1 Zur Fragestellung
Nachgedacht über die Rolle der Musik und ihre Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft wurde bereits vor zweieinhalb Jahrtausenden, ob in der griechischen antiken Philosophie u.a. von Platon oder im alten China von Konfuzius. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte Max Weber in der von ihm begründeten Musiksoziologie (Weber 1921) das Verhältnis von Musik und Gesellschaft zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, wobei er die Besonderheiten des abendländischen Entwicklungsweges mit dem Begriff der ‚Rationalisierung’ zu fassen versuchte, worin er auch die Quintessenz für die Herausbildung des in Europa entstandenen Kapitalismus sah. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es dann vor allem die musiksoziologischen Arbeiten von Theodor W. Adorno (vgl. z.B. Adorno 1968), in denen die Thematik im Licht der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule erörtert wurde. Zeitlich um einiges später publizierte 1984 in der DDR Christian Kaden sein Buch „Musiksoziologie“, das sich empirisch u.a. auch auf musikethnologische Einzelstudien stützte und theoretisch-konzeptionell eine Orientierung an Theoremen von Karl Marx durch Bezugnahmen auf Systemtheorie und Kybernetik aktualisierte, wie sie etwa durch Georg Klaus in die Diskussion in der DDR eingebracht worden waren.
Die für den Schwerpunkt dieses Heftes gewählte, weit gespannte Frage nach dem Verhältnis von Musik und (bzw. in) Gesellschaft, wie Hanns-Werner Heister (Stroh/Mayer 2000, 349) vorschlug, impliziert eine Fülle von Einzelfragen. Aus Sicht einer an der marxistischen Denktradition orientierten, vor allem sozialwissenschaftlichen, aber auch allgemein philosophischen Theoriebildung und Empirie geht es u.a. um Teilfragen wie: Was ist überhaupt Musik? Was sind ihre Funktionen? Wie prägen sich soziale Verhältnisse in Musik aus? Wie sind die Mechanismen der Wirkungen von Musik beschaffen? Welche Besonderheiten weist die Musik in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft auf? Zu fragen wäre etwa nach der gesellschaftlichen Bedeutung bestimmter Bereiche und Formen von Musik (von Klassik bis Jazz, Rock- oder Pop-Musik). Interessant könnten auch Fallstudien sein, etwa zu gesellschaftlich einflussreichen Komponisten wie beispielsweise Richard Wagner (vgl. z.B. Kaden 1993 oder Rienäcker 2001), oder Einschätzungen zur Neuen Musik. Eine materialistische Musik- und Kunstauffassung wird nicht zuletzt auch die Beiträge von Hanns Eisler und Bertolt Brecht zu befragen haben. Aus dem Umfeld der DDR-Musikwissenschaft wären – über Christian Kaden und Gerd Rienäcker hinaus – vor allem auch Arbeiten von Georg Knepler und Günter Mayer zu nennen.
2 Eine Bestandsaufnahme zur marxistischen Musikforschung
Vom 5. bis 7. November 1999 fand an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg eine internationale, schwerpunktmäßig deutsch-deutsch besetzte Tagung statt unter dem Titel „Musikwissenschaftlicher Paradigmenwechsel? Zum Stellenwert marxistischer Ansätze in der Musikforschung“, vorbereitet von zwei Musikwissenschaftlern, von Günter Mayer aus der DDR, und von Wolfgang Martin Stroh von der Universität Oldenburg. Die hier debattierten Fragen sind im Wesentlichen immer noch relevant.
In seinem Einstiegsbeitrag (Stroh/Mayer 2000, 15ff) charakterisierte Günter Mayer die Teilnehmenden (von denen einige auch im vorliegenden Heft vertreten sind) als politisch ‚links’ engagiert, d.h. auf eingreifend-alternatives Handeln und auf soziale Veränderungen im Sinne allgemeiner menschlicher Emanzipation bezogen. Inspiriert durch die Entdeckung der materialistischen Dialektik seien viele angeregt worden, auch nach der sozialen Funktion der Musik in Geschichte und Gegenwart zu fragen, und dies anders als in den „bürgerlichen Institutionen bzw. in den von Dogmatikern beherrschten Institutionen sozialistischer Länder[n]“ gedacht und gelehrt wurde. Dieses Erbe reiche zurück bis in die 1920er Jahre; und viele seien nicht zuletzt z.B. durch Hanns Eisler zu Marx gekommen.[1]
In seinen Thesen zur Tagungsvorbereitung (ebd. 367ff) finden sich einige knappe Hinweise zur Geschichte der marxistischen Musikforschung: Erste wissenschaftliche Ansätze, Marx’ analytische Methode auf die Musik als sozialhistorisches Phänomen anzuwenden, auf ihre Entwicklung „als Reflex und Agens der gesellschaftlichen Widerspruchsbewegung“, habe es seit den 1920er Jahren in der Sowjetunion und in kapitalistischen Ländern mit starker Arbeiterbewegung und breiten, revolutionär orientierten musikalischen Aktivitäten gegeben. Dieser Paradigmenwechsel habe zu neuen Fragestellungen und zu Ergebnissen einer vor allem soziologisch orientierten Musikforschung geführt, aber auch zu einer neuen Musikästhetik, all dies wesentlich außerhalb der akademischen Musikwissenschaft. Dadurch wurden, insbesondere auch durch den „systemtheoretischen Begriff der historischen Gesellschaftsformation“, herkömmliche Kategorien abgelöst und eine neue Sicht auf Musik und Musikentwicklung „als eines geschichtlich sich ausdifferenzierenden Teilsystems des sozialhistorischen Gesamtzusammenhangs“ ermöglicht. Dies habe zur Erweiterung des Musikbegriffs beigetragen und zum tieferen Begreifen der „Relationen zwischen Musik und sozialer Wirklichkeit“, der Musikkultur und der Wechselbeziehungen der Teilsysteme von Komposition/Produktion über Interpretation, Distribution, Austausch bis zur Rezeption/Aneignung (ebd. 368). Der um 1930 durch Marxisten begonnene „Paradigmenwechsel“ habe einen methodologischen Fortschritt in die Musikforschung insgesamt eingebracht.
Kritisiert worden sei zugleich von Anfang an die zunächst überbetonte historisch-soziologische Orientierung, eine Überpolitisierung musikalischer Phänomene, die vulgärmaterialistischen Ableitungen und ein mechanistisch-deterministisches Denken, anstatt den relativ eigengesetzlichen Prozessen musikalischer Entwicklung hinreichend Rechnung zu tragen, „der Vermittlung ihrer ästhetischen Eigenart mit den ökonomischen, sozialen, politischen, ideologischen, kulturellen Widerspruchsbewegungen im jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang.“ (Ebd. 369) Der damals begonnene internationale Diskurs wurde, so Mayer, unterbrochen „durch den Sieg des Faschismus in Deutschland“ und „durch den stalinistischen Dogmatismus in der Sowjetunion“ bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein, nach dem 2. Weltkrieg dann aber reaktiviert und weiterentwickelt. Seit den 1960er Jahren sei die dogmatische Erstarrung und Vereinseitigung nicht zuletzt durch neue Entwicklungen in der Gesellschaftstheorie, der Psychologie oder der Semiotik zurückgedrängt worden, insbesondere dann in den 1970er und 1980er Jahren, als auch die Popularmusik in den Focus trat, was zuvor schon in der Musikethnologie selbstverständlich gewesen war (ebd. 370). Ähnliche Entwicklungsprozesse vollzogen sich relativ selbständig insbesondere im Gefolge von 1968 in den kapitalistischen Ländern vor allem Westeuropas, aber auch außerhalb Europas.
Mit dem Ende der DDR und der Sowjetunion 1989-1991 haben sich die Bedingungen für eine an Marx orientierte Musikforschung einschneidend verändert: Marxisten wurden ‚abgewickelt’ oder isoliert; und das Scheitern des Realsozialismus sei auch als Scheitern der Marxschen Theorie interpretiert worden. Ein Jahrzehnt nach dem Einschnitt von 1989/90, so das damalige Resümee von Mayer, sei es Zeit zu prüfen, ob und in welcher Hinsicht die analytische Methode von Marx in der Musikforschung historisch überholt oder von bleibendem Wert sei für die Entwicklung der Musikwissenschaft.
Im Tagungsband finden sich weitere interessante Beiträge, u.a. die Berichte aus den einzelnen Ländern, hier insbesondere zur DDR von Gerd Rienäcker („Marxistische Musikwissenschaft in der DDR – Errungenschaften und Komplikationen“, ebd. 38ff sowie 112ff) und zur alten BRD von Wolfgang Martin Stroh („Marxistische Musikwissenschaft unter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, ebd. 46ff). Als eine der wenigen Frauen, die an dieser Tagung teilnahmen, beklagte Eva Rieger („Marxistische Wurzeln und exotische Blüten? Anmerkungen zur feministischen und schwul-lesbischen Forschung in der Musikwissenschaft“, ebd. 98ff) zu Recht die ‚Gender-Blindheit’ der Musikwissenschaft, die für Ost wie für West gegolten habe, sowie die weitgehende Fixierung auf deutsche Musik, selbst bei führenden westdeutschen Repräsentanten der Disziplin wie Carl Dahlhaus oder Hans Heinrich Eggebrecht. Hanns-Werner Heister („Perspektiven der Musikwissenschaft“, ebd. 345ff) skizzierte eine „Neue Musikwissenschaft“ als deutschsprachiges Gegenstück zur US-amerikanischen „New Musicology“. Und Thematiken, wie sie z.B. von Peter Wicke („Musik und Politik, Medien und Globalisierung“, ebd. 207ff) angesprochen wurden, fanden später eine Fortführung in Publikationen wie etwa in dem 2010 erschienenen Buch „Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit. Popmusik auf globalen Märkten und in lokalen Kontexten“ von Susanne Binas-Preisendörfer (vgl. hierzu Sorg im vorliegenden Heft, S. 79ff.).
3 Musik und Gesellschaft am Beispiel von Adornos
Musiksoziologie
Nach dem kurzen historischen Rückblick soll der systematisch-theoretischen Frage nachgegangen werden, wie sich soziale Verhältnisse in der Musik ausprägen, dies am Beispiel von Adornos Musiksoziologie, die insbesondere ab den 1960er Jahren in Westdeutschland erheblichen Einfluss hatte. Im „Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie“ hatte Marx (MEW 13, 8f) seinen methodischen Leitfaden für die Untersuchung gesellschaftlich-historischer Prozesse skizziert, der später, wenn auch vielfach verkürzt, als Basis-Überbau-Theorie einflussreich wurde. Gegen ‚mechanistische’ Interpretationen dieses Konzepts hatte sich bekanntlich schon Friedrich Engels in seinen Altersbriefen gewandt und die ‚relative Selbständigkeit’ der Überbauerscheinungen sowie der geistigen Prozesse hervorgehoben und betont, dass diese nur ‚in letzter Instanz’ von den Basisprozessen bestimmt würden. Hält man die Basis-Überbau-Theorie, allen Verkürzungen zum Trotz, für ein methodisch sinnvolles Forschungskonzept, stellt sich die Frage, wo die Musik in einem solchen Theorie-Konzept anzusiedeln ist.
Günter Mayer z.B. zählt Musik als spezifische Form menschlicher Produktivität wesentlich zu den Produktivkräften (Mayer 1966). Dass von einer wie auch immer gearteten und begründeten ‚relativen Selbständigkeit’ von Kunst und Musik auszugehen ist, dürfte heute weitgehend Konsens sein. Die Frage nach der angemessenen Verhältnisbestimmung gehört sicher zu den schwierigsten Theorieproblemen einer materialistische Musik-Analyse: Wie, über welche Wege und Mechanismen ‚setzt’ sich Gesellschaftliches in Musik ‚um’, ‚resoniert’ es in ihr? Für Georg Knepler, den wohl einflussreichsten Musikwissenschaftler der DDR, galt es, die Vielfalt der dabei zu berücksichtigenden ‚Vermittlungen’ zu erforschen.[2]
Der Begriff der Vermittlung, ein Zentralbegriff der Hegelschen Philosophie und Dialektik, steht auch bei Theodor W. Adorno im Zentrum seiner musiksoziologischen Überlegungen. Er beklagte, dass die musiksoziologische Erkenntnis, die gesellschaftliche Dechiffrierung musikalischer Phänomene, „die Einsicht in ihr wesentliches Verhältnis zur realen Gesellschaft“ sowie in ihren inneren sozialen Gehalt und ihre Funktion immer noch unbefriedigend sei (Adorno 1968, 208). Auch wenn der Name Karl Marx kaum fällt, sind doch gewisse theoretische Bezüge auf diesen unverkennbar. So schlägt Adorno vor, auf die Musiksoziologie kategorial das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen anzuwenden (vgl. hierzu auch ebd. 234ff). Zur Produktivkraft gehöre neben dem Komponieren auch die künstlerische Arbeit des Reproduzierens. Zu den Produktionsverhältnissen zählt er „die ökonomischen und ideologischen Bedingungen, in die jeder Ton und die Reaktion auf einen jeden eingespannt ist“ (ebd. 234). Einen Aspekt der Produktionsverhältnisse bilden im „Zeitalter der Bewusstseins- und Unbewusstseinsindustrie [...] auch die musikalische Mentalität und der Geschmack der Hörer.“ Er ordnet die Tätigkeit des Musikers also der gesellschaftlichen Arbeit, der Produktion zu. Die gesellschaftliche Distribution und Rezeption der Musik dagegen sei bloßes Epiphänomen, das zahllosen gesellschaftlichen Selektions- und Steuerungsprozessen durch Industrien, Konzertagenturen oder Festspielleitungen unterliege. „All das geht ein in die Präferenzen der Hörer; ihre Bedürfnisse werden nur mitgeschleift.“ (Ebd. 213)
„Die kritische Theorie der Gesellschaft rechnet die Kunstwerke dem Überbau zu und hebt sie dadurch von der materiellen Produktion ab“ (ebd. 215), nicht zuletzt durch das kritische Element großer Kunstwerke. Die Arbeit des Künstlers, selbst die individuellste, sei stets gesellschaftliche Arbeit, die bestimmt wird durch ein gesellschaftliches Gesamtsubjekt. Im objektiv vorgegebenen Verhältnis von Verfahrensweisen und Materialien kommunizieren der künstlerische und materielle Stand der Epoche. Gemäß dem Vorrang der Produktivkräfte vor den Produktionsverhältnissen entscheide sich das musikalische Bewusstsein der Gesellschaft doch von der musikalischen Produktion her; maßgeblich sei „die in den Kompositionen geronnene Arbeit, ohne dass die Unendlichkeit der Vermittlungen ganz durchsichtig wäre.“ (Ebd. 216)
Bei der Betonung der ‚Vermitteltheit’ dieser Vorgänge in „verborgenen Formkonstituentien“ (ebd. 218) nimmt er immer wieder auch das ‚östliche’ Negativbeispiel ins Visier: „Die Gesellschaft setzt nicht, wie die verhärtete Doktrin des Diamat ihren Untertanen einbläut, direkt, handfest, nach dem Jargon jener Doktrin: realistisch in Kunstwerken sich fort, wird nicht geradenwegs sichtbar in ihnen. Sonst wäre kein Unterschied zwischen Kunst und empirischem Dasein“. Wenn Adorno schreibt: „Eine zulängliche gesellschaftliche Lehre vom Überbau [...] müsste die Komplexität des Verhältnisses, ja die Verselbständigung des Geistes selbst noch begreifen aus der Gesellschaft, schließlich der Scheidung zwischen niedriger und sogenannter geistiger Arbeit“[3], erinnert das an die Forderung von Marx im Kapital, wonach es der materialistisch angemessene Weg sei, die „verhimmelten Formen“ des gesellschaftlichen Bewusstseins (bei Marx hier bezogen auf die Religion), aus den „wirklichen Lebensverhältnissen“ zu rekonstruieren (MEW 23, 293, Anm. 89). Auch „autonome Musik“ habe „kraft jener Scheidung ihren Ort in der gesellschaftlichen Totalität, deren Kainszeichen sie trägt“ (Adorno 1968, 218), aber es wohne ihr die Idee der Freiheit inne – im Habitus des Widerstands gegen das ihr gesellschaftlich Auferlegte. „In der voll autonomen Musik wird der Gesellschaft in ihrer bestehenden Gestalt opponiert durch die Wendung gegen die Zumutung der Herrschaft, die in Produktionsverhältnissen sich vermummt.“ (Ebd. 219) Ihre ‚Unverwertbarkeit’ sei Negation der Gesellschaft, was Adorno andernorts an der Neuen Musik der Schönberg-Schule zu zeigen versucht.
Kunst kenne wie die Philosophie „eine sei’s auch prekäre Logik des Fortgangs“ (ebd. 221), eine „Einheit des Problems“. Trotz Distanz scheinen doch „die immanente Logik des Problemzusammenhangs und die auswendigen Determinanten schließlich wieder zusammenzufließen“. – Was ist dieser ‚Problemzusammenhang’? Geht es dabei um die relativ selbständige Entwicklung des ‚Gedankenmaterials’, wie es Engels nannte? „Gelten dürfte, dass jene Vermittlung nicht äußerlich, in einem dritten Medium zwischen Sache und Gesellschaft stattfinde, sondern innerhalb der Sache“, hier der spezifischen musikalischen Form und Struktur.[4] „Was den Geist in der Musik weitertreibt, das von Max Weber mit Recht als zentral erkannte Rationalitätsprinzip, ist kein anderes als die Entfaltung der außerkünstlerischen, gesellschaftlichen Rationalität. Diese ‚erscheint’ in jener.“ (Ebd. 222) – Max Weber fasst freilich, worauf Adorno nicht eingeht, die gesellschaftliche Rationalität als „Zweckrationalität“ (bei Horkheimer/Adorno: „instrumentelle Vernunft“) – wobei die Zwecke dezisionistisch durch irrationale Wertentscheidungen gesetzt werden –, nicht aber als vernünftige Einrichtung des gesellschaftlichen Ganzen.
Wie die Dechiffrierung der in der Musik sedimentierten gesellschaftlichen Totalität, wesentliche Aufgabe von deren Soziologie, konkret aussehen könnte, verdeutlicht Adorno an Beethoven: Prototyp des revolutionären Bürgertums, sei dieser zugleich der einer ihrer gesellschaftlichen Bevormundung entronnenen autonomen Musik. Seine Werke sprengen insofern das Schema der Adäquanz von Musik und Gesellschaft, entsprechen der dynamisch sich entfaltenden gesellschaftlichen Totalität nur vermittelt. „Gesellschaft wird in Beethoven begriffslos erkannt, nicht abgepinselt. Was bei ihm thematische Arbeit heißt, ist das sich Abarbeiten der Gegensätze aneinander, der Einzelinteressen; die Totalität, das Ganze [...] ist [...] der Inbegriff jener thematischen Arbeit und deren Resultat, das Komponierte, in eins.“ (Ebd. 224) Die Motivkerne, das Besondere, seien präformiert vom Allgemeinen, der Tonalität, wie das Individuum in der individualistischen Gesellschaft. Ein Beispiel für (Hegel’sche) Dialektik in der Musik demonstriert Adorno, wenn er schreibt: „Die entwickelnde Variation, Nachbild gesellschaftlicher Arbeit, ist bestimmte Negation: unablässig bringt sie das Neue und Gesteigerte aus dem einmal Gesetzten hervor, indem sie es, in seiner quasi-naturalen Gestalt, seiner Unmittelbarkeit, vernichtet.“ (Ebd.)
Insgesamt nun sollen die Negationen Affirmation bewirken, Analogon zur liberalistischen Theorie, der die gesellschaftliche Praxis nie entsprochen habe. „Das Beschneiden, sich aneinander Abschleifen der Einzelmomente, Leiden und Untergang, wird gleichgesetzt einer Integration, die jedem Einzelmoment Sinn verleihe durch seine Aufhebung hindurch.“ Deshalb die unerschütterte Reprise, die Wiederkehr des Aufgehobenen, des Gleichen, rechtfertigend, „was einmal war, als Resultat des Prozesses.“ Die Reprise sei wie in Hegels „absolutem Wissen“, dem Schlusskapitel der Phänomenologie, Zusammenfassung des Gesamtwerks. Hier „wird große Musik zum inwendigen Welttheater“ (ebd. 225).
Über einige Mechanismen der Vermittlung von Gesellschaftlichem in der Musik heißt es: Auch die Komponisten sind gesellschaftliche Wesen, haben sich von Kindheit an „angepasst an das, was rings vorgeht, später sind sie bewegt von Ideen, die ihre eigene, selber bereits sozialisierte Reaktionsform aussprechen“ (ebd. 226). Das „Gesellschaftliche an den komponierenden Individuen und den Verhaltensschemata, die ihre Arbeit so und nicht anders dirigieren, besteht darin, dass das kompositorische Subjekt ... selber ein Moment der gesellschaftlichen Produktivkräfte bildet“. Dass Beethovens Musik strukturiert sei wie jene Gesellschaft des aufsteigenden Bürgertums, habe zur Bedingung, dass seine „primär-musikalische Anschauungsform in sich vermittelt war durch den Geist seiner Klasse in der Periode um 1800“. Die Vermittlungen im einzelnen zu erkennen, sei schwierig, „der blinde Fleck der Erkenntnis“. Vermutlich aktualisiere sich jene Einheit von Gesellschaftsinhalt und dessen Niederschlag in der Kunst „in mimetischen Vorgängen, frühkindlichen Angleichungen an soziale Muster, eben den ‚objektiven Geist’ der Epoche“ (ebd. 227). Außer solchen unbewussten Identifikationen seien „Mechanismen der Selektion“ sozial relevant, wobei „die einen oder anderen Momente in den Subjekten herausgeholt, honoriert“ werden. Der Künstler sei „Funktionär der je ihm sich stellenden Aufgaben. In diesen aber steckt die ganze Gesellschaft; durch sie wird Gesellschaft zum Agens auch der autonomen ästhetischen Prozesse. Was die geistesgeschichtliche Phrase als Schöpfertum verherrlicht [...], konkretisiert sich in der künstlerischen Erfahrung als Gegenteil der Freiheit [...]. Versucht wird die Lösung von Problemen.[...] Vermöge der Objektivität der Aufgaben [...] hören die Künstler auf, private Individuen zu sein, und werden gesellschaftliches Subjekt oder dessen Statthalter.“ (Ebd. 228) Sie taugen als Künstler desto mehr, je mehr ihnen, wie Hegel gewusst habe, „diese Selbstentäußerung glückt.“ Nach Analogie zur Philosophie gehe es um eine gänzlich durchgebildete, systematische Komposition. „Ihr Ideal ist Musik als deduktive Einheit [...]. Das ist der ästhetische Aspekt der Grundthese von Webers Musiksoziologie, der von der fortschreitenden Rationalität. Dieser Idee hing Beethoven objektiv nach, ob er es wußte oder nicht.“
Musik werde ästhetisch wie auch gesellschaftlich „umso wahrer und substantieller, je weiter sie vom offiziellen Zeitgeist sich entfernt“ (ebd. 229); diesen habe damals eher Rossini als Beethoven verkörpert. Im Wahrheitsgehalt des Kunstwerks versammelt sich die Gesellschaft, „all ihre Gewalt, all ihr Widerspruch und all ihre Not. Das Gesellschaftliche in Kunstwerken [...] ist nicht nur ihre Anpassung an auswendige Desiderate von Auftraggebern oder vom Markt[,] sondern gerade ihre Autonomie und immanente Logik.“ (Ebd. 230) – Dies ist der auf den ersten Blick paradox erscheinende Clou der These von Adorno zum Verhältnis von Kunst/Musik und Gesellschaft. Eine solche ‚innere Vermittlung’ ist natürlich viel weitreichender als die Frage nach Auftraggebern und Finanzierung etc., ohne dass diese darum unwichtig wäre. „Die ästhetische Qualität der Werke [...] konvergiert mit dem gesellschaftlich Wahren.[...] Immanente Mängel von Kunst sind Male gesellschaftlich falschen Bewusstseins. Der gemeinsame Äther aber von Ästhetik und Soziologie ist Kritik.“[5]
Die Vermittlung von Musik und Gesellschaft werde schließlich evident in der Technik. „In ihr verkörpert sich in der Kunst ... der gesellschaftliche Stand der Produktivkräfte einer Epoche“ (ebd. 231). Die Technik „vergesellschaftet auch den vermeintlich einsamen Komponisten“, indem die gesellschaftlichen Produktivkräfte mit seiner eigenen Produktivkraft verschmelzen. Mit der originalen[6] und zugleich widerständigen Aneignung der Technik werde der Komponist zugleich „Exekutor der gesellschaftlichen Tendenz. ... Individuell musikalische Produktivität verwirklicht ein objektives Potential.“ Dies gelte für Beethoven, der zugleich für die Emanzipation des Subjekts und für die Idee einer freien Gesellschaft gestanden habe, die über die bürgerliche hinausging. „Wodurch Kunst als Schein von der gesellschaftlichen Realität Lügen gestraft werden kann, die in ihr erscheint, das gestattet umgekehrt, die Grenzen einer Realität zu überschreiten, von deren leidender Unvollkommenheit die Kunst beschworen wird.“ (Ebd. 232)[7]
4 Zu Hegels Musikphilosophie
Wo immer eine materialistische Musikforschung sich bei der Erschließung ihres Gegenstands Erkenntnisgewinne erhoffte, wurde nicht nur auf die theoretisch-methodischen Anregungen von Marx und Engels zurückgegriffen, sondern immer wieder auch auf Hegel, und zwar unbeschadet seines ‚Idealismus’, wobei sich bei ihm faktisch mehr ‚Materialistisches’ findet, als auf den ersten Blick sichtbar ist.
Sein Musikverständnis hat er vor allem in seinen Ästhetik-Vorlesungen dargestellt. Die Entwicklungsrichtung in der Reihe der Künste, die Hegel von der Architektur über die Skulptur, die Malerei, die Musik bis zur Poesie historisch-logisch entfaltet, verläuft vom Äußeren, dem Materiellen, zum Inneren, der Subjektivität und dem Geistigen (vgl. Hegel 1986, S. 131ff). Die in Tönen, dem Material der Musik, vergegenständlichte „Objektivität“ des Musikwerks sei sowohl ein Ausdruck des Inneren eines Subjekts (Komponist, Musiker) als auch eine Mitteilung an ein anderes, an das hörende Subjekt mit einer Wirkung aufs Innere dieses Rezipienten. Der Inhalt der Musik sei „das an sich selbst Subjektive, und die Äußerung [...] zeigt [...], daß sie eine Mitteilung ist“, wodurch das Subjekt ergriffen und in Bewegung gebracht wird (ebd. 136).
In der Musik herrsche „ebensosehr die tiefste Innigkeit und Seele als der strengste Verstand, so daß sie zwei Extreme in sich vereinigt, die sich leicht gegeneinander verselbständigen“ (ebd. 139). Sie vereint Emotionalität und Rationalität, basiert auf Gesetzen der Harmonie, beruhend auf quantitativ-mathematischen, physikalischen Verhältnissen, drückt Empfindung aus und bewirkt Empfindung.
Das Spezifische, zugleich Schöpferische der Musik sei es, das Fühlen und Denken eines Subjekts im Element der Töne hörbar und mitteilbar zu machen, es dadurch für die Empfindung und Mitempfindung neu hervorzubringen, wobei diese durch die künstlerische Gestalt neu geschaffene Realität eine befreiende Wirkung habe. Das Ich erweitere sich durch die von außen aufgenommene Empfindung. Diese breitet sich dann „zum Ausdruck aller besonderen Empfindungen auseinander, und alle Nuancen der Fröhlichkeit, Heiterkeit, des Scherzes, der Laune, des Jauchzens und Jubelns der Seele, ebenso die Gradationen der Angst, Bekümmernis, Traurigkeit, Klage, des Kummers, des Schmerzes, der Sehnsucht usf. und endlich der Ehrfurcht, Anbetung, Liebe usf. werden zu der eigentümlichen Sphäre des musikalischen Ausdrucks“ (ebd. 150).
In der Formel „kadenzierte Interjektion“ fasst Hegel die Musik als ein Widerspruchsverhältnis von Naturhaftem und Kulturell-Gesellschaftlichem: „Schon außerhalb der Kunst ist der Ton als Interjektion, als Schrei des Schmerzes, als Seufzen, Lachen die unmittelbare lebendigste Äußerung von Seelenzuständen und Empfindungen, das Ach und Oh des Gemüts.“ Die „Interjektionen [...] geben am Tone und im Tone selber eine Stimmung und Empfindung kund, die sich unmittelbar in dergleichen Töne hineinlegt und dem Herzen durch das Herausstoßen derselben Luft macht; dennoch aber ist diese Befreiung noch keine Befreiung durch die Kunst. Die Musik muß im Gegenteil die Empfindungen in bestimmte Tonverhältnisse bringen und den Naturausdruck seiner Wildheit, seinem rohen Ergehen entnehmen und ihn mäßigen. So machen die Interjektionen wohl den Ausgangspunkt der Musik, doch sie selbst ist erst Kunst als die kadenzierte Interjektion.“ (Ebd. 150f)
Das musikalische Kunstwerk bedarf einer „stets wiederholten Reproduktion“ und „erneuten Verlebendigung“: zum einen wegen der Flüchtigkeit der vorüberrauschenden Töne; zum anderen muß die Äußerung des subjektiven Inneren, das die Musik zur Erscheinung zu bringen hat, „sich auch unmittelbar als Mitteilung eines lebendigen Subjekts ergeben, in welche dasselbe seine ganze eigene Innerlichkeit hineinlegt“ (ebd. 158f).
„Die eigentümliche Gewalt der Musik ist eine elementarische Macht, d. h. sie liegt in dem Elemente des Tones, in welchem sich hier die Kunst bewegt.“ (Ebd. 155) Im Materiellen des Tones liegt die Wirkungsmacht der Musik, weil sie Materielles in uns (Gefühle) anrührt; vom Elemente des Tons wird das Subjekt ergriffen und „in Tätigkeit gesetzt“, in Bewegung. An einen materiellen Träger gebunden ist auch das Erklingen von Musik, die Töne nur hervorbringen kann, „insofern sie einen im Raum befindlichen Körper in sich erzittern macht und ihn in schwingende Bewegung versetzt“ (ebd. 163). Das quantitative, numerische Verhältnis der Schwingungen in derselben Zeitdauer sei die „Grundlage für die Bestimmtheit der Töne“ (ebd. 178).
Die „tiefere Musik“ müsse „das einfache erste Zusammenstimmen zu Dissonanzen auseinanderreißen. Denn erst in dergleichen Gegensätzen sind die tieferen Verhältnisse und Geheimnisse der Harmonie ... begründet. ... Die Kühnheit der musikalischen Komposition verläßt deshalb den bloß konsonierenden Fortgang, schreitet zu Gegensätzen weiter, ruft alle stärksten Widersprüche und Dissonanzen auf und erweist ihre eigene Macht in dem Aufwühlen aller Mächte der Harmonie, deren Kämpfe sie ebensosehr beschwichtigen zu können und damit den befriedigenden Sieg melodischer Beruhigung zu feiern die Gewißheit hat.“ (Ebd. 189) Nur als Bewegung durch die Gegensätze hindurch „übt die Musik in ihrem eigentümlichen Elemente der Innerlichkeit, die unmittelbar Äußerung, und der Äußerung, die unmittelbar innerlich wird, die Idealität und Befreiung aus, welche, indem sie zugleich der harmonischen Notwendigkeit gehorcht, die Seele in das Vernehmen einer höheren Sphäre versetzt.“ (Ebd. 190) Die Musik müsse die Mittel besitzen, „welche den Kampf von Gegensätzen zu schildern befähigt sind“, etwa durch Dissonanzen, die freilich wieder, „um für Ohr und Gemüt eine Befriedigung herbeizuführen“ (ebd. 183), eine Auflösung fordern, einen „Rückgang zu Dreiklängen“. Darum spricht Hegel in seiner Kurzformel von „Kadenzierung“.
Gegen eine simplifizierte Sicht des Widerspiegelungscharakters der Musik heißt es: Die Musik „muß den Ausdruck der Empfindungen nicht als Naturausbruch der Leidenschaft wiederholen, sondern das zu bestimmten Tonverhältnissen ausgebildete Klingen empfindungsreich beseelen und insofern den Ausdruck in ein erst durch die Kunst und für sie allein gemachtes Element hineinheben, in welchem der einfache Schrei sich zu einer Folge von Tönen, zu einer Bewegung auseinanderlegt, deren Wechsel und Lauf durch Harmonie gehalten und melodisch abgerundet wird“ (ebd. 197).
Zusammengefasst: Das ‚Innere’ will sich ‚äußern’, sich ausdrücken, vergegenständlichen und verkörpern in einer äußeren Gestalt. Durch die gefundene musikalische Form, die etwas Geistig-Kulturelles darstellt, wird der Stoff, die Vielfalt der Empfindungen, die sich aus äußeren Erfahrungen und inneren Gefühlen speisen, in eine bewusste, ordnende, strukturierende, das Chaotische bändigende Gestalt gebracht. Und diese künstlerische Formgebung und Gestaltung macht uns, eine Wirkung und Funktion von Musik, frei von der Abhängigkeit und von der Überwältigung durch diese erfahrenen, wahrgenommenen Empfindungen – oder mildert sie zumindest.
Wenn Musik nach Hegel wesentlich im dialektischen Wechselspiel einer ‚Äußerung’ des ‚Inneren’ verankert ist, wie kommt dann die Sozialität, die Gesellschaft ins Spiel?
Indem das menschliche Subjekt die von innen und von außen empfangenen Eindrücke aneignet, entwickelt es zugleich das Bedürfnis, diese innerlich verarbeiteten Erfahrungen auszudrücken, musikalisch im Material der Töne. Elementar geschieht dies zunächst in der naturlauthaften Interjektion; doch indem die innere wie die äußere Natur zunehmend gesellschaftlich-kulturell gestaltetet wird, erfährt auch dieses Ausdrucksbedürfnis eine gesellschaftliche Formung, die in der Kunst immer weiter ‚ausgebildet’ wird. Zu solchen Ausdrucksformen gehören in der Musik dann auch eine kulturell bestimmte Tonfolge; historisch ist dabei im ‚Abendland’ die kadenzbasierte Tonalität entstanden. – Im Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnis der Kunst und Musik ist also bereits das Gesellschaftliche enthalten.
5 Ein aktuelles Musikverständnis in der Hegel’schen und marxistischen Theorietradition: Heister
Einen Allgemeinbegriff von Musik zu bestimmen, sei schwierig, da sie als Vielzahl von epochal, regional und sozial bestimmten verschiedenen Musikarten und Musiksprachen erscheine. „Als spezifischer Gegenstand sozialer, kollektiver Tätigkeit hat es Musik zu tun mit Gefühl und Zahl, mit Aktion und Kontemplation, mit Natur, Arbeit und Geist.“ (Heister 1990, 481) Die große „Spannweite, das Nicht-Körperliche und Ungreifbare bei oft unmittelbarster und handgreiflichster körperlicher Wirkung“, macht sie schwer begreifbar; diese ‚Unbestimmtheit’ werde bisweilen „ideologisch verklärt“, insbesondere im Falle der ‚absoluten’, von jedem Realitätsbezug vermeintlich freien Instrumentalmusik.
Die Kurzformel von Hegel (Musik als ‚kadenzierte Interjektion’) legt auch Hanns-Werner Heister seinem Überblicksartikel „Musik“ zugrunde. Die Formel verweise auf das In- und Miteinander von ‚Natur’ und ‚Kunst’, von Physisch-Psychischem und Historisch-Sozialem. In der neuzeitlichen europäischen Musik bilde ‚Kadenz’ (wörtlich: das Fallende) mit ihrem Ausgangspunkt, dem ‚Quintfall’, als Abfolge von zwei Dreiklängen über den beiden Grundtönen „die musikalisch-logische Folge der harmonischen Funktionen Dominante und Tonika. Sie hat schließende Wirkung.“ Einerseits beruhe sie auf Konvention, bilde andererseits (etwa im Deutschen) den Sprechtonfall nach. Die ‚Interjektion’ (Ausruf, Schrei), ein physiologisch bedingter Naturlaut, werde als menschliche Äußerung kulturell geformt. Als ‚exekutive Kunst’, die des aktuellen Vollzugs bedürfe, besitze die Kommunikationsform Musik zugleich kollektiven Charakter, „der ineins Gemeinschaft und Individualität, Entgrenzung und Bewahrung des Ichs ermöglicht“ (ebd. 482). Musik sofort als Kunst zu fassen, verstelle jedoch den Blick auf ihre Anfänge und blende bei ihrer Entwicklung die vermittelnde Rolle der gesellschaftlichen Arbeit aus.
In Genese, Gehalt, Gestalt und Funktion von Musik „gehen Natürliches und Geschichtlich-Gesellschaftliches, Sinnliches und Geistiges, Gefühls- und Verstandesmäßiges, Unbewusstes und Bewusstes, Individuelles und Kollektives, Praktisches und Theoretisches ein“ (ebd. 483). Im Musikprozeß vollziehe sich eine Aneignung der natürlichen und sozialen Wirklichkeit sowie eine Betätigung und Vergegenständlichung des Menschen, seiner Fähigkeiten und produktiven Kräfte.
Mythologisch gespiegelt werde das Gegensätzliche in der Musik z.B. in Apollon versus Dionysos, eine „gebändigte Orgie“ (so Knepler 1977, 175). Im Alltagsbewusstsein würden Anteil und Rolle des Gefühlsmäßigen und Sinnlichen gegenüber dem Rationalen und Technischen häufig überschätzt oder vereinseitigt, in ‚tönende Mathematik’ oder ‚Sprache des Herzens’ aufgespalten, wobei die jeweilige Akzentuierung sich im Gegen- und Nebeneinander zweier Hauptlinien der Musikästhetik spiegele, die „aristotelisch“ und „pythagoräisch“ heißen können (Heister 1990, 483).
Phylogenetisch wie ontogenetisch werde Musik (und Kunst überhaupt) motiviert durch das ‚natürliche’, kulturell und kommunikativ entfaltete „Ausdrucksbedürfnis“, eine Affektentladung, eine „akustisch gestaltete Reaktion auf innere wie äußere Zustände“. Entstanden sei Musik aus Kommunikationen akustischer und optisch-gestischer Art (ebd. 484). Historisch entfaltete sie sich zur Kunst im Rahmen des ästhetischen Verhaltens. Das griechische ‚mousiké’ umfasse die Einheit von Tanz-, Wort- und Ton-Kunst, mit dem gemeinsamen Nenner ‚Rhythmus’. „[A]ls mimetische Äußerung und Reaktion auf innere wie externe Umwelt ist Musik Reaktion, aber auch Entäußerung und Aktion. Denn in ihr und mit ihr setzt der Mensch Eindrücke aus der Wirklichkeit um. Er setzt damit aber auch etwas Neues, Eigenes in die Welt: die Kunst als ‚Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte’.“ Das Ineinander von Reaktion und Aktion in der Musik „lässt sich mit den aristotelischen Begriffen der ‚Katharsis’ und ‚Mimesis’ fassen.“ ‚Katharsis’ als ‚Reinigung der Gefühle’ werde erzeugt durch ‚Mimesis’, die mehr sei als Nachahmung, vielmehr „bewertende Nachbildung von Sachverhalten und Beziehungen“ im gesellschaftlichen Zusammenleben. Als ‚Mimesis der Praxis’ mildere sie kompensatorisch Mängel der Realität, erreicht durch Reproduktion etwa von Schmerzempfindung und -äußerung, durch sinnliche Vergegenwärtigung eines Abwesenden.
Bei der Musikproduktion sind Arbeitsgegenstand das Klangmaterial, Arbeitsinstrument oder -mittel zunächst die menschliche Stimme, dann Instrumente und Maschinen: Singen und Klingen als Ursprung von Vokal- und Instrumentalmusik. Aus der Fülle des Schall-Materials wählen Kulturen und Zeiten wertend aus, bilden syntaktische Beziehungen zwischen den Elementen.
Als besondere Sprache vermittle Musik eine „emotiv grundierte [...] Aneignung der Wirklichkeit“ (ebd. 486), welche sie im spezifischen ästhetischen[8] Material widerspiegele: „als ihr Abbild und zugleich ihr Gegenbild“. Die Musik sei das, was sie zeigt (wovon sie ‚spricht’), „in der Weise eines Als-Ob: als sinnlich-gegenwärtiger Schein.“ Diese Fähigkeit (übrigens aller Kunst), etwas Abwesendes erscheinen zu lassen, ist ihr ‚zauberischer’ Charakter, ihr Changieren zwischen Spiel und Arbeit, Heiterkeit und Ernst.
Als Mitteilung sei Musik Produktion wie Produkt, zugleich aber auch Kommunikation, angelegt im Ausdruckszwang. Während mit der durch die sinnlich-geistige Wahrnehmung vermittelten Wirkung der Musikprozess zwar sein Ende finde, erreiche er sein Ziel aber erst, wenn die Vernehmenden selbst wieder tätig werden; erst in diesem wirksam Werden erfülle sie eine soziale Funktion. Ihre Zwecke wie ihre Wirkungen umfassen ein breites Spektrum: von der Aufforderung zum Tanz oder zur Arbeit, zur Weltflucht oder Welterkenntnis. Benutzt wird sie gesellschaftlich von den Oberen und Unteren, sie verschönt Humanität wie Barbarei. Die Musik als solche tut gar nichts; um wirksam zu werden, muss sie angeeignet und umgesetzt werden durch menschliche Subjekte und ihre Praxis. Es bedürfe also zusätzlicher Tätigkeit, des Wiedereingehens der Kunst in die Praxis, der sie entsprang (ebd. 487).
Im Übergang von der Interjektion zur kadenzierten Interjektion, von Natur zur Kunst, ist für Heister aller Fortschritt in der Musik angelegt, ebenso wie die Zweideutigkeit dieses Fortschritts, indem Naturbeherrschung auch die Herrschaft über Menschen einschließen kann. Im 20. Jahrhundert habe sich der Musikbegriff ausgeweitet, dies sowohl durch die Vermischung der Kulturen als auch durch die Nutzung von neuem Material und neuen Verfahren der Klangerzeugung und -bearbeitung (z.B. Computermusik). Heisters Zusammenfassung lautet: „Als kadenzierte Interjektion ist Musik Ausdruck und Konstruktion, Mimesis der gegebenen Praxis und Aufruf zu verändernder Praxis – Kunst. Als Kunst hat sie einen alle einzelnen Zwecke übergreifenden Sinn: sie ist Vorschein einer möglichen besseren Welt.“ Zu deren Verwirklichung könne sie als Antrieb fungieren.
Literatur
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[1] Mayer erwähnt z.B., dass Eisler 1931 Leiter einer AG „Dialektischer Materialismus und Musik“ der MASCH war, die es damals in 26 deutschen Städten gab (Stroh/Mayer 2000, 16).
[2] Soll die „die Musizierenden und die Musik einschließende gesellschaftliche Totalität transparent werden, gilt es, die Vermittlungen bloßzulegen, die vom allgemeinen gesellschaftlichen Verhalten, von der Arbeit und der sozialen Gliederung, von den jeweiligen Errungenschaften und Leistungen, vom Denken, Wollen und Fühlen der Menschen hinführen zu der Art und Weise, in der jeweils musiziert wird, und zur Beschaffenheit der musikalischen Produkte.“ (Knepler 1977, S. 541. – Diese Vermittlungen versucht er z.B. an der „Herausbildung der Komposition“ oder an der „’Erfindung’ der Oper“ zu zeigen, ebd. 205ff und 251ff.)
[3] Die Einteilung in „ernste“ Musik und „leichte Muse“, in E- und U-Musik sieht Adorno letztlich bereits in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ältester Klassenverhältnisse begründet (ebd. 240).
[4] Die Umsetzung gesellschaftlicher Bedürfnisse „in rein musikalische Problemstellungen“, erläutert er an der Wendung zum ‚galanten Stil’ mit dem neuen bürgerlichen Publikum Mitte des 18. Jahrhunderts. Komponisten seien damals mit einem anonymen Markt konfrontiert worden, dessen Anforderungen ins Zentrum der musikalischen Produktion drangen. Durch den Kommerz und das neue Publikum wurde zugleich „die kompositorische Produktivkraft entfesselt und gesteigert“ (ebd. 223), so Adorno in soziologischen Anmerkungen zum deutschen Musikleben in einer Publikation des deutschen Musikrats, Februar 1967. Er schreibt (in der dort angegebenen Publikation S. 2ff): „gesellschaftliche Zwänge, die anscheinend der Musik äußerlich widerfahren, werden von deren autonomer Logik und dem kompositorischen Ausdrucksbedürfnis absorbiert und verwandelt in künstlerische Notwendigkeit: in Stufen richtigen Bewusstseins.“
[5] Nichts an der Musik tauge ästhetisch, was nicht auch – und sei’s über die Negation des gesellschaftlich Unwahren – gesellschaftlich wahr wäre (ebd. 211). Ideologisch sei Musik, wo in ihr die Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte den Primat erhalten, etwa durch verklärende Ablenkung vom banalen Dasein. Wie weit der Massengeschmack manipuliert ist, sei eine empirische Forschungsaufgabe, wobei Adorno im Kitsch das musikalische Äquivalent der Verlogenheit sieht (ebd. 239).
[6] Dass Originalität durch und durch vermittelt sei, habe Beethoven in dem Satz ausgesprochen, „vieles, was dem Originalgenie des Komponisten zugeschrieben werde, sei dem geschickten Gebrauch des verminderten Septimakkords zu verdanken“ (ebd. 231).
[7] In einer neueren Analyse des Adorno’schen Begriffs der Vermittlung hat Max Paddison die These Adornos bekräftigt, dass der gesellschaftliche Gehalt gerade auch in der autonomen Struktur des Musikwerks sedimentiert ist (Paddison 2007). - Auf die trotz aller Gegensätze auch bemerkenswerten Verbindungslinien zwischen Theodor W. Adorno und Hanns Eisler hatte Günter Mayer in einem frühen Artikel aufmerksam gemacht (vgl. Mayer 1966).
[8] Nach Knepler haben die im Laufe der Evolution entstandenen ästhetischen Fähigkeiten für Menschen die Funktion, ihre Handlungen „gedanklich zu verstehen, emotiv bewerten und dergestalt eingliedern zu können in ihre natürliche und gesellschaftliche Umwelt. Menschengezeugtes mit Naturgegebenem zu versöhnen – um es auf eine knappe Formel zu bringen -, war das Motiv zur Hervorbringung auch der Musik.“ Musik habe eine „weltbildformulierende, bewußtseinsbildende, ansteckend gemeinschaftsfördernde Funktion“. (Knepler 1995, S. 25)