Klaus Gietinger, Totalschaden. Das Autohasserbuch – unter Mitarbeit von Markus Schmidt, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2010, 314 S., 16,95 Euro
„Leute, die sich als Autokritiker ausgeben, gibt es ganz viele. Aber das sind meist falsche Fuffziger. Man erkennt sie daran, dass sie in jeder Diskussion, in der ein bisschen am Autolack gekratzt wird, den Satz einbauen: ‚Ich will das Auto ja nicht verteufeln, aber…’ Ich aber sage: ‚Es wird endlich Zeit, das Auto zu verteufeln!’ Und austreiben kann man diesen Teufel nur mit dem Beelzebub. Ein Exorzismus ist nötig!“ Mit diesem „Empört euch!“ beginnt der (Konter-)Revolutionsforscher Klaus Gietinger seine fulminante Polemik gegen die Landplage des motorisierten Individualverkehrs („MIVs“) der „Autler“. Als versierter Interpret von Marx, Luxemburg und Adorno weiß Gietinger natürlich, dass man es sich mit der Teufelsaustreibung niemals zu einfach machen darf. Ein ideologischer Staatsapparat wie der Kraftwagen wurde und wird der Gesellschaft nicht bloß durch den autoindustriellen Komplex aufgeherrscht. Der enorme politisch-ökonomische Einfluss dieses Drogenkartells beruht vielmehr auf der Sucht von Millionen, die in ihren Fahrgastzellen von (Bein-)Freiheit träumen und die sich als Gebieter eines Gaspedals zu Richtern über Fußgänger, Radfahrer und anderes „Ungeziefer der Straße“ aufschwingen. Als omnipräsenter Fetisch ist des Deutschen liebstes Kind ein Gefährt gesellschaftlichen Stillstands, ein im Stau stecken gebliebenes Versprechen von Mobilität und eine blechgewordene Allmachtsphantasie von Leuten, die sich darüber hinwegtäuschen möchten, doch nur sehr kleine Rädchen im kapitalistischen Betrieb zu sein. Der Autowahn, das macht Gietinger deutlich, hat seine Wurzeln zwar in Fordismus und Faschismus, überschreitet territoriale Grenzen aber längst ebenso wie ideologische und bedroht deshalb in einer besonders totalitären Weise mittel- wie unmittelbare Grundlagen menschlichen Zusammenlebens. Lärm, Gestank und Platzbedarf von Autos ruinieren Städte und Landschaften, ihr Schadstoffausstoß und Ressourcenverbrauch langsam, aber sicher den gesamten Planeten.
Vor allem aber ist die Geschichte der Destruktivkraft, die Gietinger mit ebensoviel Zorn wie Sachverstand rekonstruiert, die einer veritablen Massenvernichtungswaffe. Seit Beginn des motorisierten Individualverkehrs sind weltweit etwa 42 Millionen (!) Menschen im Straßenverkehr ums Leben gekommen bzw. umgebracht worden und die Gesamtzahl der Verwundeten seit dem Jahr 1900 liegt bei schier unglaublichen 1,5 Milliarden Menschen. Gegenwärtig wird allein in Indien und China jedes Jahr die Einwohnerschaft einer Großstadt mit 400.000 Menschen durch den Autoverkehr vom Leben zum Tod befördert. Angesichts des dramatischen Anstiegs von Verkehrstoten nach der Maueröffnung (insgesamt starben zwischen 1989 und 2002 14.410 Menschen mehr auf ostdeutschen Straßen als es bei Extrapolation der ohnedies schon beträchtlichen Todesrate von 1989 gewesen wären), gelangt Gietinger sogar zu dem Schluss, dass die „friedliche“ Wende besser „als die wohl blutigste Revolution auf deutschem Boden“ bezeichnet werden müsse.
Seine sarkastische Anklageschrift kann den Funktionsprinzipien, Profiteuren und Schönrednern der automobilen Gesellschaft Menschenrechtsverletzungen in Permanenz und in globalem Maßstab zur Last legen: von der Einschränkung der Bewegungsfreiheit bis zur Missachtung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Deutlich wird dadurch: Wenn das Getriebe der Autogesellschaft nicht durch die Verabreichung großer Mengen Sand geschwind ins Stottern und zum Stillstand gebracht wird (sind Revolutionen nicht die Notbremsen der Geschichte?), werden Stadt und Erdkreis endgültig plattgemacht. Angesichts der Barbarei eines real existierenden Trends zur totalen Mobilmachung hat der Geschichtenerzähler und Tatort-Regisseur aber noch immer Phantasie genug, am Ende seines Buches die Utopie einer Gesellschaft auszubuchstabieren, die vom Auto befreit ist und in der Fußgängerprivilegien, Radfahrstraßen, ÖPNV und ein leistungsfähiges Eisenbahnnetz eine schonende Mobilität für alle sicherstellen. „Die Städte kommen weltweit und im wahrsten Sinne des Wortes zu neuer Blüte, die Kommunikation der Menschen findet wieder auf der Straße im Freien, auf Plätzen in Cafés unter Arkaden und in der Stadt wie auf dem Land statt. Kinder sind von der Käfighaltung befreit, sie können nach Herzenslust herumstreunen und die Welt selbstbestimmt entdecken.“
Durch handgemalte Skizzen real existierenden Straßenverkehrsunsinns, eine Liste der dümmsten Autofilme sowie streng subjektive Anekdoten aus dem Leben eines Autokritikers wird das Autohasserbuch liebevoll ergänzt. Es eignet sich als Musterexemplar marxistischer Ideologiekritik ebenso wie als kurzweilige Lektüre während einer längeren Bahnfahrt. Wenn das Buch überdies dazu beitragen könnte, die sehr überschaubare Schar der deutschsprachigen Autokritiker personell etwas zu verstärken, wäre der anti-automobilen Verkehrsrevolution schon sehr gedient, deren Unverzichtbarkeit Gietinger so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat.
Malte Meyer