Globalem und Regionalem, hrsg. von Horst Hesse und Dieter Janke, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Kommunalpolitisches Forum Sachsen, Leipzig 2013 (Diskurs. Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus, Heft 40), 119 S., 7,50 Euro

Dieses Argument kennt jeder: Immer weniger junge erwerbstätige Leute müssen immer mehr Rentner versorgen – die dazu noch immer länger leben. Die politische Konsequenz, die aus dieser Analyse gezogen wird, liegt nahe: Das Rentenniveau soll sinken, die Menschen länger arbeiten und privat vorsorgen.

Dabei ist es paradox, dass dieses allgegenwärtige Gerede über Demografie im umgekehrten Verhältnis zu den Kenntnissen über dieses Thema steht. Die Mainstream-Sicht erweckt den Anschein, dass ein bestimmtes Verhältnis von jungen und alten Bevölkerungsteilen der wesentliche Faktor dafür ist, ob sich ein Staat ein ausreichendes Rentenniveau leisten kann. Dabei werden aber, wie es in dem Vorwort des zu besprechenden Sammelbandes heißt, „grundlegende ökonomische Prozesse, die von Bedeutung sowohl für die Wertschöpfung als auch für die Verteilung und deren Stabilität sind, wie die Produktivität und deren Entwicklung, ignoriert.“ (5) Von marxistischer und linkskeynesianischer Warte wird eben deshalb dieser Gesichtspunkt immer wieder herausgestellt. Völlig zu Recht, so lange diese Sicht nicht ausreichend Eingang in die Öffentlichkeit findet. Norbert Reuter vom ver.di-Bundesvorstand leistet dies in der zu besprechenden Broschüre. Er legt anhand des Produktivitätsfortschritts dar, dass die abnehmende Zahl an Erwerbstätigen durch deren zunehmende Produktivität bei gleichzeitig sinkender Gesamtbevölkerung mehr als wett gemacht werde. Insofern würden sich keine Belege für die These finden lassen, wonach wegen der Alterung der Gesellschaft in Zukunft vieles nicht mehr bezahlbar sei. „Dazu müsste man etwa unterstellen, dass es zukünftig keinen oder nur noch einen minimalen Produktivitätsfortschritt geben würde.“ (39) Für diese Annahme indes sieht Reuter keine vernünftige Begründung.

Man mag ihm hierin spontan zustimmen. Allerdings: Erhöhung der Produktivität ging historisch immer auch mit einer beschleunigten Zunahme des Verbrauchs von Natur einher. Und es gibt wenig Anlass dafür, dass sich das einmal ändern wird – den Optimisten, die von einer Entkoppelung von Wachstum und Naturverbrauch sprechen, zum Trotz. Und sind die Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit unseres Planeten nicht bereits erreicht? Karl Georg Zinn stellt nicht nur diese Frage – mit allen heiklen Konsequenzen, die sich daraus ergeben –, sondern er beantwortet sie auch: Ihm zufolge leben wir bereits in Malthusianischen Zeiten. In einer Situation also, in der zu viele Menschen auf dem Planeten leben. Er veranschaulicht das Problem der „Katastrophenträchtigkeit des ungebremsten demografischen Wachstums“ in einem Bild des schwedischen Nationalökonomen Knut Wicksell: Demzufolge würden mit dem Bevölkerungswachstum zwar immer mehr Löffel an die Menschen verteilt, aber in den Topf mit Brei, aus dem sie schöpften, fließe nichts nach. „Anders gesagt: Der Planet Erde ist unvermehrbar.“ (33)

Man ahnt, worauf die Argumentation hinausläuft. Zinn versteckt sich zwar hinter dem prominenten Gewährsmann John M. Keynes, doch auch er ist dafür, dass das Wachstum der Erdbevölkerung kontrolliert werden müsse. Der Meisterökonom hatte es 1923 in einem Vortrag zum Zusammenhang zwischen Wohlstand, Bevölkerungsgröße und begrenzten Naturressourcen so formuliert: Er hielte es für einen Fortschritt, wenn die Menschheit eine bewusste Begrenzung ihres zahlenmäßigen Wachstums erreichen würde. (33) Die Ein-Kind-Politik der chinesischen Kommunisten kommt insofern bei Zinn gut an. Doch so zwingend die Argumentation von ihm auch ist, es widerstrebt, sie in ihrer Konsequenz nachzuvollziehen. Schließlich landet man dann bei autoritären Bevölkerungspolitiken. Andererseits ist auch klar: Wenn die Linke sich dieser Fragen nicht annimmt, so wie sie es in der Vergangenheit getan hat,1 wird eine Leerstelle bleiben.

Zinn selbst deutet die Richtung des Auswegs nur an. „Das durch die Bevölkerungsexplosion geschaffene Katastrophenpotential“, schreibt er, „kann weder durch den sogenannten technischen Fortschritt noch durch forcierte Wachstumsbemühungen bewältigt werden, ohne dass zugleich systemische Reformen erfolgen.“ (32) Denn der technische Fortschritt und das Wachstum würden unter den bestehenden Produktionsverhältnissen darauf hinwirken, dass die Fehlentwicklungen weitergehen. Andere Produktionsverhältnisse – darauf käme es mithin an.2

Zinns Beitrag ist mit Abstand der kontroverseste und interessanteste der Publikation. Doch auch die weiteren über die Auswirkungen des demografischen Wandels auf ostdeutsche Wirtschaftsstrukturen und die Daseinsvorsorge (Joachim Ragnitz), auf die Generation zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr (Wolfgang Kühn) sowie auf die Frauenerwerbstätigkeit (Cornelia Heintze) sind lesenswert. Bemerkenswert ist auch, dass ein Wissenschaftler des ifo-Instituts, dem ein gewisser Hans-Werner Sinn vorsteht, für eine Publikation einen Beitrag beisteuert, die zu einer Reihe gehört, die den Titel „Streitschriften zu Geschichte und Politik des Sozialismus“ trägt.

Guido Speckmann

EU – Krise ohne Ende?

Leo Mayer/Fred Schmid, Die Krise und die Spaltung Europas/Europa am Scheideweg, isw-Report Nr. 95, München 2013, 39 S., 3,50 Euro

Mit der Lissabon-Strategie verkündete die Europäische Kommission 2000 das ehrgeizige Ziel, Europa als „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu etablieren, um mit den USA und Südostasien bestehen zu können. Ein Scheitern wurde schnell ersichtlich: Eine neue Wirtschaftsdynamik, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und mehr sozialer Schutz blieben aus.1 Schlagworte wie „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ (EU-Gipfel 2010) wirken beim gegenwärtigen Zustand der EU – „einer Karikatur dieser Prognose“ (3) – geradezu zynisch. Statt Dynamik und Wachstum sind dauerhafte Krise, Stagnation und Schrumpfung zu konstatieren. Längst ist aus einer Wirtschafts- eine Integrationskrise2 geworden. Durch die „Austerity Peitsche der Troika“ (Schmid) driften die Kern- und Peripherieländer Europas weiter auseinander, in den einzelnen Ländern spaltet eine Kluft die Fraktionen von Kapital und Arbeit.

In seinem Beitrag „Krise und Spaltung Europas“ bescheinigt Fred Schmid EZB-Chef Draghi, der sich in der Exportüberschussdiskussion für eine Orientierung der Wettbewerbsfähigkeit am „Musterschüler“ Deutschland ausgesprochen hat, „wirtschaftspolitische Ignoranz“ (3). Wie soll eine solche Maßgabe von Krisen-Staaten bei radikalen Einsparungen im Bildungsbereich und Tabula Rasa bei Infrastruktur erfüllt werden? Zudem exportieren Deutschland und die Staaten des „neo-merkantilistischen Blocks“ (Becker) die Krise und Arbeitslosigkeit in die Peripherieländer. Es sei auch unmöglich, „dass gleichzeitig alle Staaten mehr exportieren als importieren“(3). Und wo sind neue Absatzmärkte vor dem Hintergrund eines gesättigten „reale(n) Weltmarkt(es) als Summe der nationalen Teilmärkte“ zu entdecken? Das gegenwärtige Bemühen der Peripheriestaaten um Wettbewerbsfähigkeit birgt weiteres Krisenpotential, denn „Lohn- und Sozialabsenkungen dezimieren […] die Massenkaufkraft […] und verstärken die Rezession“ (4).

Ein BIP zwischen Rezession und Stagnation, Pleitenrekorde im Süden und eine verstärkte De-Indu-strialisierung sind Indikatoren für den ökonomischen und sozialen Zustand Europas, den Schmid im Hinblick auf Armut und Arbeitslosigkeit analysiert (4-15). Schmid verbleibt nicht auf einer (makro-)ökonomischen Ebene, sondern bezieht die Folgen der Krise für die Menschen Europas ein. Besonders alarmierend ist hier die Jugendarbeitslosigkeit, in 11 EU-Ländern liegt sie über 25 Prozent – in den Peripherieländern offenbart sich eine „gesellschaftliche Tragödie“ (7). Deklassierung und Exkludierung sind Dimensionen der menschenunwürdigen Hartz-IV-Regelungen, eine solche Agenda wird den südeuropäischen Staaten als „Gesundungsrezept“ (8) aufoktroyiert. Das gestiegene Risiko sozialer Unruhen (ILO) verwundert nicht.3 Es ist zu Abwärtsspiralen bei Löhnen und Haushaltseinkommen in zwei Drittel der EU-Staaten gekommen – die Peripherie-Staaten befinden sich in einem Teufelskreis von Schulden und Zinsen (14). Den „Verlierern“ stellt Schmid die „Gewinner“ (Deutscher Staat, Banken, Konzerne, Geldreiche) gegenüber. Sie profitieren aufgrund der Niedrigzinsen, während in den Peripherieländern zeitweilig mindestens fünf Prozent an Zinsen gezahlt werden mussten (17). Es wird gnadenlos am „Elend“ profitiert, wie die Integration von „produktiven Inseln“ (6) in die globalen Wertschöpfungsketten transnationaler Konzerne zeigt. Auch die Arbeitsplatzmisere in den Krisenländern wird von deutschen Unternehmen auf der Suche nach Fachkräften profitmaximierend verwertet (9).

Der gegenwärtig vorangetriebene „autoritäre Wettbewerbsetatismus“ (Oberndorfer) der EU – Schmid spricht von einer „ultraneoliberalen Zurichtung Europas“ (21) – wird sogar als „Vertiefung der europäischen Union“ (24) verkauft. Angestrebt ist eine „marktkonforme Demokratie“ (21), eine „bürgerliche Demokratie“4, die eine von störenden Eingriffen der Demokratie befreite Ökonomie garantiert. Dieser „Einheitsmarktstaat“ (24) tritt dann auf die Weltbühne und „soll in der Welt [...] die Herausforderung mit der Noch-Supermacht USA und der neuen ökonomischen Weltmacht China aufnehmen“ (24). Der Kreis schließt sich: Bei Neoliberalen das immer gleiche Mantra der Wettbewerbsfähigkeit und ein immer gleiches Rezept: „Erhöhung bzw. Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit durch Sparen bei Löhnen, Sozial- und Bildungsausgaben“ (3), Schmid prognostiziert „eine Krise ohne Ende“ (4).

Leo Mayer sieht Europa am „Scheideweg“. In seiner zivilgesellschaftlichen Analyse bildet die „Post-Maastricht-Krise“ (Deppe) den Ausgangspunkt. Die Krise der Eurozone ist im Kern eine politische Krise; ein nötiger Sprung zur Demokratisierung – als Alternative zur Desintegration – „wird durch die auf Wettbewerb basierende neoliberale Konstruktion von EU und Eurozone blockiert“ (25). Eine Umdeutung der Finanz- und Bankenkrise in eine ‚Euro-Krise‘ und Staatsschuldenkrise seitens der Herrschenden ermöglichte mit Austeritätspolitik auf die Krise zu reagieren. Das war keine Lösung, aber diese Politik ermöglichte „die Durchsetzung von alten Forderungen der Kapitalseite“ (25). Die Folgen der Euro-Einführung (Deregulierung von Arbeit, Niedriglohnsektor etc.) sind „aber nicht „Konstruktionsfehler“ der Eurozone, sondern Elemente eines neoliberalen Projektes, das Europa in den globalen Kapitalismus eingliedert und sich die Zerschlagung des „Sozialstaates“ zum Ziel gesetzt hat“ (26). Mayer skizziert ein Szenario von sinkender Zustimmung und zunehmender Integration. So würden einerseits seit Krisenausbruch Kompetenzen an den Europäischen Rat und die Kommission zur Kontrolle der nationalen Staatshaushalte, der Tarif- und Sozialpolitik übertragen (26). Andererseits befindet sich, so der Autor, das (neoliberale) Europäische Projekt in einer Hegemoniekrise (27), latente Konflikte sind offen aufgebrochen: innerhalb des herrschenden Blocks und zwischen ihm und den untergeordneten Klassen. Die Troika ist uneins, vor allem der harte Sparkurs der deutschen Regierung führt zu Kontroversen (28). Auch vor dem Hintergrund einer deutlichen Machtverschiebung zugunsten Deutschlands (32) verschärft sich die Debatte innerhalb der EU um Wege aus der Krise. Mayer spricht sich „für einen progressiven Weg aus der Krise“ (33) aus und erteilt in diesem Kontext den Positionen eines Euro-Austritts von links (Flassbeck und Lafontaine) eine deutlich Absage (33f.) Er plädiert für eine „Europaweite Front für ein solidarisches Europa“ (37), diskutiert anhand von Vorschlägen (EuroMemorandum, DGB, EGB, EL) ein mögliches Programm, stellt aber klar: „Das Hauptproblem ist nicht das Programm selbst; es ist die Kraft, die es endlich in Gang setzen könnte.“ (39)

Innerhalb der linken Debatte sind die Autoren der Richtung zuzurechnen, die gegen einen „Euro-Austritt“ von Krisenstaaten argumentiert.5 Leider fehlt eine dezidierte Auseinandersetzung mit „Osteuropa“ im Kontext neoliberaler Wettbewerbslogik. Vor allem die Folgen der Osterweiterung für die Südstaaten wäre zu thematisieren.6 Der Report ist sehr informativ: Zwei inhaltlich aufeinander abgestimmte Teile mit viel Zahlenmaterial verschaffen einen guten Überblick über die gegenwärtige Lage der EU und regen zur Diskussion (gerade auch innerhalb der Linken) an.

Patrick Ölkrug

Kämpfe um Hegemonie im „Staatsprojekt Europa“

Sonja Buckel, „Welcome to Europe“ – Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts. Juridische Auseinandersetzungen um das „Staatsprojekt Europa“, transcript, Bielefeld 2013, 369 S., 33,80 Euro

Forschungsgruppe „Staatsprojekt Europa“ (Hg.), Kämpfe um Migrationspolitik. Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung, transcript, Bielefeld 2014, 304 S., 24,99 Euro

Die vorliegenden Bände bündeln zentrale Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in den Jahren 2009 bis 2013 geförderten gesellschafts- und herrschaftskritischen Projekts „Die Transnationalisierung des Staates im Prozess der Entstehung einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik“. Sie sind in ihrer Forschung und Entstehung eng miteinander verknüpft und wurden federführend von Sonja Buckel, die damit zugleich ihre überarbeitete Habilitationsschrift veröffentlicht, John Kannankulam und Jens Wissel vorangetrieben.

Beide Veröffentlichungen sind gelungene Beispiele kritisch-materialistischer Forschung. Sie verknüpfen Staats- und Rechtstheorie mit empirischer Forschung und unterfüttern dies diskurstheoretisch. Es handelt sich nicht um Interpretations-, sondern um intensiv betriebene empirisch-analytische Arbeiten. Insbesondere das methodische Vorgehen des Projekts springt ins Auge, hat wegweisenden Charakter und soll deshalb näher beleuchtet werden.

Ausgangspunkt für Buckels Arbeit ist die Auffassung des „genuin politischen Charakter[s] jeder rechtlichen Auseinandersetzung“. Solche Auseinandersetzungen erscheinen dem juristischen Laien „als rein rechtstechnische Vorgänge“ erscheinen, da die politischen Kämpfe hinter den vielfach „unverständlichen Rechtsfiguren“ verschwinden (12). Buckel unternimmt den Versuch, „eine eigene Forschungsperspektive zu entwickeln, um die Kämpfe um Hegemonie nachvollziehbar zu machen und zu zeigen, wie die späteren Rechtsfiguren als Ergebnisse ebendieser Kämpfe entstehen“ (12f.). Untersuchungsgegenstand ist das „im Entstehen befindliche europäische Migrationsrecht“. Buckels Wahl ist plausibel begründet, „überkreuzen“ sich hier doch „verschiedene Herrschaftsachsen und Strukturprinzipien kapitalistischer Gesellschaften“, konkret „das Nord-Süd-Verhältnis, Staat, Nation und damit Ethnizität, Klasse und Geschlecht“ (13). Als weiteres Argument führt die Autorin an, dass der Prozess der Europäischen Integration einen „widersprüchlichen Staatswerdungsprozess“ darstellt, der gerade in der derzeitigen Krisenkonstellation „große Dynamik entfaltet“. Die Analyse der Migrationspolitik ermögliche die Untersuchung dieser Staatswerdung, weil sich in ihr „staatliche Tätigkeiten wie in einem Brennglas verdichten“ (ebd.).

Buckel arbeitet entlang zweier Fallstudien. Zuerst konzentriert sie sich auf die „umstrittene Konstruktion eines europäischen Sozialstaates“, die „trotz fehlender Europäisierung der Sozialpolitik“ (14) vonstatten geht. Dies wird dargestellt anhand der Untersuchung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (13). Die Auseinandersetzungen „um eine Verrechtlichung der südlichen europäischen Seegrenze“ (14) sind Gegenstand des zweiten Falles. Im ersten Fall wird exemplarisch „die Konstitution eines europäischen Inneren“ und im zweiten Fall „die Produktion des Außen“ (ebd.) nachvollzogen. Den Fallstudien vorausgeschickt ist ein theoretischer Teil zum Themenkomplex „Hegemonie – Recht – Staat“, in dem grundlegende, an marxistische Theorien und Erkenntnisse anschließende Definitionen geliefert werden. Es folgt ein Überblicks-Kapitel zur „Europäisierung der Migrationskontrolle“, an das sich eine Darlegung der empirischen Vorgehensweise anschließt.

Die zugrunde liegenden methodischen Überlegungen, vor allem in der Frage, wie Kämpfe um Hegemonie und Hegemonie selbst empirisch zu untersuchen sind, sind Resultat eines „kollektiven Erkenntnisprozess(es)“ (17), der insbesondere in dem Sammelband offen gelegt wird. Zentral ist hier das neogramscianische Konzept der Hegemonieprojekte, das von der Forschungsgruppe „aufgegriffen und erweitert“ (19) wurde. Demnach werden Hegemonieprojekte verstanden als „Verkettung einer Vielzahl unterschiedlicher Taktiken und Strategien, mittels derer Myriaden von Akteur*innen versuchen, ihre partikularen Interesse in allgemeine zu transformieren, um hegemonial zu werden“ (ebd.). Es lassen sich „Strategien, die jeweils der gleichen Rationalität folgen, […] in Hegemonieprojekten bündeln“. Dabei müsse betont werden, dass diese Projekte „begriffliche Konstruktionen“ (ebd.) darstellen. Diese Strategien seien durchaus Resultat bewusster Handlungen, aber auf Grund der „gesellschaftliche[n] Komplexität“ und der Vielzahl von Akteuren, sei „der Gesamteffekt dieser Strategien von den Einzelnen nicht mehr kontrollierbar“ (ebd.). Im Prozess der „Zurechnung der strategischen Praxen“ zu einzelnen AkteurInnen und Gruppierungen findet eine „begriffliche Konstruktionsleistung“ statt, die keine kausalen Verbindungen herstellen kann, sondern auf Basis von „Plausibilitäten“ arbeitet (ebd.). Nach Auswertung bereits vorliegender neogramscianischer Analysen und eigenen „exemplarischen Sozialstrukturanalysen“ der BRD, Großbritanniens und Spaniens (22) identifiziert die Forschungsgruppe je ein neoliberales, national-soziales, proeuropäisch-soziales, konservatives sowie linksliberal-alternatives Hegemonieprojekt (22-29).

Der Sammelband ist das Resultat der kollektiven Arbeit junger NachwuchswissenschaftlerInnen. Der erste Teil stellt die „Prämissen, Fragestellungen und Methoden“ der Forschungsarbeit vor. Als zentrale Herausforderung geht es um die Operationalisierung der Forschungsergebnisse „historisch-materialistischer Forschung“ im Hinblick auf „empirische und gegenstandsbezogene“ Arbeiten (9). In Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zur Mainstream-Governance-Forschung entwickeln die AutorInnen eine „historisch-materialistische […] Politikanalyse“, die sie ihren Untersuchungen zur europäischen Migrations- und Grenzpolitik zugrunde legen. Es folgen drei Länderstudien. Im Mittelpunkt stehen „das Wechselverhältnis zwischen den nationalstaatlichen Kämpfen um Migrationspolitik und deren Implikationen für das europäische Grenzregime“ (ebd.). In weiteren Beiträgen werden Frontex, Dublin II, die Verknüpfung von Migrations- und Arbeitskraftpolitik sowie Care-Arbeitsverhältnisse in Spanien behandelt. Abgerundet wird der Band mit einem bilanzierenden Beitrag, der auch die Situation in der aktuellen Krisenkonstellation beleuchtet. Die Forschungsgruppe ist der Auffassung, dass ihr Ansatz „in vielfältigen Forschungsfeldern inspirieren kann“ – genannt werden die Klima-, Gesundheits-, Währungs- und Sozialpolitik (256).

Die Lektüre der detailreichen Studien erfordert Geduld und den Mut, sich vor allem mit den rechtlichen Zusammenhängen der EU zu beschäftigen. Das Vorgehen wird transparent erläutert, eingenommene Positionierungen und getroffene Entscheidungen werden nachvollziehbar begründet. Die Bände liefern nützliche Argumente in der Auseinandersetzung um den Zustand und die Zukunft der EU, weit über die hier geschilderte Migrationspolitik hinaus. Sie bieten – das ist ihr zentraler Wert – wichtige Anregungen für die Debatte um eine geeignete Methodik kritischer Forschung.

Sebastian Klauke

1 Machiavelli, Der Fürst [1513], Leipzig 1976, S. 69, 96, 103.

2 Machiavelli, Discorsi [1514-1520], Stuttgart 2007, S. 37.

3 Machiavelli, Gesammelte Schriften, Bd. 4, München 1925

4 Friedrich der Große, Der Antimachiavell [1739], Jena 1922, S. 94; vgl. Deppe, Der Antimachiavell des Friedrich II., in: Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Hamburg I/2013.

5 So: Herfried Münkler, Geleitwort, in: Machiavelli, Discorsi, Stuttgart 2007, S. XX; dagegen: Volker Reinhardt, Machiavelli, München 2012, S. 373.

6 Antonio Gramsci, Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S. 251-262.

1 Urban, Die Rückkehr der Kapitalismuskritik, in: Neues Deutschland v. 25. 11. 2013.

2 Siehe Tim Engartner, Der große Postraub – Die Privatisierung der Bundespost und ihre Folgen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2014.

3 Harald Werner, Wie die Gedanken in die Köpfe der Menschen kommen, Köln 2013.

1 Vgl. zum Verhältnis von Marx und Malthus auch Wolfgang Weiss, Zwischen Marx und Malthus. Die Scheu der Linken vor der Demographie, in Utopie kreativ, H. 159 (Januar 2004), S. 42-53.

2 Zu erinnern ist auch an das Buch „Kommunismus ohne Wachstum“ des marxistischen Philosophen Wolfgang Harich. Er bezog sich positiv, wenngleich differenziert, auf Malthus, redete einem autoritär-asketischen Verteilungsstaat das Wort, wovon er sich später wieder distanzierte. Gleichzeitig nannte er den Kommunismus als Voraussetzung dafür, die ökologischen Krisen in den Griff zu bekommen.

1 Vgl. Martin Beckmann, Frank Deppe, Mathis Heinrich, In schlechter Verfassung? Ursachen und Konsequenzen der EU-Verfassungskrise, in: Prokla, Jg. 36 (2006), H. 144, S. 307-324.

2 Joachim Becker, EU: Von der Wirtschafts- zur Integrationskrise, Z 85 (März 2011), S. 10-31.

3 Hierzu: Frank Deppe, Neue Periode sozialer Unruhe?, Z 96 (Dezember 2013), S. 8-19.

4 Zur Unterscheidung „bürgerliche“ – „soziale“ Demokratie: David Salomon, Demokratie, Köln 2012, S. 10-17.

5 Übersicht der Debatte: Jürgen Leibinger, Das Euro-Projekt: Geschichte und linke Kritik, Z 93 (März 2013), hier: S. 88-94.

6 Vgl. Andreas Wehr, Die Europäische Union, Köln 2012, S. 73 ff.