Die Wahlen in Deutschland haben überraschende Ergebnisse gebracht: Die CDU/CSU feierte vor allem wegen der populären Kanzlerin Merkel einen rauschenden Wahlsieg und verfehlte nur knapp die absolute Mehrheit der Mandate. Dieses triumphale Ergebnis hängt auch mit dem Kollaps ihres liberalen Koalitionspartners zusammen, der zum ersten Mal in der Geschichte der (west)deutschen Republik seit 1949 nicht mehr im Bundestag vertreten sein wird. Auch der Aufstieg der Grünen ist vom Wähler deutlich gestoppt worden. Der frühere Spitzenpolitiker Fischer von den Grünen zieht zur Erklärung dieses Ergebnisses die bekannte These von der gesellschaftlichen Mitte heran: „Regierungsmehrheiten und damit Wahlen werden in Deutschland immer in der Mitte gewonnen. Die drei Oppositionsparteien aber räumten diese Mitte, die Gerhard Schröder zweimal die Mehrheit gebracht hatte. Sie kannibalisierten sich mit dieser Linksverschiebung lediglich untereinander, statt weiter in die Mitte auszugreifen. Die Grünen waren dabei eindeutig die Verlierer.“ (Fischer 2013)
Eine Reihe von grünen Politikern (Kretschmann, Kuhn, Palmer u.a.) unterstützen diese Deutung. Ein wesentlicher strategischer Fehler sei gewesen, dass die Grünen versucht hätten, die ökologische Partei politisch zwischen SPD und Linken zu platzieren. Und Bodo Hombach, einst selbst ernannter Vordenker der Sozialdemokratie und Kanzleramtsminister von Schröder, erinnert dieser Tage an die Wahlstrategie des Jahres 1998: „Die neue Mitte ist vereinsamt, tritt vielleicht auf der Stelle, aber sie ist kein Phantom. Sie will neu entdeckt werden. … Laut Manfred Güllner von Forsa rechnen sich heute kaum noch 30 Prozent der SPD-Anhänger ‚der politischen Mitte’ zu, aber 55 Prozent zum linken Spektrum. … Die Politik der neuen Mitte war nicht etwa sensationell neu. Sie war ein konservativ-freundlicher Blick auf alte Erfahrungen und erprobte Gewissheiten. Sie war die Rückbesinnung auf die Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft. Personalität, Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohlorientierung – die Erfolgsformel der Bundesrepublik stimmte noch immer, ihre Variablen waren nur mit neuen Werten zu füllen. Ludwig Erhard wäre einverstanden gewesen, sich die ‚Politik der neuen Mitte’ widmen zu lassen.“ (Hombach 2013)
Die Politik der „Neuen Mitte“ als illusionäres Projekt
In der Tat hatte die Sozialdemokratie mit ihrer Konzeption der „Neuen Mitte“ 1998 erfolgreich eine Politisierung der mittleren Gesellschaftsschichten erreicht. Es sollte endlich wieder fair in der Gesellschaft zugehen und auch die Rolltreppe einer gesellschaftlichen Aufstiegs wieder in Betrieb genommen werden. Getragen von der Überzeugung, dass die Vermögensbesitzer geschont werden müssen und der Sozialstaat nur über eine Begrenzung der Ansprüche zu stabilisieren ist, hat sie allerdings mit ihrer Deregulierung der Finanzmärkte, ihrer Steuerpolitik und den „Hartz-Gesetzen“ zur Flexibilisierung des Arbeitsmarkts der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation in Deutschland erst endgültig zum Durchbruch verholfen. Das Versprechen für die geplagte ArbeitnehmerInnen-Mitte: Durch die Entkleidung der Löhne von Sozialleistungen sollte sie zur Vermögensbildung und damit zur privaten Absicherung sozialer Risiken befähigt werden.
Befragt man die Bevölkerung nach ihrer Selbstverortung im sozialen Gefüge der Berliner Republik, zeigt sich, „dass das Bild einer geschichteten Gesellschaft im Bewusstsein der Bevölkerung unverändert fest verankert ist und dass es zudem klare Vorstellungen über die eigene Platzierung in der Schichtstruktur gibt“ (Noll/Weick 2011: 6f.). Vor allem im Westen ist die subjektive Einstufung über die Jahre stabil geblieben. Die Tendenz der „Schrumpfung der Mittelschicht“ spiegelt sich in der Wahrnehmung der eigenen Position nicht wider. „Trotz eines beachtlichen strukturellen und institutionellen Wandels hat sich die Verteilung auf die Schichten zwischen 1980 und 2008 praktisch nicht verändert“ und ordnen sich 60 Prozent der Befragten in Westdeutschland der Mittelschicht zu. Dass sich trotz sozialer Polarisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse die Verteilung der subjektiven Schichtzugehörigkeit als so stabil erweist, liegt auch daran, dass die Befragten die Veränderung des Bezugsrahmens mitberücksichtigen: Auch die anderen haben mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen zu kämpfen. (Siehe Abb.)
Beruf, Einkommen, Bildungsabschluss sind bei der Selbstverortung die wichtigsten Statusfaktoren. Die Faustregel lautet: „Je höher der Bildungsabschluss, der berufliche Status und das Einkommen, desto höher ist im Allgemeinen auch die soziale Schicht, der man sich zugehörig fühlt.“ (Ebd.) Die Selbstverortung hat selbstverständlich eine reale gesellschaftliche Grundlage: Im Deutschland der Nachkriegszeit hat sich vor dem Hintergrund einer florierenden Kapitalakkumulation – wie in anderen kapitalistischen Metropolen auch – eine breite und zunächst durchlässige Mittelschicht (zusammengesetzt aus Lohnarbeitern des Kapitals, lohnabhängigen Mittelklassen [befördert vor allem durch den Ausbau des Sozialstaats] und den diversen Schichten des Kleineigentums) herausgebildet. Dies verband sich mit der meritokratischen Vorstellung, über eigene Bildungsanstrengungen und die im Produktionsprozess und am Markt erbrachten persönlichen Leistungen Einkommen und gesellschaftliche Position sichern zu können. Nicht mehr die Geburt, wie in feudal-ständischen Gesellschaften, oder Erbschaften, sondern durch eigenes Handeln erworbene Eigenschaften, also insbesondere (Aus-) Bildungsqualifikationen, sollten entscheiden, welche (beruflichen) Positionen Menschen einnehmen können – und welche (ungleichen) Möglichkeiten der Einkommenserzielung ihnen damit offen stehen oder verschlossen bleiben.
Meritokratie basiert im Unterschied zu anderen Gesellschaftsordnungen auf persönlicher Leistung, die zunächst vom Markt festgestellt wird, danach aber auch in allen anderen Gesellschaftssphären zur Richtschnur von Einkommen und gesellschaftlichen Positionen werden soll. Die Ungleichheit von Einkommen und Statuspositionen soll also in der Regel das Resultat eines Leistungswettbewerbs sein. Daher wird die „soziale Marktwirtschaft“ als Leistungsgesellschaft präsentiert. Nur in den vermeintlich wenigen Fällen, bei denen die individuelle Leistungsfähigkeit und der marktorientierte Leistungswettbewerb eingeschränkt sind, soll durch soziale Transfers ausgeglichen werden.
Leistung und „Mitte“ sind also eng miteinander verknüpft. Die zentrale Einkommensquelle der mittleren Einkommenslagen ist Arbeit, während die Rentiers die Oberschicht prägen und Sozialtransfers die Unterschicht stützen. Die Rede von den „Leistungsträgern“ findet hier ihren rationalen Kern. Für die Politik ist die „Mitte“ daher eine gesellschaftspolitische Zielgröße. Sie wird als ein stabilisierender Faktor der Demokratie betrachtet. Sie gilt als Trägerin gesellschaftlicher Integration in soziokultureller und politischer Hinsicht. Durch eine Erosion würden sich soziale Spannungen erhöhen.
Gleichwohl gilt es zu beachten, dass die „Mitte“ der Gesellschaft sehr viel vielfältiger ist als das Milieu der Reichen. Während zu den Reichen Erben, Rentiers, Unternehmer und Manager (insbesondere aus dem Finanzsektor) zählen, gehören zur Einkommensmitte eine Vielzahl an Berufen, Bildungsabschlüssen und Vermögenspositionen. Ganz überwiegend handelt es sich um Lohnabhängige aus den verschiedenen Teilbereichen gesellschaftlicher Arbeit (Industrie, Dienstleistungen und Staat). Diese mittleren Einkommenslagen teilen die Vorstellung einer auf eigener Anstrengung (Bildung) und Arbeit basierenden gesellschaftlichen Stellung und legen auf gesellschaftliches Fair Play, auf Achtsamkeit auch für die Schwachen, auf Chancengerechtigkeit und Balance großen Wert – nicht zuletzt um ihrer eigenen Zukunft und der ihrer Kinder willen.
Das Aufstiegs- und Leistungsversprechen gerade für die mittleren Einkommenslagen war die zentrale Botschaft der „Sozialen Marktwirtschaft“. Diese meritokratische Ordnung war schon in der Nachkriegszeit eine Illusion. Ihre Hartnäckigkeit hatte allerdings einen rationalen Grund: das Versprechen sozialen Aufstiegs, der in den ersten Nachkriegsjahrzehnten für eine Mehrheit der Lohnabhängigen auch tatsächlich stattgefunden hat, ohne dass davon allerdings die Abstände zwischen Oben und Unten tangiert worden wären. Der „Rolltreppeneffekt“ bestand vielmehr darin, dass das gesamte Ungleichheitsgefüge eine oder mehrere Etagen höher gefahren wurde.
Zeitweilig hatte es den Anschein, dass durch den Ausbau der Mitbestimmung, durch soziale Reformen und den Abbau der Bildungsbarrieren eine meritokratische Gesellschaftsordnung herstellbar sei. Dieses Versprechen ist im Verlauf insbesondere des letzten Jahrzehnts zurückgenommen worden. Deshalb wird das System der „Sozialen Marktwirtschaft“ aus Sicht großer Teile der Bevölkerung schon länger seinem Anspruch nicht mehr gerecht. Für mehr und mehr Lohnabhängige wird sozialer Aufstieg durch Arbeit eine Illusion. Unter den Bedingungen der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation, der „Jagd nach dem kurzfristigen Profit“, ist für einen beträchtlichen Teil der Lohnabhängigen die Reproduktion der Arbeitskraft nur mehr eingeschränkt gegeben und wegen der Abkoppelung der Arbeitslöhne vom Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtums erodieren die Systeme sozialer Sicherheit.
Erosion der Mitte
Den Kern der Restrukturierung der Kapitalakkumulation bildet die über die Liberalisierung des Kapitalverkehrs Ende der 1970er Jahre herausgebildete neue Qualität der Finanzmärkte. Die Akkumulation in der Realökonomie verliert an Dynamik, die Investitionen sind in Verhältnis zur Wirtschaftsleistung rückläufig und die Anlagen in den Formen des fiktiven Kapitals (Aktien, Wertpapiere) gewinnen an Gewicht. Diese Umschichtung auf die Finanzsphäre wird verstärkt durch die Ausbreitung von prekären Beschäftigungsverhältnissen und die schrittweise Zerstörung der kollektiven Formen sozialer Sicherheit. In dieser Entwicklungsrichtung gewinnt der Finanzbereich die Vorherrschaft über die Wertschöpfung.
Im Kern handelt es sich um eine Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der organisierten Vermögensverwaltung, die in der Folge zum einen eine Auflösung der Form der organisierten Lohnarbeit und über die Prekrarisierung eine Veränderung der Verteilungsverhältnisse im nationalstaatlich organisierten Kapitalismus nach sich zieht. Zum andern wird diese veränderte Machtstruktur verstärkt durch den Umbau öffentlich organisierter sozialer Sicherung in Kapitalmarktprodukte. In der letzten Konsequenz soll ein von vielfältigen Formen fiktiven Kapitals überformter gesellschaftlicher Verwertungsprozess für eine Verteilung des gesellschaftlichen Surplus sorgen.
Die Akteure auf den Finanzmärkten setzen einzelwirtschaftlich eine Hegemonie des Shareholder value in der Realökonomie durch, was zu einem beschleunigten Umbau der Unternehmenslandschaft und zu einer Ausweitung der Finanztransaktionen führt. Aus den Betrieben werden überdurchschnittliche Gewinne herausgepresst – zum Nachteil der Beschäftigten, zum Nachteil der Lieferanten und Kooperationspartner und zum Nachteil der Innovationspotenziale. Eine solche Unternehmenspolitik liefert den Kapitalgesellschaften auf kürzere Sicht durchaus Impulse und stützt zunächst die Shareholder-Orientierung. Auf mittlere Sicht führen diese Umschichtungen in den betrieblichen Wertschöpfungsketten zu einer Verschärfung der sozialen Spaltung, der stärkeren Ausrichtung auf die Exportmärkte und letztlich zu einer Untergrabung der Ansprüche auf gesellschaftlichen Reichtum. Gesamtgesellschaftlich setzt sich die Ausrichtung am Shareholder value und die dahinter steckende Begünstigung der leistungslosen Kapital- und Vermögenseinkommen in einer fallenden Quote der Arbeitseinkommen und einer relativen Verselbständigung der Finanzmärkte nieder.
Die Herausbildung der Herrschaft der Finanzmärkte vor dem Hintergrund einer chronischen Überakkumulation bedeutet also geringere Akkumulationsraten, Verdrängung von angelegtem Kapital, Überkapazitäten, Lohnsenkungen, wachsende Asymmetrie und Prekarisierung der Arbeits- und Einkommensverhältnisse. Dazu kommt der politische Prozess der Deregulierung: Mit der Behauptung, der Sozialstaat, letztlich die überzogenen Ansprüche der Lohnabhängigen, seien Schuld an der lahmenden Akkumulation, zielt der neoliberale Politikansatz auf die systematische Begünstigung der Vermögenseinkommen, auf Lohnzurückhaltung, sozialen Druck durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse und einen Rückbau sozialer Transfers.
Kennzeichen der finanzmarktgetriebene Kapitalakkumulation ist deshalb eine wachsende soziale Polarisierung – sowohl der Einkommen als auch der Vermögen. Diese Tendenz hat sich verfestigt, wie aus den von der OECD veröffentlichen Daten (Zeitraum 2007 bis 2010) zur Einkommensverteilung (OECD 2013 a und b) hervorgeht.
Im Blickpunkt der politischen Auseinandersetzung um die durch den Finanzmarktkapitalismus ausgelöste Verschärfung des Gegensatzes der Klassen stehen die unter Druck geratenen „Mittelklassen“, „Mittelschichten“ bzw. die „gesellschaftliche Mitte“. Sie werden definiert nach der Höhe des Einkommens, Qualifikation und sozialer Stellung im Beruf. „Mitte“ lässt sich „über drei zentrale Merkmale definieren: ein hinreichendes Einkommen, ein bestimmtes Maß an Bildung bzw. beruflicher Qualifikation und eine berufliche Position jenseits gering qualifizierter und körperlicher Arbeit.“ (Bertelsmann-Stiftung 2013: 48) Ein genauerer Blick auf die auf diese Weise bestimmte „Mitte“, zeigt allerdings, dass hier ganz disparate Personenrubriken zusammengefasst werden: u.a. qualifizierte Lohnarbeiter des Kapitals, Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Solo-Selbständige und auch Nichterwerbspersonen (Rentner, Pensionäre), die selbst, je nach Stellung im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess[1] ganz unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen unterliegen. Die entwickelte bürgerliche Sozialforschung räumt denn auch ein: „Allerdings ist die Mittelschicht weder ein einheitliches ‚Großkollektiv’ noch ein in sich homogenes gesellschaftliches Segment. Sie ist vielfach untergliedert, umfasst unterschiedliche sozialstrukturelle Gruppen, Soziallagen, Professionen und Milieus. Die genannten Entwicklungen sorgen heute dafür, dass sie sich immer weiter differenziert. Die Mittelschicht als Ganzes kann somit nicht mehr als ‚robuste Stabilitätszone der Gesellschaft’ (Vogel 2009) charakterisiert werden, weil Sicherheit und Unsicherheit, Wohlstand und Prekarisierung heute nebeneinander existieren.“ (ebd. 120f.)
In der Einkommensverteilung lassen sich vier Entwicklungstendenzen feststellen:
- Erstens verfestigt sich die Einkommensschichtung. Die unteren 20 Prozent der Einkommensbezieher hängen weitgehend fest in ihren prekären Verhältnissen.
- Zweitens sind die unteren sozialen Schichten nicht nur stark gewachsen, sondern absolut und relativ immer ärmer geworden, während gleichzeitig die Vermögenden immer reicher wurden. Das Wachstum einer verfestigten Unterschicht und einer darüber gelegenen Zone der Prekarisierung wird zugleich durch ethnische und geschlechtsspezifische Merkmale überlagert.
- Drittens. Bei der absoluten und relativen Einkommenspolarisierung ist die „Mitte“ unter die Räder gekommen. Einerseits ist der Abstand zu Besserverdienenden und Vermögenden größer geworden. Andererseits schmilzt die Mitte nicht nur, sondern muss auch deutliche Einkommenseinbußen hinnehmen.
- Schließlich, und das ist nicht nur quantitativ, sondern auch hinsichtlich der sozialen Perspektiven entscheidender, sinkt ein immer größerer Teil der „Mitte“ ins Prekariat.
Als Folge der Wirtschaftskrise 2008 ff. sind die Arbeits- und Kapitaleinkommen in den meisten OECD-Staaten beträchtlich gesunken, gleichzeitig haben sich die Prozesse sozialer Polarisierung beschleunigt fortgesetzt. Im Durchschnitt der OECD-Länder ist es zu einem Rückgang der Markteinkommen der Haushalte um jährlich 2 Prozent gekommen. Dazu haben vor allem die höhere Arbeitslosigkeit und geringere reale Lohneinkommen beigetragen.
Die Schere in der Verteilung der Markteinkommen hat sich in dieser ersten Phase der Krise in den meisten OECD-Ländern noch weiter geöffnet. Gemessen am Gini-Koeffizienten (er beträgt 0, wenn alle Menschen in einer Gesellschaft das gleiche Einkommen erhalten und 1, wenn eine Person das gesamte Einkommen bezieht) ist die Ungleichheit in der Verteilung im Durchschnitt der OECD-Länder zwischen 2007 und 2010 um 1,4 Prozent gestiegen. Im Durchschnitt der OECD liegt der Gini-Koeffizenz damit jetzt bei einem Wert von 0,31. (Vgl. OECD 2013a)
Soziale Ungleichheit und Verunsicherung
Die Sozialdemokratie hat den Kampf um die „Neue Mitte“ verloren. Die Vorstellung man könne die „Mitte“ durch Vermögensbildung stabilisieren und die unteren sozialen Schichten eingrenzen, erwies sich als illusionär. Die Klassen- und Sozialstruktur hat sich unter der Herrschaftsform des Finanzkapitals durch die jahrzehntelange Stagnation der realen Arbeitseinkommen, die Ausbreitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die Einschnitte ins soziale Netz und die Verschlechterung der öffentlichen und sozialen Dienstleistungen mehr und mehr verändert. Rot-Grün hat durch die Agenda-Politik und die massiven Steuersenkungen vor allem für Besserverdienende und Vermögensbesitzer die soziale Polarisierung und damit die Erosion der Mitte massiv befördert.
Für die verfestigte Unterschicht haben sich durch die von Rot-Grün betriebene Absenkung der Sozialeinkommen deutliche Verschlechterungen ergeben. Zugleich hat sich für die Haushalte mit prekärem Wohlstand die Bedrohung des sozialen Absturzes (Lockerung des Kündigungsschutzes, verschärfte Zumutbarkeitsregelungen, kürzere Laufzeiten) deutlich verschärft. Selbst für die Haushalte, die auf einen vermeintlich sicheren Wohlstand blicken, hat sich durch die Politik der erhöhten Eigenvorsorge und die Verschlechterung öffentlicher Dienstleistungen teilweise eine Verschlechterung, mindestens aber eine Verstärkung der Unsicherheit eingestellt. Durch den Entkleidungsprozess des Lohnarbeitsverhältnisses von seinen sozialen, kollektiven Momenten gerät die gesellschaftliche Mitte unter Druck. Die Sozialdemokratie hat nicht nur den Kontakt zur verfestigten Unterschicht verloren, sie hat darüber hinaus den Status der Interessenvertretung der Haushalte mit prekärem Wohlstand verloren.
Die Vorstellung, dass Arbeit und Eigentum auf eigener Anstrengung und Arbeit basieren, ist durch die wachsende soziale Polarisierung und den unverschämten Reichtum der Reichen nachhaltig beschädigt. So empfanden schon vor der Großen Krise fast drei Viertel (73 Prozent) der BundesbürgerInnen die wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande als „nicht gerecht“. Gleichzeitig hatten schon damals erstmals mehr Menschen von der „Sozialen Marktwirtschaft“ eine „eher schlechte“ Meinung. Die Große Krise hat die Befürchtungen der gesellschaftlichen Mitte auf eklatante Weise bestätigt. Sie nährt die bestehenden Vorbehalte gegenüber sozioökonomischen Modernisierungsprozessen. Insbesondere aber dürften Bunkermentalitäten im Kommen sein: Die Erfahrung, dass in kurzer Zeit das globale System in Gänze ins Schwanken geraten konnte, zementiert Mitte-Haltungen wie „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“. Solche Reaktionsmuster, die Konzentration der Mittelschicht auf sich selbst, auf die eigenen Belange, ihr Rückzug auf den unmittelbaren Nahbereich, erhalten nun nochmals einen Schub. Der Wunsch wird stärker, sich, wo immer möglich, von äußeren Einflüssen freizumachen, die die gesamte Lebensbalance aus den Fugen geraten lassen können. Dabei gibt die „Mitte“ ihr Empfinden für Gerechtigkeit keineswegs auf. Sie erlebt aber gerade eine weitere herbe Frustration: das Versagen der ökonomischen und politischen Eliten bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise.
Die vom Finanzmarktkapitalismus bewirkte Destabilisierung des Lohnarbeitsverhältnisses bedroht also auch die mittleren Einkommenslagen. Stagnierende Lohneinkommen, der Abbau von sozialer Sicherheit und öffentlichen Dienstleistungen, die nicht durch eigene Vermögensbildung kompensiert werden können, und eine vermehrte Abwärtsmobilität in Richtung der prekären sozialen Schichten bilden den Nährboden für eine wachsende Verunsicherung innerhalb der gesellschaftlichen Mitte, die sie empfänglich macht für Ausgrenzungs- und Schließungsprozesse gegenüber der wachsenden Zahl derer, die sich ohne Arbeit oder mit prekärer Beschäftigung durchschlagen müssen.
Weder neoliberale Politik der 1980er und 1990er Jahre noch die Politik der „Neuen Mitte“ haben ihr Versprechen, die Lage der „Mitte“ durch Förderung der Vermögenstitel bzw. durch Entkleidung des Lohns von Sozialleistungen zu stabilisieren und ihr Spielräume für private Absicherung zu schaffen, einlösen können. Die Folge war auch innerhalb der „Mitte“ eine wachsende Distanz zum politischen System und die weitere Erosion der ehemaligen Volksparteien.
Diese Verunsicherung der „Mitte“ und die Krise ihrer politischen Repräsentanz kann auch von der herrschenden politischen und ökonomischen Elite nicht bestritten werden. Gleichwohl behaupten Teile dieser Elite gegen alle auch empirisch nachweisbaren Entwicklungstendenzen, dass schrumpfende Mittelschicht und Einkommenspolarisierung bloße Mythen sind, und die Statuspanik der „Mitte“ unbegründet ist.
Gleichzeitig wird allerdings – damit dem Zersetzungsprozess der „ Mitte“ durchaus Rechnung tragend – ein weitreichender Paradigmenwechsel vollzogen, den man auch als Abschied von der „Mitte“ als tragendem Fundament bürgerlicher Politik bezeichnen könnte: „Fraglich ist allerdings, ob die Mittelschicht tatsächlich eine moderne und komplexe Gesellschaft wie die unsrige zusammenhalten kann und wie wichtig damit eine große Mittelschicht ist. (…) Fakt ist: Eine stabile Gesellschaft mit sozialem Frieden ist nicht auf eine große Mittelschicht angewiesen, sondern kann auch über Mobilitätschancen gewährleistet werden.“ (Enste u.a. 2011: 15)
Nur gerade diese „Mobilitätschancen“ haben sich unter den Bedingungen der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation und den Wirkungen neoliberaler Politik drastisch verschlechtert. Die Rolltreppe, mit der man den Zusammenhang von Ausbau der sozialen Sicherheit, beschleunigter Kapitalakkumulation und einer geringfügigen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegsgeschichte bildlich veranschaulichen konnte (mit dem Wachstum steigt jeder auf, aber der Abstand zwischen den Individuen und sozialen Gruppierungen, die auf den verschiedenen Stufen platziert sind, bleibt), funktioniert nicht mehr. Stattdessen setzen Schrumpfungstendenzen, das Zurückbleiben hinter der Spitze, verstopfte Aufstiegskanäle, die Prekarisierung und die zunehmende Löchrigkeit des einstmals dicht geknüpften Sicherheitsnetzes der „Mitte“ zu und führen zu Verunsicherung und Unzufriedenheit.
Dazu trägt auch bei, dass ein guter schulischer Abschluss und eine berufliche Qualifikation keineswegs mehr automatisch eine sichere Positionierung in der Mitte garantieren. „Durch den breiteren Zugang zu tertiärer Bildung und die Inflation von Bildungsabschlüssen ist ein qualifizierter Abschluss wichtig beim Zugang zur Mittelschichtenexistenz, doch selbst ein Hochschulabschluss stellt dafür heute eher eine notwendige, noch keine hinreichende Bedingung dar.“ (Bertelsmann-Stiftung 2013: 120) Die Folge: „Bot Bildung vor einer Generation noch die Chance für sozialen Aufstieg und Akkumulation von Ressourcen und Prestige, so ist Bildung heute aus Elternsicht die notwendige und nicht substituierbare Voraussetzung für Anerkennung und Statuserhalt. Bildung ist nicht mehr mit der Verheißung von Aufstieg verbunden, sondern soll das Risiko des sozialen Abstiegs reduzieren.“ (Wippermann/Wippermann/Kirchner 2013: 66; vgl. dazu Bullan 2013: 42ff.)
Hinzu kommt schließlich, was bei den interessengeleiteten Untersuchungen zur „Mittelschicht“ vollkommen unterschlagen wird, aber die Verunsicherung in der Mitte massiv befördert, dass die Finanzkrise auch die von den mittleren Einkommenslagen vor allem für die private Absicherung sozialer Sicherheit gehaltenen (bescheidenen) Vermögenstitel bedroht und z.T. auch vernichtet.
Eine überzeugende politische Konzeption zur Stabilisierung der gesellschaftlichen „Mitte“ in der Großen Krise ist bei den Aufklärern über den „Mythos Mittelschicht“ nicht erkennbar.
Perspektive
Die Finanzkrise war nicht einfach ein Betriebsunfall, sondern sie hatte ihren Grund in einer Entfesselung der Finanzmärkte. Zu Recht warnt der amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman vor der Gefahr der Entwicklung hin zu einer Großen Depression wie 1931ff. „Früher glaubten Ärzte, ein Aderlass könne teuflische Körpersäfte beseitigen. Heute glauben Mediziner nicht mehr, dass der Aderlass Kranke heilt. Unglücklicherweise aber viele Wirtschaftspolitiker. Der ökonomische Aderlass verursacht nicht nur großer Schmerzen. Er dörrt unser langfristiges Wachstum aus.“ (Krugmann 2011) Mit Lohnsenkungen, Kürzungen von Sozialtransfers und öffentlichen Dienstleistungen sowie der Ausweitung der Arbeitszeiten und der Erhöhung des Rentenalters wird deshalb weder die gesellschaftliche Mitte stabilisiert noch ein Ausweg aus der Krise eingeleitet.
Wenn Sozialdemokratie wie Grüne mehrheitlich im Kern an der Vorstellung festhalten, dass die oberen Einkommen nur begrenzt zusätzlich belastet werden können, sich also weitergehende Eingriffe in die Verteilungsstrukturen verbieten, und gleichzeitig auch noch der „Schuldenbremse“ ihren Tribut zollen, bleibt als logische Konsequenz nur die „Effektivierung“ des Sozialstaats und damit die (notfalls auch repressiv durchzusetzende) Begrenzung der Ansprüche der unteren Einkommensschichten. Offen bleibt dabei die Abgrenzung gegenüber den sich herausschälenden Optionen einer Verschärfung der Selektionspolitik gegenüber den sozial Schwächeren und MigrantInnen.
Die große Mehrheit der Bevölkerung hält nicht nur den aktuellen Stand der Verteilungsgerechtigkeit für unbefriedigend, sondern ist auch überzeugt, dass soziale Gerechtigkeit in Deutschland eher auf dem Rückzug ist. Knapp zwei Drittel der Bevölkerung sind der Auffassung, dass die soziale Gerechtigkeit in den letzten drei, vier Jahren abgenommen hat, lediglich 7 Prozent sehen eine positive Entwicklung.
Die Option eines reaktionär-populistischen Wegs hat schon jetzt in vielen Ländern vor dem Hintergrund der schwärenden und jetzt wieder offen ausgebrochenen Wirtschafts- und Finanzkrise großen Zulauf auch aus der gesellschaftlichen Mitte erhalten. Ob in den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, Belgien oder Frankreich: Der Einfluss rechtspopulistischer Parteien wächst. Wobei sich das Gebräu aus Europa-Skeptizismus und nationalistischer Rückbesinnung in den politischen Arenen unterschiedlich artikuliert: In Italien, Ungarn und Österreich sind Rechtspopulisten durch Regierungsbeteiligung längst hoffähig geworden.
Mit der „Alternative für Deutschland“ (AfD) hat eine in größeren Teilen rechtspopulistische Mannschaft in kürzester Zeit (seit Mai/Juni 2013) starken Zulauf erhalten und ist nur knapp mit 4,7 Prozent (über zwei Mio. WählerInnen) am Einzug in den Bundestag gescheitert. Die AfD stellt die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ins Zentrum, sie nimmt den Übergang in das nationalstaatliche Gehäuse (vom Geld bis zur Staatsbürgerschaft) in Kauf, gleichgültig wie die europäischen Nachbarstaaten ihre massive Krise bewältigen. Einwanderung ja, aber nur ohne Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen und einem sozialen Ausgleich. Diese radikalisierte Haltung, die sich schon in der CSU-Parole von einer Maut für Ausländer anbahnt, bietet Stoff für eine rechtspopulistische Programmatik.
Eine brisante Neuformierung des bürgerlichen Lagers zeichnet sich damit in Deutschland im Anschluss an Verhältnisse wie beispielsweise in Österreich ab. Die Zertrümmerung der FDP, die Formierung einer nationalorientierten rechtspopulistischen Partei und eine zwischen Widerborstigkeit und Lähmung schwankende Sozialdemokratie sind eine Gefahr für eine sozialdemokratisierte christliche Volkspartei mit ihrer Zielsetzung, auch künftig stabile Regierungsverhältnisse zu etablieren.
Literatur
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[1] Eine Aktualisierung der ökonomischen Anatomie der Klassen in den entwickelten kapitalistischen Ländern auf Basis der Kritik der politischen Ökonomie bleibt eine wichtige Zukunftsaufgabe der sozialistischen Linken, deren Umsetzung allerdings entsprechende Ressourcen (Zeit, Geld) voraussetzt (siehe Bischoff u.a. 1982).