EDS (Electronic Data Systems Corporation, gegr. 1962) war mit ca. 110.000 Beschäftigten bis zum Jahr 2008 einer der größten IT-Dienstleister in Deutschland und weltweit, eine der Vorreiterfirmen für IT-Outsourcing mit Großkunden wie General Motors, Xerox, Fluggesellschaften, aber auch US-Behörden und Militär. Nach der Übernahme durch Hewlett-Packard (HP) im Oktober 2008 wurden Massenentlassungen angekündigt, in Deutschland (Standorte u.a. in Rüsselsheim, Ludwigsburg, Hamburg, Düsseldorf) betraf dies 1.150 von 4.200 Arbeitsplätzen. Darauf reagierte die Belegschaft mehrheitlich mit einem fast fünfwöchigen Streik (siehe These 2).
These 1: Die IT-Branche ist eine normale Industrie
Die IT-Branche ist spätestens seit dem Jahre 2001 mit dem Platzen der IT-Blase zu einer normalen Industrie geworden. Mit der Folge, dass die Profitraten unter Druck gerieten.
Auf der Kundenseite – für EDS spielte hier insbesondere General Motors eine wesentliche Rolle – hat man gelernt, die IT-Lieferanten genauso unter Druck zu setzen,wie andere Zulieferer auch. Das Angebot auf der Arbeitskraftseite hat sich durch die verbesserten technischen Möglichkeiten der globalen Vernetzung, durch Prozess- und Produktstandardisierungen und die massenhafte Ausbildung von IT-Fachleuten in Niedrigerlohnländern wie Indien und China („off shore“, „best shore“) massiv ausgeweitet.
Oft wird gesagt, dass der massenhafte Einsatz der Informationstechnik zu einem ungeheuren Produktivitätsfortschritt geführt habe, der wiederum wesentlich zum Anstieg der Arbeitslosigkeit beigetragen habe. Hierzu zwei Zahlen: Die jährliche Zunahme der Produktivität in den USA von 1891 bis 1972 betrug 2,33 Prozent, der jahresdurchschnittliche Zuwachs von 2004 bis 2012 1,33 Prozent. Ist die IT-Industrie auch in diesem Sinne nicht eine ganz normale Produktionsmittelindustrie? Und hat der Wieder-Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht vielleicht andere wesentliche Ursachen?[1]
These 2: Gewerkschaft ist ok – aber warum ich?
Das Bewusstsein, dass gegen Arbeitsverdichtung, Flexibilisierung, Prekarisierung und Arbeitsplatzvernichtung „eigentlich“ nur gewerkschaftliche Organisation hilft, ist in der „technischen Intelligenz“ weit verbreitet. Aber in (relativ) ruhigen Zeiten kann man/frau sich doch den Beitrag sparen, und karriereförderlich ist eine offene Gewerkschaftsmitgliedschaft oder gar Aktivität auch nicht. Und in unruhigen Zeiten? Es ist objektiv schwer, sich zu wehren, da gibt es die Standortkonkurrenz innerhalb eines Konzerns, da gibt es die Globalisierung … Daraus ergeben sich durchaus nicht abwegige Fragen nach den Erfolgschancen des Sich-Wehrens.
Und es gibt Befürchtungen, wie sie der GBR-Vorsitzende von Opel, Wolfgang Schäfer-Klug äußert: „Aber wahr ist auch, dass überzogener Radikalismus am Ende dazu führen kann, dass ein solcher Standort in seiner Zukunft gefährdet wird. … Das Management in diesen US-Unternehmen hat ein langes Gedächtnis.“[2]
Trotzdem gab es bei EDS/HP, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fast vollständig zu den Hochqualifizierten gerechnet werden konnten, folgende Entwicklung: Anfang 2008 betrug der Organisationsgrad (beide vertretenen Gewerkschaften IG Metall und ver.di zusammengenommen) 3 bis 4 Prozent. Anfang 2009, einige Monate nach Bekanntwerden der mit der Übernahme durch HP verbundenen Abbaupläne (1.150 Arbeitsplätze sollten wegfallen) war der Organisationsgrad auf über 50 Prozent gestiegen – ein Bedürfnis fand seinen Gegenstand!
Dazu kam, dass die Behauptung von HP, man könne einen großen Teil der in Hochlohnländern wie z.B. den USA, Großbritannien, Belgien, Schweden, oder Deutschland Entlassenen in kürzester Frist durch IT-Spezialisten aus Asien ersetzen, nicht nur von vielen als Angriff auf ihre in oft langjähriger Ausbildung und Praxis erworbene Kompetenz, sondern auch aufgrund von Erfahrungen aus vielen Jahren „off-shoring“ als völlig unglaubwürdig betrachtet wurde. Deshalb war die Aussage von Gewerkschaften und Betriebsräten, dass die geplanten Massenentlassungen nicht nur menschenverachtend, sondern auch geschäftsschädigend seien, angesichts der Bewusstseinslage der IT-Spezialistinnen und Spezialisten ein gewichtiges Argument.
Ein Bedürfnis fand hier seinen Gegenstand, die Gewerkschaft, weil diese entsprechend vorgeformt war: gute, transparente BR-Arbeit, Betonung der Sinnhaftigkeit von Gewerkschaften im betrieblichen Alltag und bei Betriebsversammlungen; (einigermaßen) kompetentes Auftreten von Hauptamtlichen.
Aber es blieben eben auch mehr als 40 Prozent der Belegschaft, die in den gewohnten Denk- und Verhaltensschemata verharrten.
Auf den dann mit Zustimmung von mehr als 90 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in der Urabstimmung beschlossenen Streik reagierte die EDS-Geschäftsleitung als Marionette des Eigentümers HP mit den üblichen Mitteln: Streikbrecherprämien, Karriere- und Arbeitsplatzversprechen als Zuckerbrot, Drohungen mit Abmahnungen, Entlassung und Plattmachen der gesamten Tochtergesellschaft als Peitsche. Dazu kam der Einsatz von EDS-Beschäftigten aus England, USA, Indien, Spanien … sowie der Import von HP- und Drittfirmen-MitarbeiterInnen als Streikbrecher.
All dies wird wesentlich durch die global vernetzte automatisierte Computerlandschaft eines IT-Service-Unternehmens erleichtert. Jedenfalls solange in diesen Netzen vor den Firewalls keine virtuellen Streikposten den Streikbrechern den Zugriff erschweren.
Es war schwierig, auf europäischer und globaler Ebene Streikbrecheraktivitäten zu verhindern.[3] Zwar gab es über den EMB (Europäischer Metallgewerkschaftsbund) und UNI (Dachverband der europäischen Dienstleistungsgewerkschaften) Kontakte zu den Einzelgewerkschaften in verschiedenen Ländern und auch Unterstützungsbereitschaft. Wegen äußerst geringer Organisationsgrade in den HP- und EDS-Betrieben im Ausland tendierte allerdings die Wirkung entsprechender Aufrufe gegen Null. Nur in Spanien weigerten sich, auch auf Aufforderung der Gewerkschaft CCOO, viele Kolleginnen und Kollegen, Streikbrucharbeiten durchzuführen.
Unter diesen Bedingungen standen am Ende eines fast fünfwöchigen Streiks nur Teilerfolge. Trotz alledem war der Streik eine einschneidende (positive) Erfahrung. Eine klare Mehrheit der Kolleginnen und Kollegen sagte, der Kampf hat sich gelohnt, es wird immer wieder solche Auseinandersetzungen geben, wir können es auch schaffen, wieder Mehrheiten für Streikmaßnahmen zu bekommen. „Aufrecht gehen“, „morgens noch in den Spiegel sehen können“, „Würde bewahren“ waren wichtige individuelle Motive, die reale Erfahrung von Solidarität eine gewichtige und bleibende emotionale Stütze.
Was tun? Vor den aktiven Gewerkschaftern standen nach dem Streik folgende Aufgaben:
- Aufrechterhaltung des gewonnenen Bewusstseins von der Sinnhaftigkeit gewerkschaftlicher Organisation und solidarischen Kämpfens. Angesichts des Verlustes von fast 600 Arbeitsplätzen trotz intensiven Kampfes war auch dies keine Selbstverständlichkeit. Zumal das Bewusstsein auch der Streikenden in der Mehrheit noch stark von personalisierenden (HP-CEO Mark Hurd als „besonders gieriger, brutaler und kurzfristig denkender Vertreter seiner Spezies“) und nostalgischen Elementen geprägt war. Man/frau ahnt zwar, dass man gegen ein ganzes Systemprinzip angehen müsste, aber man tut – auch für’s eigene Bewusstsein – so, als ob …
- Strukturen und Bewusstsein müssen genutzt werden, um bei den ursprünglichen HP-Mitarbeitern ähnliche Prozesse, die bereits im Gang sind, zu stabilisieren und zu beschleunigen. Wie die Ereignisse im Jahre 2013 zeigten, gelang dies offenbar nicht rasch genug (vgl. die Schlussbemerkung zu These 6).
These 3: Hoch die Internationale Solidarität
Die Erfahrung, dass es schwierig war, auf europäischer und internationaler Ebene Streikbrecheraktivitäten im IT-Bereich zu verhindern, zog die klare Erkenntnis nach sich: TINA „Hoch die internationale Solidarität“. Aber auch: Das ist das Einfache, was schweeer zu machen ist!
Die Vertrauensleute der IG Metall bei HP in Rüsselsheim haben an den Gewerkschaftstag im Oktober 2011 deshalb einen Antrag zur Verstärkung der internationalen Kooperation gestellt, der auch angenommen wurde.
Die internationale Vernetzung haben sowohl Haupt- als auch Ehrenamtlichen im Fokus; sie ist aber mühsam und kostet Geld. Deshalb spiegelt die Einschätzung von Wolfgang Schäfer-Klug wohl die Realität wieder: „Da passiert immer weniger (die Resourcen werden wohl an anderer Stelle eingesetzt).“. Denn auch hier gilt: Wie die Ereignisse 2013 zeigten, gelang der Aufbau internationaler Verbindungen offenbar nicht schnell genug.
These 4: Intelligenz und Prekariat
Kampf und Streik-Methoden bei Intelligenz und Prekariat sind letztlich so verschieden nicht: Öffentlichkeit, Spaß haben, Würde bewahren, Image des Arbeitgebers angreifen … Dies gilt vielleicht auch deshalb, weil die Schwierigkeiten, sich zu organisieren und zu kämpfen in einer Umgebung, wo dies zunächst geradezu exotisch und auch nicht ohne Risiko ist, vergleichbar sind.
Die Einladung zur Tagung fragte nach der „Rolle der Intelligenz …, ihrer Beziehung zu anderen Fraktionen der Arbeiterklasse und zu subalternen plebejischen Sozialschichten …“. Na ja: „Die Putzen und wischen Staub während wir nicht da sind – und wehe, sie bringen mir dabei was durcheinander.“ Aber: beim Streik bei EDS/HP gab es Solidaritätsbesuche von VAC (Vacuumschmelze, Hanau), von Kita-Beschäftigten, von Federal-Mogul (Wiesbaden) …
Eine Besonderheit der in der IT-Branche arbeitenden Intelligenz ist wahrscheinlich das oben erwähnte Bewusstsein von der eigenen Kompetenz und der (zeitweiligen) Schlüsselstellung – vergleichbar zu den Druckern im vergangenen Jahrhundert.
These 5: Strategieforschung
Andreas Boes u.a. vom Münchener ISF schreiben: „Deshalb gilt abschließend: Qualifizierung für die Globalisierung wird nur dann zu einem Erfolgsfaktor werden, wenn sie in nachhaltige Internationalisierungsstrategien eingebettet ist. Unternehmen müssen dazu ein neues strategisches Leitbild einer ‚nachhaltigen Globalisierung’ entwickeln, und das heißt: den Menschen in den Mittelpunkt der Globalisierung zu stellen. Denn: Eine global vernetzte Ökonomie braucht die Menschen!“ [4]
Meine Erfahrungen bei und mit Siemens, EDS/HP, Opel/GM sagen etwas ganz anderes.
Albert Engelhardt stellte 1986 auf Basis des IMSF-Jahrbuchs 9 „Zukunft der BRD“ (1985) für „den sich herausbildenden Produzententyp des Jahres 2000“ die wachsende Bedeutung der Arbeitsinhalte, des Sinns und Zwecks von Arbeit und Produktion, Ansprüche auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung innerhalb und außerhalb der Arbeitssphäre, das Interesse an mehr Entscheidungsfreiheit und Demokratie heraus. In Auseinandersetzung mit den Konzepten von Späth und Biedenkopf erklärte er: „Nicht unterschätzt werden darf, dass das Konzept der Informationsgesellschaft an tatsächlich vorhandenen und sich zunehmend ausprägenden Bedürfnissen der Lohnabhängigen anknüpft.“[5]
Eben daher kommt zum Teil die erwähnte Nostalgie der IT-Beschäftigten mit Blick auf die Jahre 1986 bis 2000: Stichworte sind Autonomie, Flexibilität … vs. Stechuhr, Organisation …
Die Gegenüberstellung dieser Zitate heißt nicht, dass es nicht wertvolle Forschungen des ISF gibt und das alles, was beim IMSF heraus kam, zutreffend war. Aber es soll heißen, dass das „M“ für die ganze „Klasse an sich“ von der Intelligenz bis zum Prekariat wertvoll sein kann.
These 6: Sozialismus aus dem Rechner
Das Bewusstsein, „eigentlich“ könnten wir (die abhängig Arbeitenden) mit unseren Produktions- und Koordinationsmitteln alles selbst in die Hand nehmen, ist bei der abhängig arbeitenden „technischen Intelligenz“, gerade auch bei IT-Spezialisten, häufig da. Aber „die (Macht)-Verhältnisse, die sind nicht so“! Also gibt es teilweise Resignation, Abfinden mit dem andauernden „Maschinenwinter“ (Dietmar Dath).
Auf der anderen Seite sind große Teile der technischen Intelligenz nicht unberührt von Gedanken wie diesen: „Ein Risiko ist die Neigung zu exklusiver (Standort, Ethnie, …) Solidarität; eine Chance die Erarbeitung der Vision einer anderen Welt.“[6] Und: „Dieser Widerspruch (disposable time vs. Massenarmut) kann nur … jenseits des Profitprinzips aufgehoben werden.“[7]
Herbstliche Nachbemerkung im September 2013
HP schließt den Standort Rüsselsheim mit mehr als 1.300 Kolleginnen und Kollegen – und diesmal gab es zwar wieder Wut, Empörung, Proteste, symbolische Aktionen, Cebit-Protest, zweitägige Betriebsversammlungen, aber keinen Streik und damit keine wirksame Gegenwehr. HP setzt seinen Willen „locker“ durch.
Trotz kleiner Fortschritte bei den „Was tun“ – Aufgaben (siehe Thesen 2 und 3) war zum einen eine wirksame Streikunterstützung von den entscheidenden anderen (vorläufig verschonten) deutschen und internationalen HP-Standorten nicht zu erwarten. Zum anderen war auch die Kampfbereitschaft der Kolleginnen und Kollegen in Rüsselsheim selbst geschwächt: Knapp 180 Beschäftigte gingen zum Kunden Opel/GM über; bei „HP-„Partnerfirmen“ kamen mehr als 150 unter. Mehr als 300 Beschäftigte wurden an andere HP Standorte versetzt („Rosinenpickerei“ der Geschäftsleitung). Jüngere hoffen auf den Arbeitsmarkt, Ältere können eventuell mit der Abfindung bis zur Rente durchkommen. Der mehrhundertfache Rest versucht nun, über eine Qualifizierungsgesellschaft der Arbeitslosigkeit und Hartz 4 zu entkommen.
„Diese Organisation der Proletarier zur Klasse wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst.“ (MEW 4, S. 471)
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Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 30. 10. 2013.
[1] Vgl. Karl Marx, Das Kapital, 1. Band, 23. Kapitel, Abschnitt 4.
[2] In: Luxemburg, H. 1-2013.
[3] Vgl. meinen Bericht in Marxistische Blätter, H. 1-2010.
[4] Aus: Globalisierung in der Dienstleistungswirtschaft – strategische Herausforderungen für Arbeit und Qualifikation in der IT-Branche. Von Andreas Boes, Andrea Baukrowitz, Tobias Kämpf, Kira Marrs (ISF München), Hrg. Netzwerk Gesellschaftsethik e.V., 2011.
[5] Albert Engelhardt, Bundesrepublik 2000, Frankfurt/M. 1986, S. 153.
[6] Klaus Dörre bei der RLS Tagung „Erneuerung durch Streik“, Stuttgart, 1. - 3.3.2013.
[7] Frank Deppe, Politisches Denken im Übergang ins 21. Jahrhundert. Rückfall in die Barbarei oder Geburt einer neuen Weltordnung? Hamburg 2010.