Wolfram Burkhardt
Die Rolle der Intelligenz in den Gesundheitsberufen
Größter Beschäftigungssektor
Im Gesundheitswesen arbeiten derzeit knapp 4,9 Mio. Personen oder 13 Prozent aller Beschäftigten. Das sind – zum Vergleich – z.B. zehnmal so viele wie in der chemischen Industrie. Damit ist das Gesundheitswesen zahlenmäßig der größte Beschäftigungssektor in Deutschland. Etwa 2,9 Mio. Beschäftigte gehören zum Gesundheitspersonal im engeren Sinne (vgl. Übersicht).
Übersicht: Gesundheitspersonal im Gesundheitsbereich nach Berufen, 2012
Tabelle siehe PDF!
Quelle: Destatis 2013 (Stat. Bundesamt)
Der größte Teil der hier Beschäftigten erbringt personennahe Dienstleistungen in einem der wohlfahrtsstaatlichen Kernbereiche, welcher im Grundgesetz verankert ist. Der inneren Landnahme des Kapitals sind in diesem Bereich durch den Klassenkompromiss der Reichsversicherungsordnung und der nachfolgenden Sozialgesetzgebung rechtliche Rahmenbedingungen und Grenzen auferlegt worden. Diese Grenzen werden jedoch im Zuge der jeweiligen Hegemonialkonstellationen immer wieder neu in Frage gestellt und politisch ausgehandelt.
Gleichsam „von oben“ steuern der Staat und die Politik die Finanzierung und die Versorgung des Gesundheitssystems. Unterhalb dieser Ebene der Rahmenvorgaben und der Rechtssetzung haben sich korporatistische Institutionen herausgebildet, in welchen unterschiedliche Interessengruppen vermittels Körperschaften und Verbänden in- und außerhalb der Selbstverwaltung die engere Ausgestaltung des Gesundheitswesens mehr oder weniger kompromisshaft unter Staatsaufsicht aushandeln.
Für uns Analysten und Gegner des Kapitalismus kann das Gesundheitswesen und können die Gesundheitsberufe von besonderem Interesse sein, da zum einen die Gesundheit ein individuelles und konstitutives Gut darstellt, dessen Notwendigkeit für die Reproduktion und ein freies, gleiches und solidarisches Gemeinwesen außer Frage steht. Allein schon deswegen ist die Gesundheit politisch. Sie ist zudem politisch und politisierbar, da sich im Gesundheitswesen, seiner Organisation und Steuerung die Grenzverläufe und Überlappungen von öffentlichem Gemeinwesen und privatkapitalistischer innerer Landnahme seit dem Ende des Modell Deutschland besonders deutlich konkretisieren. Es geht dabei zum einen um klassische soziale Verteilungskämpfe, zum anderen um die Formierung von hegemonialen Konstellationen in der Transformation des Wohlfahrtsstaates – mit offenem Ausgang. Dabei kommt der Intelligenz in den Gesundheitsberufen eine besondere Rolle zu.
Die Ärzteschaft
Die größte Gruppe der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz im Gesundheitswesen ist die Ärzteschaft. Zahlenmäßig stellt sie mit knapp 330.000 Beschäftigten zwar nicht einmal ein Zehntel der workforce im Gesundheitswesen. Da die Ärzte aber aufgrund ihrer Kerntätigkeit als unmittelbare gesundheitliche Versorgungsinstanz, aufgrund ihres Status als Profession von Experten mit besonderen Rechten und Pflichten, der akademischen Ausbildung und ihrer spezifischen sozialstrukturellen Rekrutierung und Sozialisation einen historisch tradierten Sonderstatus genießen, ist das Bedienen ihrer spezifischen Interessen durch den jeweiligen Block an der Macht politisch seit über hundert Jahren von besonderer Bedeutung. Zur Absicherung von Hegemonie erscheint das Gewinnen der mittel- oder unmittelbaren Produzenten und Experten der Gesundheit und ihrer Organisationen seit einem historisch langen Zeitraum durchaus wichtig.
Umgekehrt jedoch ist es auch die Ärzteschaft, welche in Hegemoniekrisen ein Indikator und Bestandteil von Gegenhegemonie sein kann: Aufgrund ihrer überwiegenden Herkunft aus den mittleren und oberen sozialen Klassen, ihrer durch das Studium gewissermaßen natürlichen Zugehörigkeit zur Gruppe der Intelligenz sowie eines qua Berufstätigkeit tendenziell humanistischen Bewusstseins kam und kommt es immer wieder zu Absetzbewegungen vom klassisch-ständischen Bewusstsein des privilegiensichernden und Verwertungsinteressen wahrnehmenden Arztes.
Die Zeit reicht hier nicht, um historisch auf die Mitgliederzahlen der Ärzte in der KPD und der DKP einzugehen, sie reicht auch nicht, um auf die Herausbildung von wichtigen kritischen Intellektuellen aus der deutschen Ärzteschaft seit dem 19. Jahrhundert zu verweisen. Allerdings kann festgestellt werden, dass jede Krise des Sozialen, des Gesellschaftlichen, des Ökonomischen und des Politischen Bewegungen und Organisationen hervorbrachte, für die und in denen Ärzte und Ärztinnen eine wichtige Rolle spielten.
Niedergelassene …
Was die Organisationen betrifft – kaum ein gesellschaftliches Teilsystem ist so stark durch Verbandsmacht geprägt wie das Gesundheitswesen. Und hier zeichnet sich insbesondere die Berufsgruppe der Ärzte durch einen hohen Grad an Organisationsfähigkeit aus. Es sind die Verbände der niedergelassenen Ärzte, die Bundesärztekammer, die Kassenärztlichen Vereinigungen und der Hartmann-Bund, welche als harte und durchsetzungsfähige Sachwalter der materiellen Interessen und des Ideals der Freiberuflichkeit innerhalb des Gesundheitssystems agieren. Erst kürzlich z.B. intervenierte der Präsident der Bundesärztekammer in die politische Arena, indem er sich im Namen der niedergelassenen Ärzte gegen eine Bürgerversicherung und für die Fortexistenz der Privaten Krankenversicherung stark machte.
Sofern eine Mehrheit der niedergelassenen Ärzte von Deregulierung, Privatisierung und Ökonomisierung der Gesundheit profitiert, wird sie ihre Verbandsmacht und ihr Recht auf Sicherstellung und Selbstverwaltung für diese Politik benützen.
Gleichwohl zeigen Organisationen wie Médico International, Médecins Sans Frontières, der Vereinigung Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) u.a. mit ihren Aktivitäten und denjenigen ihrer Intellektuellen, dass ein Organizing der Intelligenz hier sinnvoll und wichtig ist.
…und angestellte Ärzte
Einen anderen Bereich der ärztlichen Intelligenz bildet der stationäre Sektor, insbesondere das Krankenhaus. Hier arbeitet mittlerweile die Mehrheit der deutschen Ärzte.
Organisatorisch ist der Krankenhaussektor von der dualen Finanzierung bei öffentlicher Sicherstellung der Länder geprägt. Was die Besitzverhältnisse betrifft, kommt es zu einem Bedeutungszuwachs privatkapitalistischer Träger. Gesamtgesellschaftlich steigt die Krankenhaushäufigkeit (Anzahl Aufenthalte von Bürgern im Krankenhaus) und damit der Stellenwert des Krankenhauses als Ort der gesundheitlichen Versorgung immens.
Im Krankenhaus und dessen interner Arbeitsweise können wir auch die größten Veränderungen im Sinne einer nachholenden Modernisierung der Arbeitsteilung und Arbeitsorganisation registrieren:
Verstärkt durch die Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen 2004 erfolgt unter den Bedingungen der Kostendämpfung eine betriebswirtschaftlich vorwiegend durch das Management und die Verwaltung gesteuerte einseitige, da vornehmlich technisch-organisatorische Modernisierung. Diese hat Auswirkungen auf die hier beschäftigten und im Gegensatz zum ambulanten Bereich angestellten Ärzte: Das Ausmaß an Spezialisierung, an Arbeitsverdichtung und Arbeitsteilung für den einzelnen Arzt nimmt zu. Die Möglichkeit, einen Patienten im humanistisch-ganzheitlichen Sinne zu behandeln, nimmt ab. Die Tätigkeit vieler Klinikärzte nimmt Formen eines allgemeinen Spezialisten im Angestelltenstatus an. Bezahlung, Status und Anerkennung sind durch diese Faktoren tendenziell gefährdet – es sei denn, der Krankenhausarzt wird im immer noch streng hierarchischen Krankenhaussystem Oberarzt oder Chefarzt – wenn er nicht die (begrenzte) Möglichkeit zur Niederlassung nach der Facharztausbildung nutzt. Diese – unsichere – Option und die – ebenso unsichere – Aussicht auf Aufstieg in den Rang eines materiell und arbeitsbezogen privilegierten Ober- oder gar Chefarztes disziplinieren viele unzufriedene Individuen aus dem Heer der Assistenzärzte im deutschen Kliniksystem.
Gemeinsam mit den niedergelassenen Ärzten ist ihnen ihr Bildungsweg, welcher die Ärzteschaft zu so einer besonders einheitlichen und im Zweifelsfall geschlossenen Berufsgruppe macht.
Kritisches Bewußtsein?
Einfallstore für die Formierung einer kritischen Intelligenz und für gegenhegemoniale Bewegungen und Organisationen sind genau diese Bildungswege; das Studium und die Erfahrungswelt der subalternen Assistenzärzte.
Solange jedoch die wichtigste gewerkschaftsähnliche Organisation für die Krankenhausärzte, der Marburger Bund, die vornehmlichen Interessen der privilegierteren Ärzte in Form von materiellen Lohnforderungen und Besitzstandswahrung vertritt, wird er schwerlich zu einem Formierungsort kritischer Intelligenz im ärztlichen Bereich werden.
Genau diese Mentaliät und Politik der Besitzstandswahrung begrenzt u.a. die – geringen – Möglichkeiten von ver.di im ärztlichen Bereich. Die Angst vor dem Abstieg hat die Ärzte bisher noch nicht erreicht – der Facharztmangel und die unverzichtbare Funktion der Ärzte im Krankenhaus sorgen für eine vergleichsweise überdurchschnittliche Gehaltsstruktur.
Eher quer zu den organisatorischen Korporationen der Ärzteschaft und den materiellen Fragen bildet die von vielen Ärzten so empfundene betriebswirtschaftlich geleitete und managementgetriebene Zergliederung des ärztlichen Handlungskerns – das Diagnostizieren, Operieren und Therapieren eines Patienten in der angemessenen Zeit – einen sehr aktuellen Anlass für die Auseinandersetzung mit den Veränderungen des eigenen Berufes, seinen Werten und Normen im Verhältnis zur politischen und sozialen Veränderung der Gesellschaft.
Hier – in der Thematisierung und Zuspitzung des Widerspruchs zwischen guter Medizin auf der einen und den Grenzen von Kommerzialisierung und Rationalisierung bei der Organisation einer solchen auf der anderen Seite – besteht zunehmend eine Politisierungsmöglichkeit der ärztlichen Intelligenz. Das gilt im Übrigen im kleineren Maßstab auch für den niedergelassenen Bereich. Dieser Widerspruch und die Auslotung der Möglichkeiten gegenhegemonialer Konstellationen im Gesundheitswesen erscheint mir im übrigen interessanter, als die Diskussion über Grundfragen der Krankenhausträgerschaft. Einst führte die Kampagne „Gesundheit ist keine Ware“ von attac auch durchaus zu einer Thematisierung der Widersprüche in der Gesundheitsversorgung – und trug zu einem Aufflackern der Formierung lokaler Intellektueller im Krankenhaus bei. Auch wenn Gesundheit selbstverständlich immer mehr zur Ware wird.
Die Gesundheitsfachberufe
Ein Anknüpfen an derartige Kampagnen sowie ein – in der ärztlichen Berufsgruppe schwieriges – Organizing sowie eine Politisierung des Ausbildungswesens erscheint dringlicher und im Sinne der Formierung kritischer Intelligenz vielversprechender in der zahlenmäßig größeren, aber machtpolitisch subordinierten Gruppe der Gesundheitsfachberufe. In diesen arbeiten neben und realiter unter den Ärzten neunzig Prozent der Beschäftigten: Über 800.000 Krankenpflegekräfte, etwa 400.000 Altenpflegekräfte sowie 21.000 Hebammen (vgl. Übersicht). In diesen Gesundheitsfachberufen sind bisher ungefähr gerade mal drei Prozent akademisch ausgebildet worden – europaweit sind es bereits 15 Prozent der Workforce im Gesundheitswesen neben der Ärzteschaft.
Diese Arbeit in den Gesundheitsfachberufen ist massiver noch als im ärztlichen Bereich von nachholender Modernisierung, Arbeitsteilung und betriebswirtschaftlich gelenkter Prozesssteuerung geprägt. Unter dem Diktat der Kostendämpfung und im Zuge ökonomischer Konkurrenz und des Profitstrebens der Leistungsanbieter können im Bereich der Pflegeberufe die schärfsten Formen von Rationalisierung und Steigerung der Arbeitsintensität nachgewiesen werden. Diese werden von den hier Beschäftigten auch so empfunden – ebenso wie die für die Ärzte beschriebene Problematik, nur fragmentarisch bis als unzureichend empfunden an der Gesundheit des einzelnen Patienten arbeiten zu können.
Hinzu kommen – anders als im ärztlichen Bereich – die beschämend mangelnde materielle Kompensation zunehmender Arbeitsbelastung und die niedrige Anerkennung der gesellschaftlich unverzichtbaren individuellen Arbeit in diesem Bereich. Die Pflege ist zudem derzeit diejenige Berufsgruppe mit den höchsten Raten bei psychischen Erkrankungen.
Anders als die akademisch geprägte Intelligenz der Ärzteschaft mitsamt ihrer machtvollen Korporationen und Organisationen verfügt diese Berufsgruppe nicht über eigene, machtvolle Organisationen, geschweige denn Korporationen oder Lobbys. Auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei ver.di ist ausgesprochen niedrig – mit einigen lokalen und regionalen Ausnahmen. Ist doch die Pflege noch immer stark geprägt von einer historisch-konfessionellen Kultur der individuellen Aufopferung.
Allerdings gewinnt die Pflege an Bedeutung: Zum einen produziert die nachholende Modernisierung im Gesundheitswesen gerade in der Arbeit der Pflege eine arbeitsteilige Ausdifferenzierung der Pflegeberufe. Fachkräfte, insbesondere akademisierte Fachkräfte, sind bereits jetzt begehrt. Der Bedarf an studierten Leitungen der Arbeit in der Pflege steigt. Ebenso stark im Anstieg begriffen ist der Bedarf an Pflegehilfskräften, welche nur über eine verkürzte Ausbildung verfügen und – wie in der Altenpflege, aber auch zunehmend im Krankenhaus üblich – Arbeitsverhältnisse im prekariatsnahen Niedriglohnsektor innehaben.
Sehen wir auf die immens steigenden Bedarfe in den Gesundheitsberufen, welche allein die demographische Entwicklung der kommenden Jahrzehnte sowie die qualitativ größeren Möglichkeiten der Medizin und der Pflege mit sich bringen, ergeben sich hier für die Pflege zwei mögliche Konsequenzen: Die Akademisierung eines Teils der Pflege wird fortschreiten und quantitativ zunehmen. Dies ermöglicht die Herausbildung einer eigenen, auch einer eigenen kritischen Intelligenz der Pflege. Die andere, größere Gruppe der Pflege im Niedriglohnbereich wird von der akademisierten „Pflege-Elite“ angeleitet. Hier ergeben sich neue Organisations- und Politisierungsherausforderungen für die eigene kritische Intelligenz der Berufsgruppe sowie insbesondere für die Gewerkschaften.
Auf andere Weise haben diesen kommenden Bedeutungszuwachs der Pflege und der Gesundheitsberufe die Anlage- und Unternehmensberatungen bereits verstanden: Der Gesundheitsmarkt – insbesondere die Altenpflege und die Krankenhäuser – werden in entsprechenden Studien als Zukunftsmarkt ausgemacht, in welchem unter den Bedingungen der Privatisierung und Liberalisierung des Gesundheits- und Pflegewesens hohe Renditen zu erzielen wären. Dass diese Bedingungen „von oben“ – also in der politischen Arena der Sozial-, Wirtschafts- und Gesundheitspolitik – nicht hergestellt werden können, dass sie auch „von unten“, also in der Sphäre der gesundheitsbezogenen Arbeit nicht einfach hergestellt werden können, dazu bedarf es einer Politisierung der Intelligenz im Gesundheitswesen, dazu bedarf es der Organisationen – womöglich neuer wie der Pflegekammern – und vor allem der Förderung der Herausbildung einer eigenen kritischen Intelligenz in den Gesundheitsberufen. In den letzten Jahren formierte sich hier lokal und regional durch Initiativen, Arbeitskreise, kleinere Protestbewegungen z.B. gegen Krankenhausprivatisierungen wie auch punktuelle Streiks ein kritisches Potential. Damit es gegenhegemonial politisch wirksamer wird, sind berufsgruppenübergreifende Initiativen dringlich vonnöten.