Buchbesprechungen

Klassen und Klassentheorie in der aktuellen Debatte

von Dieter Boris zu Hans Günter Thien
Dezember 2010

Hans Günter Thien (Hrsg.), Klassen im Postfordismus, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, 2010, 381 S., 29,90 Euro

Im Kontext einer sich augenblicklich wieder entfaltenden Diskussion um Klassen, Klassentheorie und Klassenanalyse unter den gegenwärtigen kapitalistischen Bedingungen kommt der anzuzeigende Band gerade zur rechten Zeit. Nach einer kurzen Einführung des Herausgebers, die einige Stationen der Klassendiskussion der letzten 15 Jahre resümiert, wird das Buch in drei Hauptteile gegliedert. Erstens, Erinnerungen an die klassentheoretische Diskussion, der Beiträge von U. Becker, D. Lockwood und V. Chaturvedi enthält, zweitens „Klassen heute“, wobei hier generelle und spezifische Aspekte der aktuellen Klassendiskussion (K. Dörre), die Gender-Klasse-Beziehungen (A. Bührmann), die ethnische Dimension von Klassenbeziehungen (C. Türkmen), die aktuellen Prekarisierungstendenzen (H. Steinert) und schließlich die Thematik der „Bourgeoisie heute“ (H. Wienold) behandelt werden. Der dritte Teil, der mit „Transnationales“ überschrieben ist, enthält Beiträge über die „Transnationalisierung der Klassenverhältnisse“ (J. Hirsch/J. Wissel), über „Klassenstrukturen in Europa“ (M. Koch), über „Arbeiterbewegung in einer globalisierten Welt“ (S. Schmalz/J. Schulten/F. Wenten) und über eine neu zu bestimmende „Welt-Arbeiterklasse“ (M. van der Linden). Aus der Fülle der allesamt interessanten und informativen Artikel sei auf einige etwas genauer verwiesen.

K. Dörre versucht mittels einer bestimmten Lesart des Konzepts der „Landnahme“ (als innerer und äußerer Expansion der kapitalistischen Produktionsweise) und der Kategorie der „sekundären Ausbeutung“ (Formen von Überausbeutung aufgrund von Geschlechter- oder ethnischen Zuordnungen) die besonderen De- und Restrukturierungen der Klassenverhältnisse unter der Dominanz des Finanzmarktkapitalismus zu verstehen. Die – gegenüber der fordistischen Periode – neuen sozialen Spaltungslinien haben mit der Finanzialisierung, Flexibilisierung und Prekarisierung wieder deutliche Tendenzen zu einer „stärker polarisierten Klassengesellschaft“ (131ff.) eingeleitet. Vor diesem Hintergrund werden die Momente der Kontinuität und vor allem der Diskontinuität in einzelnen Dimensionen der Sozialstruktur (herrschende Klasse, Arbeiter, „soziale Mitte“, Subproletariat) skizziert, wobei er m. E. zu Recht die These plausibel entfaltet, wonach „Prekarisierung … nur die Kehrseite funktionierender finanzkapitalistischer Akkumulation (ist)“ (141). Daraus zieht der Autor den Schluss, dass sich eine erneuerte Klassenanalyse vor allem auf die Zunahme nicht-normierter Konflikte (sowohl integrierter, aber bedrohter Gruppen wie auch auf die desintegrierter Gruppen der abhängig Arbeitenden) konzentrieren muss.

In seinem Beitrag „Die Gegenwart der Bourgeoisie. Umrisse einer Klasse“ (235-283) analysiert H. Wienold zunächst die konzeptionellen Grundlagen dessen, was unter Bourgeoisie zu verstehen sei, dann aktuelle empirische Daten über Größe, Differenzierung und Fraktionen der Bourgeoisie in Deutschland, ihre nationale und transnationale Organisierung, ihre Sozialisations- und Rekrutierungsmechanismen und richtet dann sein besonderes Augenmerk auf das spezifische Profil der „Bourgeoisie im Neoliberalismus“ (263ff.). Dieses sieht er vor allem im Auftreten neuer „Akteure des Finanzkapitals“ (Investitionsfonds, Pensionsfonds, Versicherungen), die auf dem enorm ausgeweiteten Feld des Aktienhandels, der Unternehmensübernahmen, der Verbriefung von Krediten, dem Derivategeschäft einen gleitenden Übergang zu einer nahezu unbegrenzten Spekulation bilden. Mit alledem gewinnen diese Teile der herrschenden Klasse eine erhöhte „systemische Macht“ auf grundlegende politische Entscheidungen. Die abschließenden Bemerkungen zum Diskussionsstand bezüglich des Themas „transnationale Bourgeoisie“ bilden zugleich die Überleitung zum dritten Themenblock des Bandes.

In ihrem Beitrag über „Transnationalisierung der Klassenverhältnisse“ setzen sich J. Hirsch und J. Wissel kritisch mit der These auseinander, dass infolge von fortgeschrittener ökonomischer Internationalisierung und Tendenzen der Internationalisierung von Staatlichkeit auch schon eine „transnationale Bourgeoisie“ entstanden sei. So überzeugend ihre Argumente hierbei sind, so wenig klar und nachvollziehbar scheint mir ihr Versuch, den Grad bzw. die Qualität von Transnationalisierung des Kapitals als international herrschender Klasse mittels Rückgriff auf eine Neuinterpretation des poulantzianischen Begriffs der „inneren Bourgeoisie“ und eines gramscianisch inspirierten „transnationalen Blocks an der Macht“ gelungen zu sein. (Passagen wie diese wirken m. E. nicht besonders erhellend: „Die inneren Beziehungen dieser neuen inneren Bourgeoisien verlaufen über das in ihnen eingelagerte transnationalisierte Kapital.“ 299). Auch die Frage, ob es infolge der aktuellen Weltwirtschaftskrise zu einer Re-Nationalisierung der Politik oder zu einer weiteren Verstärkung „staatsförmiger Institutionen auf inter- und supranationaler Ebene“ (305) kommen wird, beantworten die beiden Autoren mit einem konsequenten „sowohl als auch“. In dem nachfolgenden Artikel von M. Koch über „Klassenstrukturen in Europa“ wird trotz mangelhafter statistischer Grundlagen versucht, die nationalstaatlichen Sozialstrukturen auf Angleichungs- und Differenzierungstendenzen zu untersuchen. Während in Bezug auf die „Entstandardisierung der Lohnarbeit“ und die Polarisierung von Reichtum und Armut in praktisch allen europäischen Ländern (gleichgültig ob in West- oder Osteuropa) gleich gerichtete Verlaufsformen zu konstatieren sind, waren die Tendenzen in Bezug auf Fortsetzung der Proletarisierungsprozesse oder die Entwicklung der Selbständigen oder auch in Bezug auf sektorspezifische Gegebenheiten durchaus entgegen gesetzte Entwicklungen, je nach Ländergruppe, zu beobachten.

Der Beitrag von Schmalz/Schulten/ Wenten konzentriert sich auf die kritische Überprüfung des Ansatzes der US-amerikanischen Soziologin Beverly Silvers, „der die Entwicklung der globalen Arbeiterbewegungen aus der Perspektive des Weltsystems analysiert“ (337). Die Autoren sehen in ihm eine wichtige Erklärungsvariante der globalen Dynamik von Arbeitskämpfen, konstatieren aber zugleich gewisse Verkürzungen, die sie insbesondere in der These Silvers über die eingeschränkte Bedeutung unterschiedlicher politischer und kultureller Milieus, in denen sich Arbeiterbewegungen entfalten, sehen. An den Beispielen Argentiniens, Mexikos und Chinas zeigen sie anhand kurzer Fallstudien, „dass Proteste keineswegs automatisch stattfinden und auch nicht zwangsläufig in schlagkräftige Arbeiterbewegungen münden.“ (352).

Im letzten Beitrag von Marcel van der Linden („Plädoyer für eine historische Neubestimmung der Welt-Arbeiterklasse“) vertritt der Autor die These, dass der ursprüngliche Marxsche Begriff der „Arbeiterklasse“ zu eng sei und nicht verabsolutiert werden dürfe. Gerade unter historischen und globalisierungskritischen Gesichtspunkten müsse ein breiteres Konzept von „Arbeiterklasse“ zugrunde gelegt werden, welches auch formell selbständige und persönlich unfrei Arbeitende, die im Gegensatz zum Kapital bzw. einem sie ausbeutenden Kapitaleigentümer stehen, umfasst. Die Übergangsformen zwischen den verschiedenen Kategorien seien häufig fließend und nicht selten „gehören fast alle subalternen Arbeiter zu Haushalten, die mehrere Arbeitsweisen kombinieren“ (373), sogar in einer Person können verschiedene Arten subalterner, d.h. heteronom bestimmter Arbeitsweisen vereint sein. Zur inneren Differenzierung subalterner Klassen möchte van der Linden zu den bislang üblichen Kriterien noch weitere Dimensionen (z.B. die Beziehungen der Arbeitenden zu anderen Mitgliedern des Haushalts) hinzunehmen. Die Frage, welche Vorzüge dieser Vorschlag für die Erklärung differierender Bewusstseinsinhalte unterschiedlicher subalterner Arbeiter und für ein eventuelles gemeinsames Klassenhandeln bzw. dessen Unterlassen hat, wird allerdings nicht eigens thematisiert.

Der insgesamt gelungene Sammelband bietet einen gerafften Überblick über die aktuelle Debatte über Klassen vor allem im deutschsprachigen Raum, der ältere Beiträge, eher konventionelle Ansätze und innovative Vorstöße – sowohl in konzeptioneller wie empirischer Hinsicht – vereint. Dabei liegt der Akzent in den meisten Beiträgen auf den eher „objektiven“ Klassenunterscheidungen; ein Nachfolgeband, der stärker die Formen und die Diversität aktiver Klassenartikulation, das Bewusstsein der Akteure und das konkrete Klassenhandeln thematisiert, wäre zu wünschen.

Dieter Boris